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Technikgeschichte: Das isolierte Computer-Genie

Konrad Zuse hätte ein deutscher Bill Gates werden können: Er baute den ersten programmierbaren Computer der Welt und dachte vieles voraus, was heute IT-Alltag ist. Doch er lebte zur falschen Zeit im falschen Land.
Konrad Zuse
Vor nicht einmal einem Menschenalter war Rechnen monotone Fabrikarbeit. In Rechenbüros tippten unqualifizierte Arbeiter Zahlen in Tischrechenmaschinen, addierten oder multiplizierten, ohne mitzudenken. Eintipper arbeiteten Rechenpläne ab, gewissermaßen Programme, die Ingenieure aufgestellt hatten, um etwa die Statik einer Brücke oder eines Flugzeugflügels zu berechnen. Die Ingenieure zerlegten ihre komplizierten Formeln in eine Abfolge von Grundrechenschritten, gleichsam ein Rechenrezept, die sie als Formular zu den Eintippern weitergaben. Diese füllten die Formulare mit Zwischen- und Endergebnissen aus. Der frischgebackene Bauingenieur Konrad Zuse wollte das 1935 ändern.

Er hatte schon die Statikberechnungen an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg gehasst, "mit denen man uns Bauingenieurstudenten quälte", wie er 1970 in seiner Autobiografie schrieb. Seine Idee: Wenn noch die komplizierteste Ingenieursrechnung letztlich nichts anderes ist als eine Aneinanderreihung von Grundrechenschritten, warum dann nicht eine Maschine bauen, die Rechenrezepte, die man ihr per Lochstreifen eingibt, automatisch abarbeitet? Die Idee des programmierbaren Rechners war geboren.

Konrad Zuse | Der Computerpionier vor seinem mechanischen Rechner Z1. Der Bildausschnitt entstammt dem Spektrum-Spezial 3/2007: Ist das Universum ein Computer?

Über den Auftakt zum Konrad-Zuse-Jahr haben wir übrigens bereits vor einigen Tagen berichtet: Hier finden Sie weitere Links sowie den kostenfreien Spektrum-Artikel "Wege und Irrwege des Konrad Zuse" (SdW 1/1997).
Schon als Student hatte der am 22. Juni 1910 geborene Zuse visionäre Automatisierungsideen gehabt, die er teilweise auch verwirklichen konnte. So baute er den Prototyp eines Warenautomaten, der Bestellungen entgegennahm und Wechselgeld zurückgab, ähnlich den heutigen Süßigkeitenautomaten auf fast jedem Bahnsteig. Er kündigte seine gerade erst angetretene Stelle als Statiker bei den Henschel-Flugzeugwerken in Berlin und wurde freischaffender Computererfinder. Seine Werkstatt richtete er in der Berliner Wohnung seiner Eltern ein. Finanziell unterstützten ihn ehemalige Schul- und Studienfreunde, seine Schwester und seine Eltern. Zuse war Autodidakt. Er hatte wenig Ahnung, wie die damaligen Rechenmaschinen funktionierten. Doch das war kein Nachteil: "Er ging unvoreingenommen an die Aufgabe heran", sagt der Informatiker Horst Zuse, Sohn von Konrad Zuse und Professor an der brandenburgischen Fachhochschule Lausitz. Daher sei es ihm leichtgefallen, Konventionen zu missachten.

Weg von 10 – hin zu 1 0

So brach er mit der Darstellung von Zahlen mit zehn Ziffern, dem so genannten Dezimalsystem, das Menschen nutzen und damals auch alle Rechenmaschinen. Seine erste Maschine, später Z1 genannt, rechnete nur mit zwei Ziffern, 0 und 1. Zuse war damit der erste Konstrukteur, der einen vollständig im Binärsystem arbeitenden Computer baute. Für Maschinen ist das Binärsystem ideal. Denn die beiden Ziffern können durch "Schalter aus" und "Schalter an" dargestellt werden, um welche Art von Schalter – Kippschalter, Telefonrelais, Röhre oder Transistor – es sich dabei handelt, ist gleichgültig. Zuse verwendete das Binärsystem aus konstruktionsbedingten Gründen: "Er wollte keine Zahnräder benutzen", sagt Horst Zuse. Die damaligen Rechenmaschinen waren voll von Zahnrädern.

"Er wollte keine Zahnräder benutzen"
(Horst Zuse)
Der Erfinder wählte mit mechanischen Schaltern einfachere Grundbausteine, die seine Freunde in Handarbeit herstellen konnten: Sie bestanden aus geschlitzten Blechstreifen, in deren Schlitzen Stangen hin- und hergeschoben wurden. Aus Tausenden dieser Schaltbleche baute Zuse die Z1 zusammen; 1936 war sie fertig. Schalter schalteten andere Schalter ein und aus, wodurch der Automat rechnete. Das Programm – der "Rechenplan", wie Zuse sagte – wurde per Lochstreifen eingegeben.

Zwar rechnet heute jeder Computer im Binärsystem. Aber auf Zuse lässt sich diese Tatsache nicht zurückführen, auch wenn er der Erste war. Er arbeitete damals isoliert vom Rest der Welt in Deutschland. "Zuse hätte so reich werden können wie Bill Gates", sagt Raúl Rojas, Professor für Künstliche Intelligenz an der Freien Universität Berlin, der sich mit Zuses Erfindungen wissenschaftlich beschäftigt. Dafür hätte er aber in den USA leben müssen, befindet Rojas.

Standortnachteil Deutschland?

Dort und in Großbritannien trieb der Zweite Weltkrieg die Computerentwicklung voran. Unabhängig von Zuse entwickelte das britische Militär den Computer Colossus, der ab 1943 die Geheimkodes der Deutschen knackte. Colossus arbeitete ebenfalls im Binärsystem. Er verwendete aber keine mechanischen Schalter, sondern rund 1800 Röhren und war damit einer der ersten vollelekronischen Rechner der Welt. In den USA, an der University of Pennsylvania, entstand im Regierungsauftrag ein vollelektronischer programmierbarer Rechner, der Electronic Numerical Integrator and Computer (ENIAC), der aus rund 18 000 Röhren bestand. Er berechnete Tabellen, welche die ballistischen Flugbahnen von Artilleriegeschossen angaben; allerdings arbeitete er nicht im Binärsystem.

"Zuse hätte so reich werden können wie Bill Gates"
(Raúl Rojas)
Zuse hatte sich Jahre zuvor auch einen Schritt auf die Elektronik zubewegt. Weil die Z1 nicht wirklich funktionierte – dazu waren die handgefertigten Schalterbleche und Gestänge zu unpräzise –, baute er seine nachfolgenden Maschinen mit elektromechanischen Fernmelderelais, die er vom Altwarenhandel bezog. Auch sein zweiter Computer funktionierte nicht reibungslos, bei einer Demonstration aber immerhin so gut, dass die Versuchsanstalt für Luftfahrt Zuse förderte. Erst das Nachfolgemodell Z3 von 1941 arbeitete einwandfrei. Es gilt heute als der erste programmierbare Computer der Welt.

Horst Zuse vor Vaters erstem Werk | Horst Zuse (links) erläutert Einzelheiten zu dem mechanischen Computer Z1, dessen Nachbau im Vordergrund zu bewundern ist.
Allerdings war die Z3 bei Weitem nicht das, was man heute unter einem Computer versteht. Außer Addieren, Multiplizieren oder Wurzelziehen, also mit Zahlen rechnen, konnte er nichts und ist daher eher mit einem programmierbaren Taschenrechner vergleichbar als mit einem PC. Zuse war indes bewusst, dass Computer einmal deutlich mehr können würden als Zahlenrechnen. Er skizzierte im Geist einen universellen Rechner, der jede Gedankenarbeit, die nach einem Schema verläuft, würde ausführen können, etwa die eines Finanzbeamten. Der Computer würde Informationen kombinieren, etwa den Familienstand und die Kinderzahl eines Angestellten, und daraus Schlüsse ziehen, etwa die Steuerklasse ermitteln. Es sei diese Idee von ihm gewesen, die Journalisten später zum Ausdruck "Elektronengehirn" inspiriert habe, schrieb Zuse in seiner Autobiografie [1].

Elektronenhirn auf den Schultern anderer

Der deutsche Computerpionier hatte die Idee des universellen Rechners um 1938 [2], war also nicht der Erste. Er wusste nichts von dem britischen Mathematiker Alan Turing, später am Colossus-Projekt beteiligt, der 1936 theoretisch beschrieb, über welche Komponenten ein Universal-Computer verfügen muss.

Zuses Maschinen waren nah dran. Laut Horst Zuse fehlten Zuses erstem Computer nur zwei Merkmale eines Universalrechners: erstens die Fähigkeit, bedingte Sprünge auszuführen, die den Programmablauf durch Wenn-dann-Entscheidungen beeinflussen und damit einen freien statt eines starren, vorherbestimmten Programmablaufs ermöglichen, und zweitens die so genannte logische Einheit. Letztere ist ein zentraler Bestandteil der Prozessoren heutiger Rechner, die logische Operationen wie die UND- oder die ODER-Verknüpfung durchführt.

Colossus und ENIAC hingegen konnten bedingte Sprünge ausführen, waren also Zuses Maschinen in dieser Hinsicht voraus. Warum Zuse zunächst keinen bedingten Sprung einbaute, ist unklar. In seiner Autobiografie schrieb er, es sei dafür nur nötig gewesen, einen Draht zu legen. Er habe aber eine gewisse Scheu vor diesem Schritt gehabt. Denn der freie Programmablauf würde Computer in ihren Auswirkungen unbeherrschbar machen. Erst 1949 baute er den bedingten Sprung in die Z4 ein – auf Druck der ETH Zürich, die die Maschine für wissenschaftliche Rechnungen von Zuse kaufte.

Der Plan ist Programm

Dass es tatsächlich Skrupel waren, die Zuse zunächst abhielten, erscheint fragwürdig, wenn man seine Arbeiten nach dem Kriegsende betrachtet. Er war vom Berliner Bombenkrieg ins Allgäu geflohen, wo er mangels materieller Ausstattung nur theoretisch weiterarbeiten konnte. Dabei widmete er sich dem Zwiegespräch zwischen Mensch und Computer. Damit auch Menschen ohne spezielle Computerkenntnisse einen Universalrechner würden programmieren können, entwickelte Zuse 1946 die erste höhere Programmiersprache der Welt. Als solche erlaubte sie, Programme statt in Form eines Zahlensalats in einer strukturierten Kunstsprache aufzuschreiben, die dem menschlichen Denken näher ist. Sein so genannter "Plankalkül" ("Plan" war Zuses Wort für "Programm") war der Versuch, seine Gedanken zum Universalrechner zu konkretisieren. Er enthielt die Möglichkeit, bedingte Sprünge zu programmieren. Zuse versuchte Ende der 1940er Jahre, ihn in Fachkreisen bekannt zu machen, stieß aber auf taube Ohren. Als rund zehn Jahre später die ersten vergleichbaren Programmiersprachen entstanden, war Zuse nach eigenen Angaben zu sehr mit dem Betrieb seiner Computerfirma beschäftigt, um zu ihrer Entwicklung etwas beizutragen.

Idee mit Zukunft – und Konkurrenz

Die Gründung der Zuse KG wurde durch den Verkauf seines vierten Rechners Z4 an die ETH Zürich 1949 ermöglicht, die damit wissenschaftliche Rechnungen ausführte. Die Firma verkaufte in den Folgejahren Rechner an Universitäten und an die Industrie, etwa an die Optikbranche, die damit die Wege von Lichtstrahlen durch Fotoobjektive berechnete. Die Firma baute bis 1964 mehr als 250 Computer. Dann wurde sie an die Firma Brown, Boveri & Cie. AG, Mannheim, verkauft. Die Erlöse reichten gerade aus, um die Schulden zu decken.

Warum wurde Zuse auch in der Nachkriegszeit, als er international nicht mehr isoliert bleiben musste, nicht zum deutschen Bill Gates? Immerhin hatte er den ersten Binärcomputer gebaut, den er schon 1936 zum Patent angemeldet hatte. Ein Grund dürfte eine gewisse Nachlässigkeit in Fragen der Patentierung gewesen sein. Während seiner Pionierzeit war für den Verkauf seiner Maschinen die gelungene Vorführung von Prototypen entscheidend gewesen, weshalb er in die Patentierung nicht so viel Zeit investierte. Auch fehlten ihm die nötigen Geldmittel. Um sein Patent durchsetzen zu können, wäre zum Nachweis der Neuheit ein intensives Studium auch ausländischer Patentschriften nötig gewesen [4], worauf Zuse verzichtete. Erst 1941 setzte er das Patent durch. Die paar Jahre Verzögerung waren entscheidend. In der Nachkriegszeit war das zusesche Patent einem aufwändig durchgeführten Angriff durch die Firma Triumph ausgesetzt, die auch die Interessen der US-Firma IBM vertrat. Das Bundespatentgericht lehnte Zuses Patent 1967 wegen mangelnder Erfindungshöhe ab. Der Angriff wäre wohl erfolglos geblieben, wenn Zuse das Patent schon 1936 durchgesetzt hätte [4].

"Er war nicht der Typ, der Vorlesungen hält"
(Horst Zuse)
Ein weiterer Grund: Die visionäre Kraft Zuses kannte Grenzen. So hatte er während des Kriegs, als er, um dem Kriegsdienst zu entgehen, wieder bei den Henschel-Werken arbeitete, dort die Nachbearbeitung der Flügel von Flugbomben automatisiert. Die Ergebnisse der Flügelvermessung wurde von den Messgeräten über den wohl ersten Analog-Digital-Wandler der Welt – Zuses Erfindung – in einen Spezialcomputer gespeist, der die nötigen Korrekturen berechnete. Zuse hatte somit die Prozesssteuerung durch Computer erfunden, die heute aus der Industrie nicht mehr wegzudenken ist. Doch damals hatte er die Tragweite dieser Erfindung nicht erkannt und das Patent nicht entsprechend formuliert (lediglich das Abtastverfahren ließ er schützen, nicht aber die Verbindung zwischen einem A-D-Wandler und dem Rechengerät).

Auch auf die Entwicklung der Computertechnik in akademischen Kreisen hatte er wegen seiner Ferne zum Wissenschaftsbetrieb nach dem Krieg kaum Einfluss. Das wäre wohl anders gewesen, wenn er Wissenschaftler geworden wäre. Aber: "Er war nicht der Typ, der Vorlesungen hält", sagt Horst Zuse. Erst nach dem Ausscheiden aus seinem Unternehmen widmete er sich der Wissenschaft (neben seiner Malerei). Eine seiner Ideen aus jener Zeit waren Maschinen, die sich aus Rohmaterialien selbst reproduzieren können. Eine Vision, die noch eine ist – wie gesagt: noch.
  • Quellen
[1] Konrad Zuse: "Der Computer – mein Lebenswerk", Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 1993.
[2] Fritz-Rudolf Güntsch: "Konrad Zuse und das Konzept des Universalrechners". In: Hans Dieter Hellige (Hrsg.): "Geschichten der Informatik", Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 2004
[3] Encyclopædia Britannica. Encyclopædia Britannica 2007 Ultimate Reference Suite, Chicago.
[4] Hartmut Petzold: "Moderne Rechenkünstler – Die Industrialisierung der Rechentechnik in Deutschland", Verlag C.H. Beck München, 1992.

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