Tagebuch: Vierdimensionales auf der "Explore Science"
Vor zwei Jahren habe ich die „Explore Science“ schätzen gelernt: die fünftägige Großveranstaltung im Mannheimer Luisenpark, die in spielerischer, unkonventioneller Form Wissen vermittelt und sich seit 2006 als ein Highlight im Veranstaltungskalender etabliert hat. Für dieses Jahr ist nun mein persönliches Lieblingsfach, die Mathematik, als Thema angesagt. Natürlich will ich da mitmachen, und an unkonventionellen Formen fällt mir allerlei ein.
In Vorgesprächen mit der Klaus-Tschira-Stiftung, die das Ganze veranstaltet und vor allem finanziert, schält sich ein Großprojekt als machbar heraus: ein geometrisches Gebilde besonderer Art, ungefähr kugelförmig mit anderthalb Metern Durchmesser, zusammenzustecken aus insgesamt 7200 Einzelteilen des Gemetriebaukastens „Zometool“. Wir haben das schon einmal mit einer Schülergruppe zusammengebaut: auf der „IdeenExpo“ in Hannover im September letzten Jahres. Es war eine ziemlich spektakuläre Aktion. So ungefähr weiß ich also, worauf ich mich einlasse.
Aber dann stellt sich heraus, dass ein Zusammenbau auf offener Bühne wie in Hannover nicht gut ins Veranstaltungsprogramm passt und vor allem dem Wissensvermittlungsanspruch nicht wirklich gerecht wird. Schon richtig: Allein davon, dass man Stäbe in Kugeln steckt, versteht man noch nicht, was das Bauwerk eigentlich darstellen soll. Immerhin handelt es sich um ein Abild eines vierdimensionalen archimedischen Körpers.
Archimedische Körper sind zwar mindestens seit Archimedes bekannt – also schon eine ganze Weile –, aber längst nicht so ins allgemeine Bewusstsein übergegangen wie ihre noch regelmäßigeren Stammväter, die platonischen. Und etwas Vierdimensionales kann sich sowieso niemand vorstellen.
Also tut man sich mit einer Partnerschule der Klaus-Tschira-Stiftung, dem Hölderlin-Gymnasium in Heidelberg, zusammen. Das Projekt lässt sich in dem Orchideenfach NWT („Naturwissenschaft und Technik“) unterbringen, der zuständige Lehrer Claus Frank räumt einige Wochen lang bereitwillig seinen Platz für mich, und auf einmal stehe ich vor einer zehnten Klasse, Auge in Auge mit meiner potenziellen Leserschaft.
Na gut, das Thema gehört ohnehin nicht zum offiziellen Lehrplan, die Standard-Lehrmittel kenne ich sowieso nur aus der Empfängerperspektive (und das ist arg lang her), also komme ich mit unkonventionellen Mitteln an. Die archimedischen Körper sind anfassbare dreidimensionale Gebilde, die kann man aus Karton herstellen. Ich habe einen Satz Bastelbögen entworfen, mit einheitlicher Kantenlänge und sorgfältig gewählten Farben, und wir arbeiten mit Ritzmesser, Schere und Klebstoff. Nach einer Weile kommen immer mehr ansehnliche Objekte zum Vorschein (siehe Bildergalerie unten).
Eine Möglichkeit, archimedische Körper zu definieren, ist durch Entecken und Entkanten. So entsteht aus dem Würfel der Würfelstumpf, indem man dem Würfel jede Ecke mitsamt einem Stück jeder daran hängenden Kante abschneidet. Als Gedankenexperiment findet man es überall in der einschlägigen Literatur; aber in echt? Ich bin innovativ und probiere es mit einem Würfel aus echtem Gouda (siehe Bildergalerie unten). Vorher zuhause üben geht schlecht; es fällt doch eine beträchtliche Menge an Material an, die so schnell gar nicht zu verzehren ist. Also veranstalte ich den Versuch gleich auf offener Bühne.
Das ist alles ganz lustig; aber es stellt sich dabei heraus, dass Gouda nicht ganz das optimale Material ist: zu weich und nachgiebig. Für die nächste Aufführung – wenn sie denn stattfindet – würde ich auf einen schönen würzigen Gruyère zurückgreifen. Allerdings ist der Würfel dann noch kleiner, was die Show für ein Massenpublikum eher ungeeignet erscheinen lässt.
So viel zu den archimedischen Körpern. Aber für die vierte Dimension hilft kein Karton und kein Käse, da muss man über Koordinaten, Geradengleichungen und so etwas reden. Das ist schon viel näher am Schulstoff und will an der Tafel erklärt werden. Und an der Stelle stelle ich mich genau so dämlich an wie die Referendare, die wir als Schüler dafür mit Hohn und Spott bedacht haben: Ich schreibe meine Gleichungen dort an die Tafel, wo der Platz nicht reicht, wechsle mitten in der Darstellung die Bezeichnungen, weil mir jetzt erst einfällt, dass die neue zweckmäßiger ist, die Schüler müssen mir aushelfen, weil ich zusammengehörige Punkte auf der Tafel nicht finde – ich stehe einfach zu dicht davor. Herr Frank greift ein und bremst meinen Formeleifer; dennoch sind die Schüler am Ende dieser Stunde merkwürdig erschöpft.
Das legt sich, als es wieder an die Handarbeit geht. Im Eiltempo werden 75 mehr oder weniger verzerrte Ikosidodekaeder aus Zometool-Teilen zusammengesteckt, und wenig später sind sie alle durch (mehr oder weniger verzerrte) fünfseitige Prismen miteinander verbunden. Man ist im Stande, den Bauplan von Paul Gerard van de Veen sehr frei zu interpretieren und am Ende trotzdem beim richtigen Ergebnis zu landen.
Das Ergebnis ihrer Bemühungen ist vom Mittwoch, 20. Juni, bis Sonntag, 24. Juni, auf der "Explore Science" zu bestaunen. Öffnungszeiten 9–17 Uhr (Mittwoch bis Freitag), 11–18 Uhr (Samstag und Sonntag). Kostenlose Eintrittskarten für den Luisenpark gibt es zum Selbstausdrucken hier.
Und natürlich bringt der Redakteur den wissenschaftlichen Inhalt einer unkonventionellen Aktion in einem ganz konventionellen "Spektrum"-Artikel unter. Es sollen schließlich alle die vierdimensionalen Weisheiten nachvollziehen können. Übrigens wird darin auch erklärt, warum das Prachtstück auf den exotischen Namen "ikosidodekaedrisches Prismatohexakosihekatonikosachoron" hört.
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