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Tagebuch: Vorfreude am LHC

Das CMS-Experiment am CERN
Es ist 10 Uhr an einem ganz normalen Montag im Hauptkontrollraum des Teilchenbeschleunigers LHC (Large Hadron Collider) am CERN. Der Teilchenphysiker Jörg Wenninger macht mich auf einen der riesigen Bildschirme aufmerksam: stable proton beams steht dort über einer Kurve, die die Energie der Protonenstrahlen anzeigt – seit 3 Uhr morgens sausen Protonen durch den 27 Kilometer langen Ringbeschleuniger.

Im Kontrollraum reihen sich Computer, große Monitore und Schaltpulte aneinander. In der Mitte ein großer Konferenztisch, an dem sich im Moment nur ein einzelner Physiker über seinen Laptop beugt. An den Wänden: noch mehr, noch größere Monitore und die ineinander verschlungenen Ringe des CERN-Logos. Die ruhige Arbeitsatmosphäre zeigt, dass nicht nur Jörg Wenninger mit den stable beams zufrieden ist. Einige Wissenschaftler sind in Histogramme auf den Bildschirmen vertieft, und ein kleines Grüppchen diskutiert leise bei der morgendlichen Tasse Kaffee.

Hauptkontrollraum am LHC | Der Teilchenphysiker Jörg Wenninger erläutert im Hauptkontrollraum, welche Nachbesserungen er und seine Kollegen am LHC vornehmen wollen, bevor sie den Beschleuniger auf die volle Energie hochfahren.
Die Energiekurve des Teilchenstrahls ist kontinuierlich abgesunken, seitdem ihn die Physiker nachts in den Ring geschossen haben. "Nach 20 Stunden hat ein Strahl ungefähr die Hälfte seiner ursprünglichen Energie verloren, weil immer mehr Teilchen auf der Strecke verloren gehen, vor allem natürlich bei den Kollisionen in den Detektoren", erklärt Wenninger. "Dann wird er aus dem Beschleuniger herausgenommen und von einer metallenen Zielscheibe geschluckt. Neue Protonen werden erzeugt und in kleineren Ringen vorbeschleunigt, bevor sie den LHC neu füllen."

Elektronik am Ring zu empfindlich

Bis Ende 2012 läuft der Beschleuniger noch auf der Hälfte der Energie, für die er eigentlich gebaut wurde: 3,5 TeV pro Teilchenstrahl. Zwar registrieren die Detektoren die Teilchenkollisionen schon seit Betriebsbeginn im November 2009, aber die Forscher und Techniker nutzen die Zeit auch für Tests und verbessern die hochkomplexen Maschinen.

"Wir merken zum Beispiel gerade, dass die Elektronik am Ring teilweise zu empfindlich ist und von der Strahlung gestört wird, die die Teilchen im Tunnel erzeugen", sagt Wenninger. "Die Geräte befinden sich zwar in einem eigenen Tunnel, der durch Betonwände vom eigentlichen Beschleuniger abgeschirmt ist. Aber dieser Schutz ist wohl noch nicht dick genug..

Wind und ohrenbetäubender Lärm

Selbst bei halber Kraft produziert der LHC jährlich schon 15 Petabyte Daten, eine Zahl mit 15 Nullen. Würde man damit herkömmliche CD-Roms füllen und aufeinander stapeln, ergäbe das einen 20 Kilometer hohen Turm. In den beiden riesigen Serverräumen des Computing Centers schlägt mir Wind und ohrenbetäubender Lärm entgegen: Die Lüftungen laufen auf Hochtouren, um die insgesamt 64 000 Prozessoren zu kühlen, die hier unzählige Regale füllen.

Serverraum am LHC | Insgesamt 64 000 CPUs füllen die Regale in den Serverräumen des LHC.
Am CERN selbst können nur 15 Prozent der Daten analysiert werden, der Rest fließt an elf Rechenzentren, die über die ganze Welt verteilt sind. Hier werden die Daten zunächst gefiltert. Computerprogramme suchen diejenigen Kollisionen heraus, die Hinweise auf neue Erkenntnisse enthalten könnten. Die Auswahl fließt an weitere 200 Institute, die dann mit der detaillierteren Datenanalyse beginnen.

Will einer der fast 20 000 Nutzer von seinem Computer bestimmte LHC-Daten abrufen, kann das bis zu einer Minute dauern, wie Markus Schulz von der IT erklärt. Wenn er der erste ist, der genau diese Daten sehen will, muss hier im Serverraum ein Roboter zwischen den Regalen zur gewünschten Festplatte fahren und sie zu einem Lesegerät transportieren – erst dann sind die Daten wirklich online verfügbar.

Feuerwerk aus der Dose

Dafür, dass diese Ergebnisse auch verwertbar sind, sorgt neben vielen anderen auch Oliver Buchmüller. Er arbeitet im Kontrollraum des CMS-Experiments (Compact Muon Solenoid Experiment), einem der vier Detektoren des LHC. Ursprünglich hatte er Teilchenphysik in Heidelberg studiert – heute pendelt er jede Woche zwischen Genf und London hin und her, da er neben seiner Forschertätigkeit noch einen Lehrauftrag am Imperial College hat.

Er und seine Kollegen kontrollieren die Qualität der von CMS aufgezeichneten Kollisionsdaten. Auf einigen Bildschirmen ist eine kleine Dose zu sehen, die den Detektor symbolisiert. Ein Feuerwerk in ständig wechselnden Farben zeigt die Spuren, die die Teilchenkollisionen in einer gigantischen, realen Dose 10 Kilometer weit vom Kontrollraum entfernt hinterlassen. Die Gruppe von Buchmüller arbeitet im Schichtdienst mit Wissenschaftlern am Teilchenbeschleuniger DESY in Hamburg und einer dritten Gruppe am Fermilab in Chicago, die sich ebenfalls um die Datenqualität kümmern. In den USA herrscht noch Nacht und der Kontrollraum ist verwaist, wie auf dem Monitor der Webcam zu sehen ist.

Weltweites Computernetzwerk | Über 200 Rechnenzentren auf der ganzen Welt verteilt analysieren die Ergebnisse des LHCs. Hier sieht man die Verbindungen, die vom CERN nach Asien führen.
Wie alle Wissenschaftler freut sich Buchmüller auf die nächsten Monate am LHC. Nach den 22 Jahren Planungs- und Bauzeit sind die ersten wichtigen Erkenntnisse in greifbarer Nähe. Vor allem, was das Higgs-Teilchen angeht – das der Theorie zufolge allen Elementarteilchen ihre Masse verleiht – sind die Physiker optimistisch: "In den nächsten Monaten werden wir wissen, ob es das Higgs-Teilchen gibt oder nicht" – davon ist nicht nur Buchmüller überzeugt. "Denn seit dem Zwischenfall kurz nach dem Start lief der LHC viel besser, als es sich alle erhofft hatten."

Der Energiebereich, in dem sich das Higgs befinden muss – sofern es existiert – wird nun schnell immer weiter eingegrenzt. Die Berichte von den Konferenzen der Teilchenphysiker in Grenoble und Mumbai Ende Juli und Mitte August kommentierten manche Medien zwar fast hämisch nach dem Motto: Wo ist denn jetzt das Higgs, wann wird es endlich entdeckt? Ganz anders ist die Stimmung unter den Wissenschaftlern hier vor Ort. Ein paar Monate mehr oder weniger sind für sie nach einer so langen Entwicklungszeit bedeutungslos. Für Grundlagenforschung braucht es vor allem eines: Geduld.

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