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Theorie dynamischer Systeme: Nichtlinearität und die Stromnetze

Blitz
Elektrische Energie aus erneuerbaren Quellen | ... aber leider nicht mit der nötigen Zuverlässigkeit verfügbar

Nichtlineare Wissenschaft? Das ist doch Chaos, empfindliche Abhängigkeit von den Anfangsdaten, Singularitäten, Schmetterlingseffekt ... Ja, philosophische Konsequenzen für den Determinismus, ja, schöne Bilder von Fraktalen. Die kann sich der Mensch in der Leitstelle für das Hochspannungs-Stromnetz an die Wand hängen, wenn ihm danach zumute ist. Aber was soll er für seine Arbeit damit anfangen? Da erzählt ihm die Theorie, dass es gelegentlich darauf ankommt, ob ein Frequenzverhältnis eine rationale oder irrationale Zahl ist. Wie soll er so etwas seinen Messwerten ansehen?

Ich gebe zu, ich war schon etwas skeptisch, als das Center for nonlinear science der Universität Münster zu einem Workshop namens "Complexity meets energy" lud. Da kam mir die Kluft zwischen Theorie und Praxis doch arg weit vor. Zu allem Überfluss war "Energy" sehr eingeschränkt zu verstehen: Es ging nur um elektrische Energie und da im Wesentlichen um die Herausforderungen, die die Energiewende mit sich bringt – immerhin ein sehr aktuelles Thema.

Wenn anstelle weniger großer Kraftwerke lauter kleine Windräder und Solaranlagen den Strom liefern, freut sich der Ökofreak, denn erstens lassen die Verschmutzung mit CO2 und die Gefahren der Kernenergie nach, und zweitens geht – small is beautiful – die Stromerzeugung aus den Händen weniger monopolistischer Großkonzerne in die vieler kleiner Erzeuger über. Aber natürlich wird es schwieriger, Angebot und Nachfrage nach Strom in Einklang zu bringen.

Das muss ziemlich präzise und sekundengenau geschehen, denn elektrische Energie ist als solche kaum zu speichern. Stattdessen muss man bei Überschuss Windräder vom Netz nehmen (schlecht), bei Mangel konventionelle Kraftwerke anwerfen (ganz schlecht) oder beides durch Füllen und Leeren von Speicherseen ausgleichen: sehr gut, aber die Speicherseen gibt es noch nicht. Wie groß müssten sie denn sein?

Groß genug für die extremsten Situationen? Unbezahlbar. Man muss sich mit einer Speicherkapazität begnügen, die alles abdeckt bis auf ein Ereignis (wochenlang kein Wind, keine Sonne, hoher Verbrauch), das vielleicht einmal pro Jahrhundert vorkommt. Das richtig abzuschätzen erfordert anspruchsvolle Mathematik. Es kommt entscheidend an auf das Verhältnis zwischen der Leistung, die Wind- und Sonnenkraftwerke anbieten, und dem Verbrauch, beides über die Zeit gemittelt. Liegt dieses Verhältnis unter 1 ("Mangel im Durchschnitt"), so sind die Speicherseen die meiste Zeit leer, denn Überschussenergie fällt nur selten an und wird meistens sehr bald wieder abgerufen. Bei Überfluss im Durchschnitt (Verhältnis größer als 1) sind die Seen meistens gefüllt bis zum Überschwappen. Und wenn Angebot und Nachfrage im Durchschnitt genau ausgeglichen sind (Verhältnis 1)? Das nennen die Theoretiker einen Phasenübergang. Sehr interessantes Phänomen – der Füllstand folgt einer wilden Zufallskurve –, aber für die Anwendung völlig belanglos: Was kümmert den Planer eine Singularität, wenn er der Sache mit ein paar zusätzlichen Windrädern aus dem Weg gehen kann und dabei vielleicht noch einen Speichersee einspart?

Na gut; aber ich beeile mich zu betonen, dass meine Vorurteile im Übrigen auf der Tagung nicht bestätigt wurden! Es lohnt durchaus, den kurzfristigen Schwankungen der Windgeschwindigkeit mit moderner Turbulenztheorie nachzugehen. Die übliche vereinfachende Annahme "Windgeschwindigkeit jetzt und Windgeschwindigkeit in einer Minute sind vom Zufall bestimmt, und die Differenzen zwischen ihnen sind normalverteilt" stimmt nämlich nicht, und wer ihr folgt, kommt leicht zu falschen Schlüssen über die zu erwartende Leistung einer Windkraftanlage.

Mit Mitteln der Graphentheorie kann man die möglichen Ausfälle eines Hochspannungs-Stromnetzes analysieren und konkrete Hinweise darauf geben, an welcher Stelle eine zusätzliche Leitung am meisten zur allgemeinen Ausfallsicherheit beitragen würde.

Sogar ein Phänomen, das man eigentlich aus dem Straßenverkehr beziehungsweise dessen theoretischer Modellierung kennt, kommt hier zu neuen Ehren: das Braess-Paradox. In manchen Straßennetzen lässt sich der Verkehrsfluss dadurch verbessern, dass man eine Straße sperrt; oder umgekehrt: Die Eröffnung einer neuen Straßenverbindung kann zur Folge haben, dass alle Autofahrer länger zum Ziel brauchen als zuvor. So nichtlinear wie der Straßenverkehr ist das Stromnetz schon lange. Nicht ausgelastet zu sein macht ihm überhaupt nichts aus, Überlastung dagegen sehr. Und wie die Autofahrer wählt auch der Strom bevorzugt den Weg des geringsten Widerstands.

Steckt ein Braess-Paradox auch hinter dem Stromausfall vom 4. November 2006? Schwer zu sagen. Es war gewissermaßen eine Katastrophe mit Ansage. Eine Hochspannungsleitung über die Ems wurde planmäßig abgeschaltet, damit ein Schiff der Meyer-Werft in Papenburg gefahrlos flussabwärts in Meer fahren konnte. Hohe Leistungen aus Windkraftanlagen im Norden ließen den Strom im Netz stärker anschwellen als vorgesehen. Um den Stromfluss auf einer überlastungsbedrohten Leitung zu verringern, schalteten die Netzbetreiber eine Verbindung ein – und erreichten genau den gegenteiligen Effekt. Das mag ein Braess-Paradox gewesen sein, auch wenn der Untersuchungsbericht der Bundesnetzagentur als Ursache des Ausfalls eine Fülle von einzelnen Kommunikationspannen und fehlerhaften Entscheidungen benennt. Wegen Überlastung schaltete sich die Leitung automatisch ab, und der Strom suchte sich andere Wege, überlastete andere Leitungen, die schalteten sich ab, und so weiter. Binnen Sekunden war in einer Kettenreaktion das europäische Verbundnetz in drei Teile zerfallen, mehrere 100000 Menschen waren stundenlang ohne Strom, und die Auswirkungen waren bis nach Marokko spürbar.

Am meisten beeindruckt hat mich, ich gestehe es, eine Untersuchung, die eigentlich kein bisschen nichtlinear ist. Martin Greiner von der Universität Aarhus (Dänemark) denkt darüber nach, wie in einigen Jahrzehnten die Energieversorgung Europas mit Erneuerbaren aussehen könnte (und klammert dafür die Frage, auf welchem Weg und zu welchen Kosten man zu diesem erstrebenswerten Zustand gelangen könnte, vorläufig aus). Auf der Basis einer ungeheuren Menge an Wetterdaten errechnet er, an welchen Stellen wie viele Windräder und Fotovoltaikanlagen aufzustellen wären, damit diese einen möglichst hohen Anteil des Energiebedarfs decken – wieder mit der Maßgabe, dass die von diesen abrufbare Leistung im Durchschnitt genau den Bedarf deckt. Sein Ergebnis: Eine Mischung aus 70 Prozent Wind und 30 Prozent Sonne ist optimal; nicht etwa, weil der Wind verlässlicher wehen würde, als die Sonne scheint, sondern weil er nachts nicht ausfällt. Dabei wäre eine Reservekapazität von 25 Prozent des Bedarfs vorzuhalten. Wegen großer Unsicherheiten in den Prognosen sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen.

Eine weitere Schlussfolgerung ist eigentlich einleuchtend, kann aber den Ökofreak nicht wirklich erfreuen: Je größer ein Gebiet, desto besser mitteln sich Unterschiede im Wetter und im Stromangebot aus. Wenn die Länder Europas ungehemmt Strom untereinander austauschen, sinkt die Reservekapazität auf 15 Prozent. Noch günstiger wird es, wenn man die Bedingung fallen lässt, dass jedes Land seinen eigenen Bedarf wenigstens im Durchschnitt decken muss. England hat genug Wind und Frankreich genug Sonne, um Deutschland mitzuversorgen – im Durchschnitt. Der Preis dafür sind nicht nur viele neue Hochspannungsleitungen, sondern auch Abhängigkeiten von großen Netzbetreibern und ausländischen Energielieferanten. Da ist small auf einmal nicht mehr so beautiful.

Na ja. Was ist eigentlich an dieser Abhängigkeit grundsätzlich problematischer als unsere Abhängigkeit von arabischem Erdöl und russischem Erdgas?

Die Wissenschaftler halten sich mit politischen Aussagen wie üblich zurück. Aber rein theoretisch gibt dieser oder jener zu bedenken, dass ein Verbundnetz, das Nordafrika und Asien bis Fernost einschließt, das Betreiben fossiler Reservekraftwerke fast vollständig erübrigen würde ...

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