Zwischen Hoffnung und Skandal
Erik Zabel hat es getan und Michael Rasmussen auch. Jan Ullrich bestreitet es bis heute, genauso wie Claudia Pechstein: Doping mit Erythropoietin, kurz EPO. Besonders im Ausdauersport ist das Dopingmittel weit verbreitet. Erythropoietin kurbelt die Produktion von roten Blutkörperchen an, die Sauerstoff zu Muskeln und Organen transportieren. Mehr Sauerstoff bedeutet mehr Leistung: EPO lässt Radfahrer kräftiger in die Pedale treten, Läufer schneller die Zielgerade erreichen und Skifahrer zügiger durch den Schnee gleiten.
Alles in allem genießt EPO keinen guten Ruf, denn das Hormon führt im Sport zu unfairen Wettbewerbsbedingungen und ist deshalb verboten. Aber EPO kann mehr: Fern ab von der Tour de France und den olympischen Spielen rettet Erythropoietin Leben – und zwar in der Medizin. Schon seit Ende der 1980er Jahre werden Menschen, die an Blutarmut leiden, mit dem Hormon behandelt. Lange Zeit war die Anämie-Therapie allerdings sein einziges Einsatzgebiet. In den vergangenen Jahren brachten Forscher aber weitere Vorteile des Moleküls ans Licht. So fanden sie etwa heraus, dass Erythropoietin schützend und regenerativ auf Hautzellen oder Neuronen wirkt.
Von der Niere ins Knochenmark
In einem gesunden Körper wird das Hormon zum größten Teil in der Niere gebildet und dann ins Knochenmark transportiert. Dort bindet es an Stammzellen, die sich über verschiedene Zwischenschritte zu roten Blutkörperchen ausdifferenzieren. Menschen, die keine oder nur sehr wenige rote Blutkörperchen bilden, etwa weil sie an einer Niereninsuffizienz leiden, können diesen Defekt durch künstlich hergestelltes Erythropoietin ausgleichen.
Hannelore Ehrenreich vom Göttinger Max-Planck-Institut (MPI) für Experimentelle Medizin forscht seit über 15 Jahren an dem Hormon. Sie interessiert dabei besonders, welche Auswirkung Erythropoietin auf Patienten mit bestimmten Hirnkrankheiten hat. Dies können akute Störungen sein, wie beispielsweise ein Schlaganfall, oder chronische, etwa Multiple Sklerose oder Schizophrenie.
Die Liste der Wirkungen von EPO ist lang und hört sich vielversprechend an: Im Gehirn beugt das Hormon Entzündungen vor, weil es verhindert, dass Entzündungszellen die Blut-Hirn-Schranke passieren. Durch Apoptose, auch der programmierte Zelltod genannt, sterben normalerweise kranke oder alte Zellen ab, die dann durch neue ersetzt werden – ein lebenswichtiger Vorgang, durch den sich die Zellen des Körpers ständig erneuern. Ein Problem bei vielen Hirnkrankheiten ist, dass neben den kranken auch gesunde Nervenzellen durch Apoptose absterben. EPO verhindert dies, indem es bestimmte Protein-Kaskaden hemmt, die schließlich zum programmierten Zelltod, und dadurch zum Verlust gesunder Hirnmasse, führen würden. Ein weiterer Pluspunkt von EPO: Das Molekül erhält die Plastizität des Neuronennetzwerkes, weil es unter anderem neue und effektivere Verbindungen zwischen Nervenzellen schafft.
Mehr Rezeptoren bei Sauerstoffmangel
"Ist ein Mensch gesund, sind an seinen Nervenzellen nur einige wenige EPO-Rezeptoren aktiv", erklärt Ehrenreich. Sobald das Gehirn aber in eine Notlage gerate, etwa durch Sauerstoffmangel oder einen Schlaganfall, schnelle die Zahl der EPO-Rezeptoren in die Höhe. "Die Nervenzellen können in der kurzen Zeit gar nicht so viel neues Erythropoietin produzieren, wie die vorhandenen Rezeptoren umsetzen könnten." Viele Rezeptoren blieben deswegen unbesetzt und hätten keine Auswirkungen auf die Nervenzelle. "Dank der Gabe von zusätzlichem, künstlichem Erythropoietin können mehr EPO-Moleküle wirken, die Nervenzellen sind besser geschützt."
Ähnliches konnte Hans-Günther Machens, Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am Klinikum rechts der Isar der TU München, bei EPO-Rezeptoren von Hautzellen nachweisen. Der Forscher untersucht mit seinem Team, inwieweit künstlich hergestelltes Erythropoietin die Heilung verletzter, insbesondere verbrannter Hautpartien vorantreibt. Wissenschaftler sprechen bei diesem Prozess von "Reepithelisierung", also von der Bildung neuer Haut. Machens und seine Kollegen transplantieren Patienten mit schweren Verbrennungen der Grade zwei und drei zunächst Eigenhaut und spritzen ihnen danach alle zwei Tage niedrig dosiertes Erythropoietin unter die Haut. Das Ergebnis: Sowohl die verbrannten Hautpartien als auch die Körperstellen, an denen Haut für die Transplantation entfernt wurde, heilen bei Patienten mit EPO-Behandlung schneller als bei Verbrennungsopfern, die nur ein Placebo bekommen haben. "Ähnlich wie im Gehirn sind auch EPO-Rezeptoren in der Haut im Normalzustand nur begrenzt aktiv", erklärt Machens. Wird die Haut aber verletzt, durch Verbrennung oder einen Schnitt, bilden sich mehr Rezeptoren an den Vorläuferzellen verschiedener Hautzellen. Binden nun EPO-Moleküle an diese Rezeptoren, differenzieren sich die Vorläuferzellen vermehrt zu Hautzellen – es entstehen neue, gesunde Hautschichten (Epidermis und Dermis). Machens setzt große Hoffnungen in die bisherigen Forschungsergebnisse. Sein Ziel: Die Therapie mit EPO soll in einigen Jahren bei allen Hautverletzungen eingesetzt werden können.
Mehr Todesfälle durch EPO-Behandlung?
Vor einem Jahr erlitten die EPO-Forscher allerdings einen herben Rückschlag. In einer Meta-Analyse trugen Wissenschaftler Daten von knapp 14 000 Patienten aus 53 Studien zusammen. Die Forscher wollten herausfinden, welchen Einfluss Erythropoietin auf Tumorpatienten mit Blutarmut hat. Das Ergebnis: In den mit EPO behandelten Gruppen starben 17 Prozent mehr Menschen als in den Kontrollgruppen, denen das Hormon nicht verabreicht wurde. Erhielten die Patienten neben EPO zusätzlich eine Chemotherapie, reduzierte sich die Prozentzahl auf zehn.
Grund für die erhöhte Sterblichkeit sei unter anderem die Gefahr, durch das zusätzlich verabreichte Hormon an einer Thrombose zu erkranken. Zudem vermuten die Wissenschaftler, dass "EPO Krebszellen zum Wachsen anregt". Die US-amerikanischen Zulassungsbehörden reagierten prompt auf die Ergebnisse und beschlossen, dass Tumorpatienten grundsätzlich nur dann mit Erythropoietin behandelt werden dürfen, wenn sie zudem eine Chemotherapie durchlaufen.
Hannelore Ehrenreich vom MPI in Göttingen nennt diese Bestimmung indessen "groben Unsinn" – zumindest für Patienten mit Hirntumoren. Die Wissenschaftlerin begründet ihre Meinung mit Ergebnissen, die sie aus Versuchen mit Glioblastomzellen, also Hirntumorzellen, erhalten hat. "Hirntumore können nur durch eine aggressive Bestrahlung zurückgedrängt werden. Dabei sterben aber nicht nur bösartige Krebszellen, sondern auch gesunde Neuronen ab", so Ehrenreich. Die Wissenschaftler hatten daher die Idee, die gesunden Hirnzellen während der Bestrahlung durch Erythropoietin zu schützen – EPO als Prophylaxe. Da das Hormon aber nicht nur zellschützend wirkt, sondern auch die Apoptose der Zellen im Hirn verhindert, überlebten sowohl gesunde als auch Tumorzellen. Deshalb rät Ehrenreich von einer Erythropoietin-Behandlung bei Chemopatienten mit Hirntumoren ab.
Das Ziel: Nebenwirkungen in den Griff bekommen
Der Einsatz von EPO bei Tumorpatienten bleibt also ein strittiges Thema. Auch Ehrenreich räumt ein: "EPO ist keine Substanz, die einfach nur sorglos eingesetzt werden kann. In den nächsten Jahren gilt es deshalb vor allem, Nebenwirkungen zu verstehen und in den Griff zu bekommen." Nichts desto trotz ist die Wissenschaftlerin von dessen positiver Wirkung auf Patienten mit Hirnerkrankungen überzeugt: Laut Ehrenreich ist EPO heute die einzige Substanz, die nachweislich schützend und regenerativ aufs menschliche Gehirn wirkt. "Im Sport ist der Missbrauch von EPO ein Skandal. In der Medizin jedoch ist das Hormon einer der großen Hoffnungsträger der Zukunft."
Laura Brockschmidt studiert Wissenschaftsjournalismus an der Hochschule Darmstadt.
Alles in allem genießt EPO keinen guten Ruf, denn das Hormon führt im Sport zu unfairen Wettbewerbsbedingungen und ist deshalb verboten. Aber EPO kann mehr: Fern ab von der Tour de France und den olympischen Spielen rettet Erythropoietin Leben – und zwar in der Medizin. Schon seit Ende der 1980er Jahre werden Menschen, die an Blutarmut leiden, mit dem Hormon behandelt. Lange Zeit war die Anämie-Therapie allerdings sein einziges Einsatzgebiet. In den vergangenen Jahren brachten Forscher aber weitere Vorteile des Moleküls ans Licht. So fanden sie etwa heraus, dass Erythropoietin schützend und regenerativ auf Hautzellen oder Neuronen wirkt.
Von der Niere ins Knochenmark
In einem gesunden Körper wird das Hormon zum größten Teil in der Niere gebildet und dann ins Knochenmark transportiert. Dort bindet es an Stammzellen, die sich über verschiedene Zwischenschritte zu roten Blutkörperchen ausdifferenzieren. Menschen, die keine oder nur sehr wenige rote Blutkörperchen bilden, etwa weil sie an einer Niereninsuffizienz leiden, können diesen Defekt durch künstlich hergestelltes Erythropoietin ausgleichen.
Hannelore Ehrenreich vom Göttinger Max-Planck-Institut (MPI) für Experimentelle Medizin forscht seit über 15 Jahren an dem Hormon. Sie interessiert dabei besonders, welche Auswirkung Erythropoietin auf Patienten mit bestimmten Hirnkrankheiten hat. Dies können akute Störungen sein, wie beispielsweise ein Schlaganfall, oder chronische, etwa Multiple Sklerose oder Schizophrenie.
Die Liste der Wirkungen von EPO ist lang und hört sich vielversprechend an: Im Gehirn beugt das Hormon Entzündungen vor, weil es verhindert, dass Entzündungszellen die Blut-Hirn-Schranke passieren. Durch Apoptose, auch der programmierte Zelltod genannt, sterben normalerweise kranke oder alte Zellen ab, die dann durch neue ersetzt werden – ein lebenswichtiger Vorgang, durch den sich die Zellen des Körpers ständig erneuern. Ein Problem bei vielen Hirnkrankheiten ist, dass neben den kranken auch gesunde Nervenzellen durch Apoptose absterben. EPO verhindert dies, indem es bestimmte Protein-Kaskaden hemmt, die schließlich zum programmierten Zelltod, und dadurch zum Verlust gesunder Hirnmasse, führen würden. Ein weiterer Pluspunkt von EPO: Das Molekül erhält die Plastizität des Neuronennetzwerkes, weil es unter anderem neue und effektivere Verbindungen zwischen Nervenzellen schafft.
In einer klinischen Studie fand Ehrenreich heraus, dass EPO die kognitiven Fähigkeiten chronisch kranker Schizophrenie-Patienten erheblich verbessert. Zudem stellte die Wissenschaftlerin fest, dass bei den Probanden dank EPO weniger graue Hirnsubstanz abgebaut wird. Diese besteht aus Neuronen-Zellkörpern und umfasst die Bereiche des Gehirns, die beispielsweise an Sinneswahrnehmungen wie Sehen und Hören, aber auch an Gefühlen, Gedächtnisvorgängen und Sprache beteiligt sind.
Mehr Rezeptoren bei Sauerstoffmangel
"Ist ein Mensch gesund, sind an seinen Nervenzellen nur einige wenige EPO-Rezeptoren aktiv", erklärt Ehrenreich. Sobald das Gehirn aber in eine Notlage gerate, etwa durch Sauerstoffmangel oder einen Schlaganfall, schnelle die Zahl der EPO-Rezeptoren in die Höhe. "Die Nervenzellen können in der kurzen Zeit gar nicht so viel neues Erythropoietin produzieren, wie die vorhandenen Rezeptoren umsetzen könnten." Viele Rezeptoren blieben deswegen unbesetzt und hätten keine Auswirkungen auf die Nervenzelle. "Dank der Gabe von zusätzlichem, künstlichem Erythropoietin können mehr EPO-Moleküle wirken, die Nervenzellen sind besser geschützt."
Ähnliches konnte Hans-Günther Machens, Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am Klinikum rechts der Isar der TU München, bei EPO-Rezeptoren von Hautzellen nachweisen. Der Forscher untersucht mit seinem Team, inwieweit künstlich hergestelltes Erythropoietin die Heilung verletzter, insbesondere verbrannter Hautpartien vorantreibt. Wissenschaftler sprechen bei diesem Prozess von "Reepithelisierung", also von der Bildung neuer Haut. Machens und seine Kollegen transplantieren Patienten mit schweren Verbrennungen der Grade zwei und drei zunächst Eigenhaut und spritzen ihnen danach alle zwei Tage niedrig dosiertes Erythropoietin unter die Haut. Das Ergebnis: Sowohl die verbrannten Hautpartien als auch die Körperstellen, an denen Haut für die Transplantation entfernt wurde, heilen bei Patienten mit EPO-Behandlung schneller als bei Verbrennungsopfern, die nur ein Placebo bekommen haben. "Ähnlich wie im Gehirn sind auch EPO-Rezeptoren in der Haut im Normalzustand nur begrenzt aktiv", erklärt Machens. Wird die Haut aber verletzt, durch Verbrennung oder einen Schnitt, bilden sich mehr Rezeptoren an den Vorläuferzellen verschiedener Hautzellen. Binden nun EPO-Moleküle an diese Rezeptoren, differenzieren sich die Vorläuferzellen vermehrt zu Hautzellen – es entstehen neue, gesunde Hautschichten (Epidermis und Dermis). Machens setzt große Hoffnungen in die bisherigen Forschungsergebnisse. Sein Ziel: Die Therapie mit EPO soll in einigen Jahren bei allen Hautverletzungen eingesetzt werden können.
Mehr Todesfälle durch EPO-Behandlung?
Vor einem Jahr erlitten die EPO-Forscher allerdings einen herben Rückschlag. In einer Meta-Analyse trugen Wissenschaftler Daten von knapp 14 000 Patienten aus 53 Studien zusammen. Die Forscher wollten herausfinden, welchen Einfluss Erythropoietin auf Tumorpatienten mit Blutarmut hat. Das Ergebnis: In den mit EPO behandelten Gruppen starben 17 Prozent mehr Menschen als in den Kontrollgruppen, denen das Hormon nicht verabreicht wurde. Erhielten die Patienten neben EPO zusätzlich eine Chemotherapie, reduzierte sich die Prozentzahl auf zehn.
Grund für die erhöhte Sterblichkeit sei unter anderem die Gefahr, durch das zusätzlich verabreichte Hormon an einer Thrombose zu erkranken. Zudem vermuten die Wissenschaftler, dass "EPO Krebszellen zum Wachsen anregt". Die US-amerikanischen Zulassungsbehörden reagierten prompt auf die Ergebnisse und beschlossen, dass Tumorpatienten grundsätzlich nur dann mit Erythropoietin behandelt werden dürfen, wenn sie zudem eine Chemotherapie durchlaufen.
Hannelore Ehrenreich vom MPI in Göttingen nennt diese Bestimmung indessen "groben Unsinn" – zumindest für Patienten mit Hirntumoren. Die Wissenschaftlerin begründet ihre Meinung mit Ergebnissen, die sie aus Versuchen mit Glioblastomzellen, also Hirntumorzellen, erhalten hat. "Hirntumore können nur durch eine aggressive Bestrahlung zurückgedrängt werden. Dabei sterben aber nicht nur bösartige Krebszellen, sondern auch gesunde Neuronen ab", so Ehrenreich. Die Wissenschaftler hatten daher die Idee, die gesunden Hirnzellen während der Bestrahlung durch Erythropoietin zu schützen – EPO als Prophylaxe. Da das Hormon aber nicht nur zellschützend wirkt, sondern auch die Apoptose der Zellen im Hirn verhindert, überlebten sowohl gesunde als auch Tumorzellen. Deshalb rät Ehrenreich von einer Erythropoietin-Behandlung bei Chemopatienten mit Hirntumoren ab.
Das Ziel: Nebenwirkungen in den Griff bekommen
Der Einsatz von EPO bei Tumorpatienten bleibt also ein strittiges Thema. Auch Ehrenreich räumt ein: "EPO ist keine Substanz, die einfach nur sorglos eingesetzt werden kann. In den nächsten Jahren gilt es deshalb vor allem, Nebenwirkungen zu verstehen und in den Griff zu bekommen." Nichts desto trotz ist die Wissenschaftlerin von dessen positiver Wirkung auf Patienten mit Hirnerkrankungen überzeugt: Laut Ehrenreich ist EPO heute die einzige Substanz, die nachweislich schützend und regenerativ aufs menschliche Gehirn wirkt. "Im Sport ist der Missbrauch von EPO ein Skandal. In der Medizin jedoch ist das Hormon einer der großen Hoffnungsträger der Zukunft."
Laura Brockschmidt studiert Wissenschaftsjournalismus an der Hochschule Darmstadt.
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