Tagebuch: "Erlebnisland Mathematik" in Dresden
Auf den ersten Blick glaubt man in einen Klon von Albrecht Beutelspachers Gießener Mathematikmuseum geraten zu sein. Die kindertypisch hohen Frequenzen dominieren die Akustik, es lärmt und wuselt, alles darf man anfassen, überall steckt Mathematik dahinter, auch wenn sie nirgends erklärt wird.
Einige Exponate sind in der Tat Kopien aus Gießen. Wer auch immer seinen Kopf in das fünfeckige Loch steckt (Bild 1), findet sich vielfach reproduziert. Dass die Spiegel in den Symmetrieebenen eines Dodekaeders stehen und damit aus dem hohlen Fünfeck in der Mitte den platonischen Körper aus zwölf Fünfecken zu machen scheinen, muss dem Besucher nicht auffallen.
Die am großen Ring aus der Lauge gezogene Seifenhaut strebt danach, eine Gestalt minimaler Oberfläche einzunehmen (Bild 2). Das ist das so genannte Katenoid, eine Minimalfläche mit ausgeprägter Taille, die man in der Natur auch als Kraftwerkskühlturm vorfindet. In deren Innerem finden auch schlanke Besucher kaum Platz. Mehr Spaß macht es, eben nicht abzuwarten, bis die mathematische Idealform sich einstellt, sondern rasch und trotzdem kontrolliert eine annähernd zylindrische, kurzlebige Seifenwand hochzureißen (Bild 3).
Aber wer genauer hinschaut, entdeckt, dass das "Erlebnisland Mathematik" in Dresden allerlei Neues vorzuweisen hat. In dem Turm aus Oktaedern (Bild 4) entspricht jede Ecke einem Ton der chromatischen Tonleiter – der ertönt, wenn man die Ecke anfasst – und jedes Dreieck einem Dur- oder Moll-Dreiklang.
Mathematisch in einem subtilen Sinn
Auf einer kreisförmigen Bahn, die eine gepolsterte Kinderspielecke umschließt, laufen Billardkugeln bergab und zählen dabei binär von 0 bis 7 (Bild 5): Jede der drei Klappen im Vordergrund hat zwei mögliche Stellungen, die als die Binärziffern 0 und 1 interpretierbar sind. Jede anrollende Kugel verändert die Stellung der ersten Klappe und setzt dabei möglicherweise ihre Vorgängerkugeln in Richtung der nächsten Klappen in Bewegung, was dem Übertrag entspricht.
Und die Aufgabe, drei Ohren an drei Hasen zu verteilen (Bild 6), ist mathematisch in einem subtilen Sinn: Es geht nicht darum, irgendetwas auszurechnen, sondern die Aufgabenstellung so umzuinterpretieren, dass es eben doch geht (Bild 7).
Die Mischung aus Alt und Neu ist Folge einer ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte. Am Anfang dieses mathematischen Mitmachmuseums stand nicht eine Idee, sondern die Gelegenheit. Erstens suchte ein schönes altes, inzwischen etwas heruntergekommenes Gebäude nach einer neuen Verwendung. Heinrich Ernemann (1850-1928), Pionier der Fototechnik, hatte das mehrstöckige Fertigungsgebäude für seine Kameras und Filmprojektoren vor dem Ersten Weltkrieg begonnen, aber erst Anfang der 1920er Jahre fertigstellen können. Sein Unternehmen ging in der Firma Zeiss-Ikon auf, die in der DDR VEB Pentacon hieß und nach der Wende liquidiert wurde. Die Stadt Dresden erwarb den Bau und stellt dort (Technische Sammlungen Dresden) nicht nur einige Glanzstücke aus der Produktion des Hauses aus, sondern auch eine beeindruckende Sammlung von Schreibmaschinen und DDR-Computern – womit das Haus noch nicht gefüllt war.
Der Besucherandrang lässt nichts zu wünschen übrig
Zweitens gab es öffentliche Fördergelder für den Aufbau eines Mathematikmuseums – mit der Auflage, es noch im Jahr der Mathematik 2008 für das Publikum zu eröffnen. Da griffen die Dresdener Professoren Bernhard Ganter und Volker Nollau zu; und da die Entwicklung guter Exponate mehr Zeit braucht, als zur Verfügung stand, kauften sie den Grundstock bei Beutelspacher. Inzwischen ist das "Erlebnisland Mathematik" bei ungefähr 50 Prozent Eigenentwicklungen angelangt, und die Kalkulation ist aufgegangen: Der Besucherandrang lässt nichts zu wünschen übrig.
Manche selbstgemachten Exponate müssen noch ein bisschen nachreifen. So fällt es Besuchern mit weniger als drei Händen schwer, an dem Oktaederturm die drei Töne eines Dreiklangs zugleich erklingen zu lassen. Und die Mechanik der binär zählenden Kugelbahn kommt mit der lebhaften und nicht ganz sachgerechten Bedienung durch die kleinen Besucher noch nicht zurecht.
Ein neues platonisches Fraktal
Am 5. September nun feierte das "Erlebnisland Mathematik" seinen ersten Geburtstag, mit Geschenken, Ansprachen, einer Zauberschau und einer großen geometrischen Bastelaktion, die zu gestalten ich die Ehre hatte. Unter tatkräftiger Beteiligung der Besucher hat an diesem Samstag ein räumliches Fraktal das Licht der Welt erblickt, das es so – soweit ich weiß – noch nicht gegeben hat: ein Sierpinski-Tetraeder aus Rhombendodekaedern.
Was ist das? Man nehme ein reguläres Tetraeder, also den platonischen Körper, der aus vier gleichseitigen Dreiecken zusammengesetzt ist. Diesen Urkörper ersetze man durch vier auf die halbe Kantenlänge verkleinerte Kopien seiner selbst, die man von innen in die Ecken des Urkörpers setzt. Jedes der vier kleinen Tetraeder berührt die drei anderen in jeweils genau einem Punkt. Diese Vorschrift wende man nun auf jedes der kleinen Tetraeder wieder an. Aus den vier kleinen entstehen dadurch 16 ganz kleine Tetraeder, aus diesen im nächsten Schritt 64 ganz ganz kleine, und so weiter bis ins Unendliche. Das ist das Sierpinski-Tetraeder.
Freunden der fraktalen Geometrie ist dessen zweidimensionaler kleiner Bruder geläufig, das Sierpinski-Dreieck. Auf ähnlichem Weg kann man auch aus den anderen platonischen Körpern recht ansehnliche räumliche Fraktale erzeugen (siehe "Neue Fraktale aus platonischen Körpern" in SdW 11/2000 und "Fraktal zum Anfassen" in SdW 3/2001).
Natürlich nicht die unendlichen Gebilde. Wer mit realen Materialien, zum Beispiel Papier, arbeitet, muss sich mit Näherungen an unendlich begnügen, zum Beispiel 3 oder 4. Aus mathematischer Sicht ist das Wesentliche nicht der Urkörper, in unserem Fall das Tetraeder, sondern die Iterationsvorschrift, also "erzeuge vier auf die Hälfte verkleinerte Kopien und verschiebe sie ein gewisses Stück in Richtung der Ecken eines Tetraeders". Im Grenzwert kommt stets dasselbe heraus, einerlei was der Urkörper ist.
Für den Bastler ist das Tetraeder selbst als Urkörper nicht unproblematisch, denn Tetraeder, die einander nur in einzelnen Punkten berühren, halten von alleine nicht zusammen. Ein sehr interessanter Urkörper, wenn auch nicht für den Bastler, ist die Kugel, denn vier Kugeln, dicht an dicht gelegt, nehmen von selbst die richtige Tetraederposition an. Es stellt sich heraus, dass die Kugeln, die zu einem Sierpinski-Tetraeder – genauer: der endlichen Näherung eines solchen – gehören, eine Teilmenge der keplerschen dichtesten Kugelpackung bilden (siehe "Der Beweis der Keplerschen Vermutung", SdW 4/1999).
Kein Platz für herrenloses Gelände
Fügt man nun jeder Kugel ihren "Vorgarten" hinzu, das ist die Menge aller Punkte, die der Kugel näher liegen als jeder anderen Kugel der Packung, so erhält man das Rhombendodekaeder, einen Körper aus zwölf Rauten, den man sich relativ einfach aus dem Würfel entstanden denken kann. Rhombendodekaeder füllen lückenlos den Raum – die Vorgärten der Kugeln aus der Kepler-Packung lassen keinen Platz für herrenloses Gelände –, und vor allem: Sie berühren einander mit ganzen Seitenflächen! Vier Rhombendodekaeder in Tetraederanordnung klumpen so dicht zusammen, dass ihre Kontaktflächen völlig im Unsichtbaren verschwinden. Das ist gut zu basteln.
64 Rhombendodekaeder haben wir an jenem Nachmittag zu Stande gebracht und zu einer Näherung an ein Sierpinski-Tetraeder zusammengefügt (Bilder 8 bis 10). Schon in dieser Näherung sieht man, dass die Grenzfigur, also das unendliche Gebilde, die Konturen eines Tetraeders hat.
Schaut man aus einer speziellen Richtung auf den Körper, nämlich entlang der Geraden, welche die Mittelpunkte zweier gegenüberliegender Kanten verbindet, so wird er blickdicht (Bild 11). Das gilt übrigens auch für die Grenzfigur, die aus jedem anderen Blickwinkel fast unsichtbar ist.
4 ist eine bessere Näherung an unendlich als 3; deswegen soll das Gemeinschaftswerk von 43=64 auf 44=256 Einzelteile anwachsen und in diesem Ausbauzustand im Erlebnisland zur Schau gestellt werden. Wer mitbasteln will, ist herzlich eingeladen; nähere Auskünfte gibt es bei Frau Gabriel vom Museum (silke.gabriel@museen-dresden.de, 0351-488-7255).
Technische Sammlungen Dresden, Junghansstr. 1–3, 01277 Dresden, Tel 0351-488-7201, Straßenbahn 4 oder 10 oder Bus 61 bis Pohlandplatz; geöffnet Dienstag bis Freitag 9–17 Uhr, Samstag, Sonn- und Feiertage 10–18 Uhr, Eintritt 4 Euro, ermäßigt 3 Euro
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