Tagebuch: Mathematik in Stahl
Geometrie ist auch in unvollkommener Realisierung ganz nett. Schulkindern (und ihren Lehrern) bleibt nicht viel anderes übrig, als sich mit ziemlich ungenauen Zirkel-und-Lineal-Konstruktionen zufrieden zu geben; das Papiermodell des geometrischen Körpers gibt trotz schiefer Klebestellen einen Eindruck von dem "richtigen" Objekt da oben in der platonischen Ideenwelt. Und wo die Natur tatsächlich einmal geometrische Formen zeigt, stimmen die auch meistens nicht so ganz genau. So, nämlich leicht und ohne großen Aufwand zugänglich, kennt und schätzt die Hauptzielgruppe des "mathematischen Mitmachmuseums" Mathematikum in Gießen (erstens Acht- bis Dreizehnjährige, zweitens deren Familien) die Mathematik. In diesem Geiste hat auch der Autor unserer "Physikalischen Unterhaltungen", der Duisburger Physiker Norbert Treitz, vor drei Jahren im Sonderausstellungsraum des Mathematikums seinen "Wundergarten der Polyeder" präsentiert: Mit Strohhalmen, Wurststäbchen und Bindfäden kann man schon interessante Flächen zweiter Ordnung herstellen, schnell und billig. An Exaktheit und Dauerhaftigkeit darf man keine allzu hohen Ansprüche stellen. (Wesentliche Teile des "Wundergartens" finden sich übrigens in Treitzens jüngsten Beiträgen in "Spektrum der Wissenschaft", im März und im Mai 2012.)
Nun bietet das Mathematikum im selben Ausstellungsraum das absolute Kontrastprogramm. Friedhelm Kürpig, emeritierter Professor für darstellende Geometrie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und freischaffender Modellbauer und Architekt, zeigt uns künstlerische Arbeiten, deren kennzeichnendes Merkmal die geometrische Perfektion ist.
Es begann 1981 noch relativ harmlos mit Modellen der regelmäßigsten geometrischen Körper (platonische, archimedische und catalansche Körper), die ihre Verwandtschaft zu den Molekülmodellen aus dem Chemieunterricht nicht verleugnen können (Bild rechts). Aber in den folgenden Jahren wuchsen die Kunstwerke zu gewaltiger Komplexität heran.
Da gibt es Erweiterungen der platonischen Körper Dodekaeder und Ikosaeder um ähnliche, zu ihnen passende Körper. Im Kugel-Stangen-Modell tragen viele Stangen überall dort, wo sie sich treffen, eine Kugel; und das kommt pro Stange ziemlich häufig vor.
Eine spezielle krumme Fläche im Raum ist berühmt dafür, dass auf ihr, so krumm sie ist, 27 Geraden liegen. Sie schneiden sich in vielen Punkten. Das hat Kürpig sowohl mit Kugeln und Stangen als auch im Kunststoffmodell (noch vor der Zeit des Rapid Prototyping!) nachgebaut. Die Stangen sind verchromt und glänzen entsprechend; aber von dieser irdischen Pracht ist Kürpig abgekommen.
Kleine Anekdote am Rande: Die Kugeln, aus denen ich – mit Unterstützung einer ganzen Gruppe – ein Sierpinski-Tetraeder gebaut habe, sind aus verchromtem Stahl und glänzen entsprechend – wie Weihnachtsbaumkugeln. Als ich vor zwei Jahren in Aachen die Ehre hatte, das Werk in einer Ausstellung zu präsentieren, fand der Veranstalter es ja ganz nett; aber ob die Kugeln denn unbedingt so glänzend sein müssten? Es war Friedhelm Kürpig; und für ihn kommt matt gebürsteter Stahl dem Ideal der reinen geometrischen Form deutlich näher.
Diese künstlerische Vorstellung hat Kürpig in seinem Polyederbaukasten (1991 bis 2003) höchst konsequent verwirklicht. Die archimedischen Körper aus der Familie des Würfels haben die interessante Eigenschaft, in verschiedenen Kombinationen den Raum lückenlos zu füllen. Man setze zum Beispiel in die acht abgeschnittenen Ecken eines Würfelstumpfs je ein Oktaeder und baue in der offensichtlichen Weise immer mehr Würfelstümpfe und Oktaeder an. Oder man nehme Tetraederstümpfe gemischt mit Tetraedern. Das ist eine große Herausforderung für das räumliche Vorstellungsvermögen. Da können die Stahlmodelle aus Kürpigs Baukasten (Bild links) hilfreich sein, vor allem weil sie dank starker Magnete in den Mittelpunkten der Flächen automatisch in der richtigen Position aneinanderklacken (siehe auch die zugehörige Bildergalerie auf der Website des Künstlers). Zu den richtigen archimedischen Körpern gehört noch ein Exot, nämlich der Würfel, der so schräg halbiert ist wie überhaupt möglich. Man stelle einen Würfel in Gedanken auf eine Ecke, so dass die gegenüberliegende Ecke zuoberst ist, und schneide ihn dann horizontal genau in der Mitte durch. Die Schnittfläche ist ein regelmäßiges Sechseck, und siehe da: Acht halbe Würfel, anders zusammengeklackt, ergeben einen Oktaederstumpf. Der wiederum füllt in beliebig vielen Exemplaren ganz allein den Raum.
Für die Objekte aus Kürpigs jüngster Schaffensperiode gibt es eine Assoziation, die dem Verständnis aufhilft, auch wenn sie die Exaktheit seiner Werke sträflich missachtet: die Wurstschneidemaschine beim Metzger. Das ursprüngliche mathematische Objekt, sagen wir ein Körper oder der von einer krummen Fläche umschlossene Raum, ist die Wurst. Die schneiden wir mit unserer Maschine in lauter sehr dünne Scheiben. Dann setzen wir jede zehnte Scheibe an die Stelle, an der sie in der Wurst gesessen hat, womit sich beim Betrachter zumindest ein gewisser Eindruck von der Wurst einstellt. Jedenfalls, wenn die Scheiben nicht so labbrig sind wie bei einer echten Wurst, sondern aus Stahlblech bestehen. Natürlich kommt es dabei entscheidend darauf an, mit welchem Ende voraus man die Wurst in die Maschine schiebt. Da bietet ein und derselbe platonische Körper auf einmal viele verschiedene Anblicke.
Damit das hält, müssen die Scheiben natürlich mit einer möglichst unauffälligen Zentralstange auf Abstand gehalten werden. Solch lästigen Kompromissen geht Kürpig elegant aus dem Weg, indem er zwei Exemplare derselben Wurst einmal längs und einmal quer in Scheiben schneidet und die ausgewählten Längs- und Querscheiben mit geschickt gewählten Schlitzen ineinandersteckt (Eröffnungsbild). Wenn dabei auch noch sinnfällig zum Ausdruck kommt, dass eine krumme Fläche wie das hyperbolische Paraboloid aus zwei sich schneidenden Geradenscharen besteht, ist das natürlich besonders schön.
Die Eröffnung der Ausstellung musste ohne den Künstler stattfinden. Nachdem Friedhelm Kürpig noch am Abend zuvor für die optimale Präsentation seines Lebenswerks selbst Hand angelegt hatte, musste er in der Nacht mit schweren Herzrhythmusstörungen kämpfen. Inzwischen ist er wieder wohlauf. Wir (Bild links) wünschen ihm gute Gesundheit!
Die Ausstellung "Mathematik in Stahl" ist noch bis zum 6. Mai im Mathematikum zu sehen. Führungen am 22. und am 29. April jeweils um 11 Uhr.
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