Tagebuch: Freie Fahrt für Stoiker
Die wichtigste Erfindung des Menschen ist nicht das Rad, sondern die Straße. Allein in Deutschland ziehen sich insgesamt 12 000 Kilometer Autobahn durch die Landschaft – was in etwa dem Erddurchmesser entspricht. Für unsere Ansprüche als Autofahrer-Nation ist aber selbst das noch nicht genug: Immer wieder sind viele Fernstraßen dicht.
Im Gegensatz zu mir steht Michael Schreckenberg gern im Stau – von Berufs wegen. An der Universität Duisburg-Essen erforscht Deutschlands einziger Professor für Physik von Transport und Verkehr, wie sich die kilometerlangen Autoschlangen auf Deutschlands Straßen bilden und wieder auflösen.
In meiner Heimat, dem Ruhrgebiet, ist die Entstehung der unliebsamen Blechkolonnen geradezu vorprogrammiert, vor allem während des Berufsverkehrs. Weil auch auf die Verkehrshinweise kein Verlass ist, lande ich immer wieder im Stau. Dabei hätte ich es durchaus besser wissen können. Statt meine Zeit irgendwo zwischen Bochum-Wattenscheid und Duisburg-Stahlhausen auf der Autobahn zu vergeuden, hätte mir ein schneller Blick ins Internet kurz vor Fahrtantritt wahrscheinlich genügt. Denn dort erstellt Schreckenberg mit Hilfe komplexer Situationen eine Prognose für die Verkehrsentwicklung in NRW – und das bis zu eine Woche im Voraus!
Unser Leben im Stau
Kein Wunder, dass der Wissenschaftler auch über die Grenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus ein gefragter Mann ist. Auf dem Physikalischen Kolloquium der Universität Heidelberg referierte er jüngst über „Unser Leben im Stau“. Spielend gelang es ihm dabei, allen Anwesenden auf unterhaltsame Weise den Spiegel vorzuhalten. „Wer in ein Fahrzeug steigt, wird ein anderer Mensch“, sagte Schreckenberg gleich zu Beginn mit einem Augenzwinkern. Dies gelte in allen Situationen – vor allem jedoch im Stau.
Schreckenberg unterscheidet dabei verschiedene Verhaltensmuster. Da sind zunächst die aggressiven Fahrer: Unzufrieden mit ihrer augenblicklichen Situation bedienen sie sich eines rustikalen Fahrstils. Glauben sie etwa durch einen Spurwechsel einige Meter gewinnen und damit ein wenig Zeit schinden zu können, nutzen sie die erstbeste Gelegenheit. Anderen Fahrern ist dagegen rasch unwohl in ihrem Fahrersitz – sie fühlen sich in den Blechkolonnen mitten auf der Autobahn gefangen.
Der Stau aus dem Nichts
Wer solche Charakterisierungen als Kleinkram abtut, übersieht den großen Einfluss jedes Autofahrers auf die Verkehrssituation. Nichts verdeutlicht dies besser als die Entstehung eines Staus. Die Ursache ist mitunter banal: Etwa ein riskanter Spurwechsel, welcher den Hintermann zu einem abrupten Bremsmanöver zwingt. Die hinter ihm fahrenden Personen müssten dann ebenfalls abbremsen – bei einer hinreichenden Verkehrsdichte setzt so eine Kettenreaktion ein, die schlimmstenfalls in einer kilometerlangen Schlange endet – der berühmte Stau aus dem Nichts.
„Solche Staus ließen sich vermeiden, wenn alle harmonisch fahren würden“, sagt Schreckenberg. „Das fällt uns aber grundsätzlich schwer, weil wir uns zum Beispiel manchmal auch für die Landschaft interessieren oder mit den Gedanken ganz woanders sind.“
Ansonsten lohnt vor Fahrtantritt ein Blick auf den Online-Verkehrsdienst „autobahn.nrw.de“, den der Duisburger Physiker gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Verkehrsministerium entwickelt hat. Dazu rissen seine Mitarbeiter die Autobahnen in NRW wieder auf, um 2500 Induktionsschleifen in den Asphalt einzulassen. Sie messen die Geschwindigkeit der passierenden Fahrzeuge und unterscheiden dabei sogar zwischen Pkws und Lkws. Diese Daten werden jede Minute an einen Rechner in der Duisburger Zentrale weitergeleitet und dort in den aktuellen Prognosen berücksichtigt. Sie basieren auf einem Modell, das Schreckenberg zusammen mit dem Physiker Kai Nagel entwickelt hat.
Zuverlässige Prognosen
Auf „autobahn.nrw.de“ erhalten Nutzer aber nicht nur einen Überblick über die aktuelle Verkehrslage, sondern zugleich Prognosen dazu, wo in den nächsten Stunden ein Stau entsteht – und das mit einer Trefferquote von über 90 Prozent! Ebenfalls angezeigt werden dichter und zähfließender Verkehr. Sogar die Reisezeiten lassen sich auf Grundlage dieses eindrucksvollen Systems berechnen.
Doch was für uns Autofahrer im Ruhrgebiet ein Segen ist, macht Schreckenberg das Leben schwer. Denn wenn die Autofahrer wissen, dass ihnen ein Stau den Weg versperrt, ändern einige ihre Fahrtroute und der Stau bleibt womöglich aus – ein typisches Beispiel einer sich selbst zerstörenden Statistik. Schreckenbergs Fernziel: möglichst präzise Prognosen, die solche Verhaltensänderungen mit berücksichtigten.
Stoiker sind am schnellsten
Tatsächlich konnte der Verkehrsforscher vier verschiedene Handlungsmuster der Autofahrer ausmachen. 44 Prozent der Verkehrsteilnehmer reagieren auf eine Verschlechterung ihrer Verkehrslage sehr sensibel: Wenn sie von einem Stau hören, wechseln sie sofort die Strecke. Etwa 14 Prozent der Verkehrsteilnehmer zählt er dagegen zu den Taktierern. Sie wählen ganz bewusst solche Routen, für die Staus gemeldet sind, und hoffen, dass alle anderen den Ausweichempfehlungen – etwa ihrer Navigationsgeräte – folgen. Hinzu kommen die konservativen Autofahrer (40,5 Prozent), die Verkehrsmeldungen ignorieren. Eine kleine Untergruppe, die Stoisch-Konservativen (1,5 Prozent), wählt sogar ausschließlich stets die gleiche Route – und fährt damit wohl am besten, wie Schreckenberg und seine Mitarbeiter in Versuchen herausgefunden haben. Darin haben die Stoiker im Mittel am schnellsten ihr Ziel erreicht.
Nach diesen Ergebnissen habe auch ich mir mehr stoische Gelassenheit im Straßenverkehr verordnet. Und sollte ich eines Tages trotzdem wieder im Ruhgebiet in einen Stau geraten, dann doch wenigstens mit der Gewissheit, meine Zeit nicht sinnlos zu vergeuden, sondern als erfasster Autofahrer in Schreckenbergs Simulationen der Wissenschaft zu dienen.
Christoph Marty
Im Gegensatz zu mir steht Michael Schreckenberg gern im Stau – von Berufs wegen. An der Universität Duisburg-Essen erforscht Deutschlands einziger Professor für Physik von Transport und Verkehr, wie sich die kilometerlangen Autoschlangen auf Deutschlands Straßen bilden und wieder auflösen.
In meiner Heimat, dem Ruhrgebiet, ist die Entstehung der unliebsamen Blechkolonnen geradezu vorprogrammiert, vor allem während des Berufsverkehrs. Weil auch auf die Verkehrshinweise kein Verlass ist, lande ich immer wieder im Stau. Dabei hätte ich es durchaus besser wissen können. Statt meine Zeit irgendwo zwischen Bochum-Wattenscheid und Duisburg-Stahlhausen auf der Autobahn zu vergeuden, hätte mir ein schneller Blick ins Internet kurz vor Fahrtantritt wahrscheinlich genügt. Denn dort erstellt Schreckenberg mit Hilfe komplexer Situationen eine Prognose für die Verkehrsentwicklung in NRW – und das bis zu eine Woche im Voraus!
Unser Leben im Stau
Kein Wunder, dass der Wissenschaftler auch über die Grenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus ein gefragter Mann ist. Auf dem Physikalischen Kolloquium der Universität Heidelberg referierte er jüngst über „Unser Leben im Stau“. Spielend gelang es ihm dabei, allen Anwesenden auf unterhaltsame Weise den Spiegel vorzuhalten. „Wer in ein Fahrzeug steigt, wird ein anderer Mensch“, sagte Schreckenberg gleich zu Beginn mit einem Augenzwinkern. Dies gelte in allen Situationen – vor allem jedoch im Stau.
Schreckenberg unterscheidet dabei verschiedene Verhaltensmuster. Da sind zunächst die aggressiven Fahrer: Unzufrieden mit ihrer augenblicklichen Situation bedienen sie sich eines rustikalen Fahrstils. Glauben sie etwa durch einen Spurwechsel einige Meter gewinnen und damit ein wenig Zeit schinden zu können, nutzen sie die erstbeste Gelegenheit. Anderen Fahrern ist dagegen rasch unwohl in ihrem Fahrersitz – sie fühlen sich in den Blechkolonnen mitten auf der Autobahn gefangen.
Der Stau aus dem Nichts
Wer solche Charakterisierungen als Kleinkram abtut, übersieht den großen Einfluss jedes Autofahrers auf die Verkehrssituation. Nichts verdeutlicht dies besser als die Entstehung eines Staus. Die Ursache ist mitunter banal: Etwa ein riskanter Spurwechsel, welcher den Hintermann zu einem abrupten Bremsmanöver zwingt. Die hinter ihm fahrenden Personen müssten dann ebenfalls abbremsen – bei einer hinreichenden Verkehrsdichte setzt so eine Kettenreaktion ein, die schlimmstenfalls in einer kilometerlangen Schlange endet – der berühmte Stau aus dem Nichts.
„Solche Staus ließen sich vermeiden, wenn alle harmonisch fahren würden“, sagt Schreckenberg. „Das fällt uns aber grundsätzlich schwer, weil wir uns zum Beispiel manchmal auch für die Landschaft interessieren oder mit den Gedanken ganz woanders sind.“
Ansonsten lohnt vor Fahrtantritt ein Blick auf den Online-Verkehrsdienst „autobahn.nrw.de“, den der Duisburger Physiker gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Verkehrsministerium entwickelt hat. Dazu rissen seine Mitarbeiter die Autobahnen in NRW wieder auf, um 2500 Induktionsschleifen in den Asphalt einzulassen. Sie messen die Geschwindigkeit der passierenden Fahrzeuge und unterscheiden dabei sogar zwischen Pkws und Lkws. Diese Daten werden jede Minute an einen Rechner in der Duisburger Zentrale weitergeleitet und dort in den aktuellen Prognosen berücksichtigt. Sie basieren auf einem Modell, das Schreckenberg zusammen mit dem Physiker Kai Nagel entwickelt hat.
Zuverlässige Prognosen
Auf „autobahn.nrw.de“ erhalten Nutzer aber nicht nur einen Überblick über die aktuelle Verkehrslage, sondern zugleich Prognosen dazu, wo in den nächsten Stunden ein Stau entsteht – und das mit einer Trefferquote von über 90 Prozent! Ebenfalls angezeigt werden dichter und zähfließender Verkehr. Sogar die Reisezeiten lassen sich auf Grundlage dieses eindrucksvollen Systems berechnen.
Doch was für uns Autofahrer im Ruhrgebiet ein Segen ist, macht Schreckenberg das Leben schwer. Denn wenn die Autofahrer wissen, dass ihnen ein Stau den Weg versperrt, ändern einige ihre Fahrtroute und der Stau bleibt womöglich aus – ein typisches Beispiel einer sich selbst zerstörenden Statistik. Schreckenbergs Fernziel: möglichst präzise Prognosen, die solche Verhaltensänderungen mit berücksichtigten.
Stoiker sind am schnellsten
Tatsächlich konnte der Verkehrsforscher vier verschiedene Handlungsmuster der Autofahrer ausmachen. 44 Prozent der Verkehrsteilnehmer reagieren auf eine Verschlechterung ihrer Verkehrslage sehr sensibel: Wenn sie von einem Stau hören, wechseln sie sofort die Strecke. Etwa 14 Prozent der Verkehrsteilnehmer zählt er dagegen zu den Taktierern. Sie wählen ganz bewusst solche Routen, für die Staus gemeldet sind, und hoffen, dass alle anderen den Ausweichempfehlungen – etwa ihrer Navigationsgeräte – folgen. Hinzu kommen die konservativen Autofahrer (40,5 Prozent), die Verkehrsmeldungen ignorieren. Eine kleine Untergruppe, die Stoisch-Konservativen (1,5 Prozent), wählt sogar ausschließlich stets die gleiche Route – und fährt damit wohl am besten, wie Schreckenberg und seine Mitarbeiter in Versuchen herausgefunden haben. Darin haben die Stoiker im Mittel am schnellsten ihr Ziel erreicht.
Nach diesen Ergebnissen habe auch ich mir mehr stoische Gelassenheit im Straßenverkehr verordnet. Und sollte ich eines Tages trotzdem wieder im Ruhgebiet in einen Stau geraten, dann doch wenigstens mit der Gewissheit, meine Zeit nicht sinnlos zu vergeuden, sondern als erfasster Autofahrer in Schreckenbergs Simulationen der Wissenschaft zu dienen.
Christoph Marty
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