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Tagebuch: Leben im Steinzeit-Container

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Eine ARD-Reihe versucht, den Alltag vor 5000 Jahren in Szene zu setzen

Versuch macht kluch, wie der Volksmund sagt. Wir würden wohl nie wissen, wie der Mensch aus Feuerstein diverse Werkzeuge gewann, hätten es Archäologen nicht selbst probiert. Aber eben nicht mal eben so, sondern im systematischen Vergleich jahrtausendealter Artefakte mit den Ergebnissen ihrer Steinbearbeitung. Heute gehören blutige Finger beim Abschlag einer Flintklinge zur Grundausbildung im Fach Ur- und Frühgeschichte. Das lehrt Respekt vor den Leistungen unserer Vorväter und prägt sich tiefer ein als jedes Bücherstudium.

Schmal ist der Grat zwischen der experimentellen Archäologie, die nachbaut, um wissenschaftliche Erkenntnis zu gewinnen, und dem Reenactment, das nachstellt, um eine Ahnung von Geschichte zu vermitteln – und die Event-Teilnehmer zu unterhalten. Am vergangenen Wochenende durften Fernsehzuschauer eine dritte Variante miterleben. „Steinzeit – das Experiment“ titulierten Südwestrundfunk und Bayerischer Rundfunk ihre Sendung. Sieben Erwachsene und sechs Kinder wurden im Sommer vergangenen Jahres quasi stellvertretend für das Gebühren zahlende Publikum in die Jungsteinzeit versetzt, dank wissenschaftlicher Unterstützung „möglichst realitätsnah“. Bloß – experimentelle Archäologie kam dabei nicht heraus.

Dass an gutes Schuhwerk gewohnte Füße ihre liebe Not haben, wenn sie wochenlang ohne Schutz durch Matsch laufen – wen wundert’s? Ein Dorn im Fuß – autsch, ja, das tut weh. Und wenn in Großaufnahme ein Eitertropfen aus der Wunde gequetscht wird, lässt sich’s gar wohlig gruseln. Man bewundert den Ingo, der sich da so mannhaft schlägt, und kuschelt sich ins warme Sofa. Aber ahnte denn bislang wirklich niemand, dass der Mensch der Vorzeit kräftigere Hornhäute hatte als wir Weicheier von heute?

Wirklich ärgerlich wird es, wenn die Kamera Kommentare der neuzeitlichen Steinzeitler präsentiert wie wissenschaftliche Erkenntnisse. Manch ein Zuschauer dürfte nun felsenfest davon überzeugt sein, jene ersten Bauern hätten zwar schon einfache Lederschuhe gekannt, sie aber nur bei schönem Wetter getragen. Denn im regennassen Sommer 2006 machten die selbst genähten Exemplare bald die Grätsche. Kein Wort aber darüber, ob man sie zum Zweck der Abdichtung mit Fett oder Wachs behandelt hatte. Sollten unsere Vorfahren solche Techniken nicht gekannt haben?

Dass der Bodensee nur bei spiegelglatter Oberfläche mit einem Einbaum zu queren sei, ist eine weitere Einsicht. Bloß: Vermittelt ein Crashkurs jene Fertigkeiten, die ein Jugendlicher in der Sippe von Älteren und im Spiel erwarb?

„Steinzeit – das Experiment“ verkauft telegenes Reenactment als Wissenschaft und erklärt eine Variante von „Big Brother“ zum sozialen Experiment. Doch vielleicht zählt am Ende ja die gute Absicht: Archäologie hautnah zu vermitteln. Wenn die Kinder unserer Spaßgesellschaft die Schwerarbeit auf dem Getreidefeld verweigern, Sippe hin, Sippe her, und statt Pizza ein grober Getreidefladen auf den Holztisch kommt, reift beim Zuschauer die Erkenntnis: Das war ja ganz schön hart damals!

Klaus-Dieter Linsmeier

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