Tissue Engineering: Ein Kunstorgan aus Fleisch - und Blut
Das Fehlen einer funktionierenden Blutversorgung lähmt den Fortschritt bei der Züchtung künstlichen Gewebes. Dabei attackieren Forscher das Problem an zahlreichen Fronten.
Nach maximal einem halben Millimeter ist Schluss: Sind Körperzellen weiter von einem Blutgefäß entfernt, sterben sie ab. Ihnen fehlen die Nährstoffe, vor allem aber der Sauerstoff. Im Körper regelt die Natur dieses Problem mit einem alles durchdringenden Netz dünnster Kapillaren. Im Labor hingegen, wo Forscher seit Jahrzehnten über der Züchtung künstlicher Organe brüten, fehlt eine wirkungsvolle Lösung.
Dabei gilt die Rekonstruktion naturidentischer Organe als viel versprechende Zukunftstechnologie. Aus Zellen des Erkrankten könnte quasi über Nacht eine neue Niere oder eine Leber geschaffen werden, die – da sie die DNA des Patienten trägt – vom Körper nicht abgestoßen würde. Das "Tissue Engineering" gibt Hoffnung für alle, die bislang vergeblich auf ein Spenderorgan warten. Doch Zellhäutchen, die in Ermangelung eines Blutgefäßsystems die kritische Millimeterdistanz nicht überwinden, helfen niemandem.
Das Tissue Engineering ist dennoch längst über das Stadium der Grundlagenforschung hinaus. Einigermaßen gut verstehen sich Wissenschaftler darauf, die eigentlichen Arbeitstiere des Organs wachsen zu lassen. Für viele gewebespezifische Zelltypen – seien es Haut-, Leber- oder Muskelzellen – kennt man die entsprechenden undifferenzierten Vorläufer. Sie lassen sich isolieren und unter den richtigen Bedingungen, wie einer fein dosierten Nährstoffversorgung, zu den gewünschten Gewebearten kultivieren.
Bedarf an allen Enden
Mit dünnen Schichten aus Zuchthaut decken Mediziner beispielsweise jetzt schon die Wunden von Brandopfern ab. Knorpel kann in abgenutzte Gelenke implantiert werden. Hier wie dort und in vielen ähnlichen Fällen profitiert man allerdings davon, dass diese Gewebe ausnahmsweise ohne Blutversorgung auskommen. Bedarf bestünde aber an zahlreichen weiteren Stellen: Herzmuskelzellen zur Therapie einer Infarktschädigung, Fettgewebe zum Wiederaufbau einer amputierten Brust oder auch Knochenstücke, mit denen sich größere Fehlstellen im Skelett auffüllen ließen.
Seit Jahren suchen Wissenschaftler daher fieberhaft nach Lösungen für das Problem der Vaskularisierung, also der ausreichenden Durchdringung des Gewebes mit Blutgefäßen. Dabei sind es nicht so sehr die großen Gefäße – die Hauptleitungen der Organe sozusagen –, die den Forschern Kopfzerbrechen bereiten: Das Transplantat an den Blutkreislauf des Körpers anzunähen, gilt allgemein als Problem, das sich früher oder später in den Griff kriegen lassen wird.
Kanälchen aus Seide
Am Anfang aller Bemühungen im Tissue Engineering steht die Wahl des passenden dreidimensionalen Gerüsts (Scaffold), in dem die Zellen heranwachsen. Zum Einsatz kommen dabei eine breite Palette an schwammartigen Materialien, die hinsichtlich ihrer Porosität dem natürlichen Vorbild, der extrazellularen Matrix, ähneln. Idealerweise besteht es aus einem abbaubaren Stoff, so dass es sich nach der Implantation in den Körper einfach auflösen würde. Einige Forschergruppen verwenden sogar körpereigenes Material – vorwiegend Kollagen – als Ausgangsstoff. Aus praktischen Gründen greifen andere bei ihren Experimenten jedoch auch auf silikonartige Kunststoffe wie Polydimethylsiloxan (PDMS) zurück.
PDMS lässt sich hervorragend modellieren, was für die Gefäßbildung einige entscheidende Vorteile mit sich bringt. So gelang es bereits verschiedenen Labors, Gefäßkanäle vorab in das Gerüst einzuprägen oder zu -fräsen. Anschließend lässt sich das Kanalsystem mit Pumpen verbinden und so zur Versorgung des heranwachsenden Gewebes heranziehen. Dabei profitieren die Forscher von den Erfahrungen mit ähnlichen "Mikrofluidik"-Apparaturen, die beispielsweise als "Labor im Miniaturmaßstab" Stoffe mischen, trennen oder analysieren sollen. Besiedelt man nun noch die Kanalwände mit so genannten Endothelzellen, die auch in der Natur Arterien auskleiden, erhält man über einen Zeitraum von mehreren Tagen künstliche Blutgefäße. Doch da niemand das Silikon nach der Transplantation wieder mühsam herausoperieren will, rückt die Festlegung auf PDMS als Scaffold-Material seinen klinischen Einsatz in weite Ferne.
Hochkomplexes Vorbild
Ob es allerdings in jedem Fall einer solchen Vorbereitung des Scaffolds bedarf, ist nicht sicher. Möglicherweise genügt es auch, einfach Zellklümpchen des zu erzeugenden Gewebes gemeinsam mit den blutgefäßbildenden Endothelzellhaufen zu kultivieren. Wissenschaftler um Steven George von der University of California in Irvine bestückten beispielsweise winzige Perlen einer Trägersubstanz mit Endothelzellen und gaben sie in eine Matrix. Wie sich zeigte, wucherten die Endothelzellen in verschiedene Richtungen aus und formten dabei kapillarartige Kanäle [2].
Die Versuche von George und Kollegen entsprechen tatsächlich eher den Vorgängen im Körper: Auch hier bildet sich das Gefäßsystem aus, ohne dass dafür vorab Kanäle in das Bindegewebe gefräst werden müssten. Dass nicht alle Forscher auf diese Herangehensweise setzen, hat jedoch einen gewichtigen Grund: Das für die natürliche Vaskularisierung verantwortliche Zusammenspiel der vielfältigen Zellarten nachzubilden, übersteigt bei Weitem das technische Können der Mediziner. Und mehr noch: Es ist selbst nur annähernd verstanden. Als gesichert kann lediglich gelten, dass eine Vielzahl von Prozessen Hand in Hand arbeiten.
Beispielsweise sind an der Vaskularisierung über 20 verschiedene Wachstumsfaktoren und über 30 regulierende Gegenspieler beteiligt. Hinzu kommen Umgebungsbedingungen wie die räumlichen Änderungen in der Konzentration eines Botenstoffs, die Gefäße in Richtung unterversorgter Bereiche locken. Aber auch eine bestimmte Eigenschaft der Zelloberfläche kann für Endothelzellen das Signal zum Anheften geben, der Blutstrom spielt eine Rolle, ebenso die Dehn- und Scherbelastungen des Gewebes oder die Sauerstoffkonzentration vor Ort. Und schließlich stehen Wissenschaftler noch vor dem Problem, dass größere Arterien auch aus glatter Muskulatur bestehen, die ebenfalls in das zu kultivierende Ausgangsmaterial eingebracht und zur Teilung angeregt werden müssen.
Am besten alles kombinieren
Insbesondere die Wachstumsfaktoren gelten als unverzichtbare Zutat bei der Bildung von Blutgefäßen in vitro. Mit raffinierten Verfahren lassen sie sich in das Gerüst einbringen, etwa indem genetische Tricks Zellen dazu bringen, unnatürlich hohe Mengen der Botenstoffe auszuschütten. Andere Wissenschaftler haben die Substanzen in Mikrokapseln in das Gerüstmaterial eingebracht und so den zeitlichen Verlauf ihrer Freisetzung kontrolliert. Dadurch treten sie zielgerichteter in das umgebende Medium aus, als es der Fall wäre, wenn sie dort frei vorhanden wären.
Glücklicherweise genügen oft bereits einige zentrale Wachstumsfaktoren, wie VEGF (Vascular endothelial growth factor), die weitere Prozesse anstoßen können. Manche Forscher hoffen, die Gefäßbildung so stark ankurbeln zu können, dass sie auf eine Prävaskularisierung vor der Implantation gänzlich verzichten können. Setzt die Neubildung der Gefäße schnell genug ein, könnte vielleicht der Körper diese Aufgabe übernehmen, ohne dass die Überlebensfähigkeit der Zellen im Innern des Transplantats beeinträchtigt würde.
Maurerhandwerk auf Zellniveau
Wie dieser Aufbau – weit gehend ohne Zutun der Forscher – vonstatten gehen könnte, demonstrierte jüngst ein Team um Ali Khademhosseini vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Ihr Verfahren tauften sie auf den Namen "Micromasonry", zu deutsch etwa "Mikromaurerei". Sie verwendeten dazu ein Hydrogel, ein stark wasserhaltiges Gemisch aus Kunst- oder Naturstoffen, wie es bei zahlreichen Tissue-Engineering-Verfahren als Trägermaterial zur Anwendung kommt, und schnitten es in winzige, ziegelähnliche Blöcke [5].
Anschließend präparierten sie stabile Kunststoffträger in einer Vielzahl von Formen und Größen – beispielsweise als Halbkugeln oder Röhren –, auf denen sich die Blöcke im freien Spiel der Kräfte selbsttätig nebeneinander anlagerten. Khademhosseini und Mitarbeiter mussten nun zur Festigung nur noch eine flüssige "Mörtel"-Substanz auftragen, die sich unter UV-Licht aushärten ließ. Nach Entfernen der Kunststoffvorlage blieb das abgeformte Hydrogel-Scaffold zurück. Ein weiterer Vorteil ist dabei, dass sich die Materialeigenschaften der Gelziegel in gewissen Grenzen einstellen lassen und mit den erforderlichen Wachstumsfaktoren angereichert werden können.
All diese Verfahren sind jedoch noch weit von der Anwendungsreife entfernt und wurden bislang, wenn überhaupt, nur an Ratten und Mäusen getestet, deren Anatomie es größenbedingt leichter verzeiht, wenn Fehler beim Gefäßwachstum gemacht wurden. Tierexperimente mit Schweinen oder Schafen sind dagegen die Ausnahme – vielleicht weil Forschergruppen bislang ein zu ehrgeiziges Ziel verfolgt haben: Jeder einzelne Schritt der Gewebeentstehung sollte im Labor stattfinden.
Gefäßbildung geht unter die Haut
Dass dies nicht unbedingt hilfreich ist, haben Forscher um Justus Beier und Ulrich Kneser von der Uniklinik Erlangen demonstriert. Sie haben sich auf ein Verfahren verlegt, das die enormen Fähigkeiten des Körpers zur Neubildung von Blutgefäßen ausnutzt, und am Schaf getestet.
Die Wissenschaftler erzeugten durch einen chirurgischen Eingriff eine so genannte arteriovenöse Schleife: einen Kurzschluss im Blutkreislauf, bei dem eine freigelegte Arterie und eine Vene miteinander vernäht werden. Die Schleife positionierten sie dann in einer Box, die sie mit einem bioverträglichen Scaffold-Material füllten und mit knochenbildenden Zellen beimpften.
Anschließend implantierten Kneser und Kollegen die Box provisorisch unter der Haut des Versuchstiers, wo im Lauf von rund zwei Wochen feinere Gefäße aus der Schleife auswuchsen. Mit dieser Technik gelang es den Erlanger Forschern unter anderem ein Stück durchbluteten Knochenmaterials heranzuzüchten [6]. Kappt man die Schleife, können die aus dem Implantat herausragenden Adern dazu verwendet werden, das Gewebe an seinem Bestimmungsort in den Blutkreislauf zu integrieren.
Das Problem mit der guten Durchblutung wird Fachleuten noch auf absehbare Zeit zu schaffen machen – trotz der viel versprechenden Ansätze, an denen sich Labors weltweit versuchen. Bis es gelöst ist, kann das Zuchtgewebe vielleicht außerhalb der Medizin Nutzen bringen: als Testsystem für Medikamente oder zum Studium zellulärer Prozesse. Denn dazu müsste es nicht einmal in einen Körper transplantiert werden, wie Heike Walles und Johanna Schanz vom Fraunhofer Institut für Grenzflächen und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart demonstrieren. Ihrem Team ist die Entwicklung solcher Labormodelle bereits gelungen – mit einem überraschend einfachen Verfahren: Sie spülten aus einem Stück Darm sämtliche Zellen fort, zurück blieb allein die vollständig mit Blutgefäßkanälen versehene Matrix. Anschließend mussten sie nur noch Sorge dafür tragen, dass sich die Zellen in das gemachte Nest setzten.
Dabei gilt die Rekonstruktion naturidentischer Organe als viel versprechende Zukunftstechnologie. Aus Zellen des Erkrankten könnte quasi über Nacht eine neue Niere oder eine Leber geschaffen werden, die – da sie die DNA des Patienten trägt – vom Körper nicht abgestoßen würde. Das "Tissue Engineering" gibt Hoffnung für alle, die bislang vergeblich auf ein Spenderorgan warten. Doch Zellhäutchen, die in Ermangelung eines Blutgefäßsystems die kritische Millimeterdistanz nicht überwinden, helfen niemandem.
Das Tissue Engineering ist dennoch längst über das Stadium der Grundlagenforschung hinaus. Einigermaßen gut verstehen sich Wissenschaftler darauf, die eigentlichen Arbeitstiere des Organs wachsen zu lassen. Für viele gewebespezifische Zelltypen – seien es Haut-, Leber- oder Muskelzellen – kennt man die entsprechenden undifferenzierten Vorläufer. Sie lassen sich isolieren und unter den richtigen Bedingungen, wie einer fein dosierten Nährstoffversorgung, zu den gewünschten Gewebearten kultivieren.
Bedarf an allen Enden
Mit dünnen Schichten aus Zuchthaut decken Mediziner beispielsweise jetzt schon die Wunden von Brandopfern ab. Knorpel kann in abgenutzte Gelenke implantiert werden. Hier wie dort und in vielen ähnlichen Fällen profitiert man allerdings davon, dass diese Gewebe ausnahmsweise ohne Blutversorgung auskommen. Bedarf bestünde aber an zahlreichen weiteren Stellen: Herzmuskelzellen zur Therapie einer Infarktschädigung, Fettgewebe zum Wiederaufbau einer amputierten Brust oder auch Knochenstücke, mit denen sich größere Fehlstellen im Skelett auffüllen ließen.
Seit Jahren suchen Wissenschaftler daher fieberhaft nach Lösungen für das Problem der Vaskularisierung, also der ausreichenden Durchdringung des Gewebes mit Blutgefäßen. Dabei sind es nicht so sehr die großen Gefäße – die Hauptleitungen der Organe sozusagen –, die den Forschern Kopfzerbrechen bereiten: Das Transplantat an den Blutkreislauf des Körpers anzunähen, gilt allgemein als Problem, das sich früher oder später in den Griff kriegen lassen wird.
Es sind die vielen Tausenden, oft nur mikrometerdicken Kapillaren, die sich bislang kaum in das Ersatzorgan integrieren lassen. Neben den technischen Herausforderungen stehen Forscher dabei vor dem zusätzlichen Problem, dass der genaue Bedarf an Sauerstoff und Nährstoffen vielfach nur näherungsweise abgeschätzt werden kann.
Kanälchen aus Seide
Am Anfang aller Bemühungen im Tissue Engineering steht die Wahl des passenden dreidimensionalen Gerüsts (Scaffold), in dem die Zellen heranwachsen. Zum Einsatz kommen dabei eine breite Palette an schwammartigen Materialien, die hinsichtlich ihrer Porosität dem natürlichen Vorbild, der extrazellularen Matrix, ähneln. Idealerweise besteht es aus einem abbaubaren Stoff, so dass es sich nach der Implantation in den Körper einfach auflösen würde. Einige Forschergruppen verwenden sogar körpereigenes Material – vorwiegend Kollagen – als Ausgangsstoff. Aus praktischen Gründen greifen andere bei ihren Experimenten jedoch auch auf silikonartige Kunststoffe wie Polydimethylsiloxan (PDMS) zurück.
PDMS lässt sich hervorragend modellieren, was für die Gefäßbildung einige entscheidende Vorteile mit sich bringt. So gelang es bereits verschiedenen Labors, Gefäßkanäle vorab in das Gerüst einzuprägen oder zu -fräsen. Anschließend lässt sich das Kanalsystem mit Pumpen verbinden und so zur Versorgung des heranwachsenden Gewebes heranziehen. Dabei profitieren die Forscher von den Erfahrungen mit ähnlichen "Mikrofluidik"-Apparaturen, die beispielsweise als "Labor im Miniaturmaßstab" Stoffe mischen, trennen oder analysieren sollen. Besiedelt man nun noch die Kanalwände mit so genannten Endothelzellen, die auch in der Natur Arterien auskleiden, erhält man über einen Zeitraum von mehreren Tagen künstliche Blutgefäße. Doch da niemand das Silikon nach der Transplantation wieder mühsam herausoperieren will, rückt die Festlegung auf PDMS als Scaffold-Material seinen klinischen Einsatz in weite Ferne.
Eine interessante Alternative könne Seide bieten, meint David Kaplan von der Tufts University in Medford. Mit seinen Kollegen experimentiert er seit einiger Zeit am Einsatz des Stoffes [1]. Sein Hauptbestandteil, das Protein Seidenfibroin, wird so vorbehandelt, dass er sich in Form gießen lässt. Im Endeffekt konnten sie so ein der PDMS-Variante vergleichbares Mikrofluidik-System erzeugen, das einem wenn auch nur rudimentär vaskularisierten Gewebe ähnelt.
Hochkomplexes Vorbild
Ob es allerdings in jedem Fall einer solchen Vorbereitung des Scaffolds bedarf, ist nicht sicher. Möglicherweise genügt es auch, einfach Zellklümpchen des zu erzeugenden Gewebes gemeinsam mit den blutgefäßbildenden Endothelzellhaufen zu kultivieren. Wissenschaftler um Steven George von der University of California in Irvine bestückten beispielsweise winzige Perlen einer Trägersubstanz mit Endothelzellen und gaben sie in eine Matrix. Wie sich zeigte, wucherten die Endothelzellen in verschiedene Richtungen aus und formten dabei kapillarartige Kanäle [2].
Die Versuche von George und Kollegen entsprechen tatsächlich eher den Vorgängen im Körper: Auch hier bildet sich das Gefäßsystem aus, ohne dass dafür vorab Kanäle in das Bindegewebe gefräst werden müssten. Dass nicht alle Forscher auf diese Herangehensweise setzen, hat jedoch einen gewichtigen Grund: Das für die natürliche Vaskularisierung verantwortliche Zusammenspiel der vielfältigen Zellarten nachzubilden, übersteigt bei Weitem das technische Können der Mediziner. Und mehr noch: Es ist selbst nur annähernd verstanden. Als gesichert kann lediglich gelten, dass eine Vielzahl von Prozessen Hand in Hand arbeiten.
Beispielsweise sind an der Vaskularisierung über 20 verschiedene Wachstumsfaktoren und über 30 regulierende Gegenspieler beteiligt. Hinzu kommen Umgebungsbedingungen wie die räumlichen Änderungen in der Konzentration eines Botenstoffs, die Gefäße in Richtung unterversorgter Bereiche locken. Aber auch eine bestimmte Eigenschaft der Zelloberfläche kann für Endothelzellen das Signal zum Anheften geben, der Blutstrom spielt eine Rolle, ebenso die Dehn- und Scherbelastungen des Gewebes oder die Sauerstoffkonzentration vor Ort. Und schließlich stehen Wissenschaftler noch vor dem Problem, dass größere Arterien auch aus glatter Muskulatur bestehen, die ebenfalls in das zu kultivierende Ausgangsmaterial eingebracht und zur Teilung angeregt werden müssen.
Am besten alles kombinieren
Insbesondere die Wachstumsfaktoren gelten als unverzichtbare Zutat bei der Bildung von Blutgefäßen in vitro. Mit raffinierten Verfahren lassen sie sich in das Gerüst einbringen, etwa indem genetische Tricks Zellen dazu bringen, unnatürlich hohe Mengen der Botenstoffe auszuschütten. Andere Wissenschaftler haben die Substanzen in Mikrokapseln in das Gerüstmaterial eingebracht und so den zeitlichen Verlauf ihrer Freisetzung kontrolliert. Dadurch treten sie zielgerichteter in das umgebende Medium aus, als es der Fall wäre, wenn sie dort frei vorhanden wären.
Glücklicherweise genügen oft bereits einige zentrale Wachstumsfaktoren, wie VEGF (Vascular endothelial growth factor), die weitere Prozesse anstoßen können. Manche Forscher hoffen, die Gefäßbildung so stark ankurbeln zu können, dass sie auf eine Prävaskularisierung vor der Implantation gänzlich verzichten können. Setzt die Neubildung der Gefäße schnell genug ein, könnte vielleicht der Körper diese Aufgabe übernehmen, ohne dass die Überlebensfähigkeit der Zellen im Innern des Transplantats beeinträchtigt würde.
Wie so oft in Fällen, in denen ein Wildwuchs vieler für sich genommen nicht völlig überzeugender Methoden auftritt, dürfte eine zukunftsweisende Lösung in der Kombination der Ansätze liegen, meinen Kaplan und Kollegen der Tufts University in einem Überblicksartikel aus dem vergangenen Jahr [3]. Einen solchen modularen Ansatz verfolgen beispielsweise Wissenschaftler um Joe Tien von der Boston University [4]. Ziel ihrer Studien ist es, das Endprodukt aus vielen kleinen Bausteinen aufzubauen, deren Scaffold bereits mit allem Notwendigen versehen ist. So platzierten sie eine hauchdünne Nadel in einem Kollagengel und kleideten den dadurch entstehenden Hohlraum schließlich mit Endothelzellen aus. Besiedelt man den verbleibenden Teil mit Zellen des Zielgewebes, lässt sich, so ihre Hoffnung, aus den Bausteinen ein dreidimensionales Gewebe aufbauen, das mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt werden kann.
Maurerhandwerk auf Zellniveau
Wie dieser Aufbau – weit gehend ohne Zutun der Forscher – vonstatten gehen könnte, demonstrierte jüngst ein Team um Ali Khademhosseini vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Ihr Verfahren tauften sie auf den Namen "Micromasonry", zu deutsch etwa "Mikromaurerei". Sie verwendeten dazu ein Hydrogel, ein stark wasserhaltiges Gemisch aus Kunst- oder Naturstoffen, wie es bei zahlreichen Tissue-Engineering-Verfahren als Trägermaterial zur Anwendung kommt, und schnitten es in winzige, ziegelähnliche Blöcke [5].
Anschließend präparierten sie stabile Kunststoffträger in einer Vielzahl von Formen und Größen – beispielsweise als Halbkugeln oder Röhren –, auf denen sich die Blöcke im freien Spiel der Kräfte selbsttätig nebeneinander anlagerten. Khademhosseini und Mitarbeiter mussten nun zur Festigung nur noch eine flüssige "Mörtel"-Substanz auftragen, die sich unter UV-Licht aushärten ließ. Nach Entfernen der Kunststoffvorlage blieb das abgeformte Hydrogel-Scaffold zurück. Ein weiterer Vorteil ist dabei, dass sich die Materialeigenschaften der Gelziegel in gewissen Grenzen einstellen lassen und mit den erforderlichen Wachstumsfaktoren angereichert werden können.
All diese Verfahren sind jedoch noch weit von der Anwendungsreife entfernt und wurden bislang, wenn überhaupt, nur an Ratten und Mäusen getestet, deren Anatomie es größenbedingt leichter verzeiht, wenn Fehler beim Gefäßwachstum gemacht wurden. Tierexperimente mit Schweinen oder Schafen sind dagegen die Ausnahme – vielleicht weil Forschergruppen bislang ein zu ehrgeiziges Ziel verfolgt haben: Jeder einzelne Schritt der Gewebeentstehung sollte im Labor stattfinden.
Gefäßbildung geht unter die Haut
Dass dies nicht unbedingt hilfreich ist, haben Forscher um Justus Beier und Ulrich Kneser von der Uniklinik Erlangen demonstriert. Sie haben sich auf ein Verfahren verlegt, das die enormen Fähigkeiten des Körpers zur Neubildung von Blutgefäßen ausnutzt, und am Schaf getestet.
Die Wissenschaftler erzeugten durch einen chirurgischen Eingriff eine so genannte arteriovenöse Schleife: einen Kurzschluss im Blutkreislauf, bei dem eine freigelegte Arterie und eine Vene miteinander vernäht werden. Die Schleife positionierten sie dann in einer Box, die sie mit einem bioverträglichen Scaffold-Material füllten und mit knochenbildenden Zellen beimpften.
Anschließend implantierten Kneser und Kollegen die Box provisorisch unter der Haut des Versuchstiers, wo im Lauf von rund zwei Wochen feinere Gefäße aus der Schleife auswuchsen. Mit dieser Technik gelang es den Erlanger Forschern unter anderem ein Stück durchbluteten Knochenmaterials heranzuzüchten [6]. Kappt man die Schleife, können die aus dem Implantat herausragenden Adern dazu verwendet werden, das Gewebe an seinem Bestimmungsort in den Blutkreislauf zu integrieren.
Das Problem mit der guten Durchblutung wird Fachleuten noch auf absehbare Zeit zu schaffen machen – trotz der viel versprechenden Ansätze, an denen sich Labors weltweit versuchen. Bis es gelöst ist, kann das Zuchtgewebe vielleicht außerhalb der Medizin Nutzen bringen: als Testsystem für Medikamente oder zum Studium zellulärer Prozesse. Denn dazu müsste es nicht einmal in einen Körper transplantiert werden, wie Heike Walles und Johanna Schanz vom Fraunhofer Institut für Grenzflächen und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart demonstrieren. Ihrem Team ist die Entwicklung solcher Labormodelle bereits gelungen – mit einem überraschend einfachen Verfahren: Sie spülten aus einem Stück Darm sämtliche Zellen fort, zurück blieb allein die vollständig mit Blutgefäßkanälen versehene Matrix. Anschließend mussten sie nur noch Sorge dafür tragen, dass sich die Zellen in das gemachte Nest setzten.
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