Kolumne: Glück = V + L + W?
Ich bin von Natur aus Optimist. Fest davon überzeugt, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Und selbst wenn mal etwas schiefgeht, bin ich mir sicher: Das kriegen wir schon wieder hin. Zu Gute kommt mir diese Einstellung allerdings nicht immer. Zweimal hat es mich erwischt, als ich mit dem Fahrrad unterwegs war – zweimal bin ich durch eine Windschutzscheibe gestürzt. Wie sollte ich auch in meiner naiven Glückseligkeit auf den Gedanken kommen, dass sich an den Straßenkreuzungen, die ich hundertfach wohlbehalten überquert habe, plötzlich ein Auto aus dem Nichts materialisieren könnte?
Genau solche folgenreichen, unvorhersehbaren und seltenen Ereignisse bezeichnet der US-Autor, Wall-Street-Finanzmathematiker und Wissenschaftler Nassim Nicholas Taleb als "schwarze Schwäne" (siehe auch "Manche Schwäne sind grau", SdW März 2009). Anders gesagt: Wenn nur genügend Zeit vergeht, ist kein Aufwärtstrend vor einem jähen Einbruch gefeit.
Mit einem Arsenal wissenschaftlicher Fachbegriffe
Jüngst nun hat die investigative Journalistin Barbara Ehrenreich ihr Buch "Bright-Sided" veröffentlicht (Metropolitan Books, 2009, noch nicht auf Deutsch erschienen). Der schwarze Schwan, der als Fahrradunfall daherkam, kann nun als passende Metapher dafür gelten, was Ehrenreichs Ansicht nach mit den Vereinigten Staaten geschah, nachdem die Positive-Thinking-Bewegung geboren war. In "Bright-Sided" zeigt sie, wie die "positive Psychologie" in den USA der 1990er Jahre plötzlich eine Breitenwirkung entfaltete – damals, als die Wirtschaft Höhenflüge unternahm, die Immobilienpreise ebenso in die Höhe schossen und die Gurus des Positive Thinking ins Geschäft mit der Motivation einstiegen. Und als sich die Psychologen aus der akademischen Welt mit einem Arsenal wissenschaftlicher Fachbegriffe ausrüsteten, um ebenfalls mitzumischen.
Vorhersehbar datenarm, dafür reich an Anekdoten ist das seichte Kauderwelsch von Positive-Thinking-Pionieren wie Norman Vincent Peale (The Power of Positive Thinking, 1952; auf Deutsch als "Die Kraft positiven Denkens" erschienen) und Napoleon Hill (Think and Grow Rich, 1937; "Denke nach und werde reich"), von US-Fernsehpredigern (und Unternehmern) wie "Reverend Ike" oder Joel Osteen. Besseres sollte man indessen von angesehenen Experimentalpsychologen wie Martin E.P. Seligman erwarten können, der unter anderem Präsident der American Psychological Association war. Seligman hatte die Positive Psychology fast im Alleingang in die akademische Welt getragen. Laut der Webseite des Positive Psychology Center an der University of Pennsylvania, das er leitet, geht es in dieser Disziplin um "die wissenschaftliche Untersuchung von Stärken und Fähigkeiten, die der Entfaltung von Individuen und Gruppen förderlich sind".
Dem Zaubertrank allzu sehr zugesprochen
Ehrenreich nimmt das Positive Thinking und seine angeblich wohltuenden Folgen nun ganz systematisch unter die Lupe. Auf Wissenschaftlichkeit stößt sie dabei kaum, Evidenz ist Mangelware, die statistische Signifikanz erweist sich als gering. Die wenigen nennenswerten Ergebnisse lassen sich von späteren Untersuchungen entweder nicht reproduzieren oder werden durch sie widerlegt. Zudem sind Korrelationen – zwischen, sagen wir: Glück und Gesundheit – keine Kausalzusammenhänge. Seligman und seine Kollegen haben dem Zaubertrank des Positive Thinking allzu sehr zugesprochen, und Ehrenreich sorgt für Ernüchterung.
Man nehme nur Seligmans "Glücksgleichung": G = V + L + W. (Der Neid auf die Naturwissenschaften wird hier ganz offensichtlich ...) Glück ist also: erbliche Voraussetzungen plus die jeweiligen Lebensumstände plus die Faktoren, die dem eigenen Willen unterliegen. "Will man diese Gleichung ausrechnen", überlegt nun Ehrenreich, "benötigt man die selben Maßeinheiten: für Glück (glückliche Gedanken pro Tag?) ebenso wie für V, L und W." Als sie Seligman in einem Interview mit diesem Problem konfrontierte, "zog dieser ein finsteres Gesicht und erklärte mir, dass ich keine Ahnung von Beta-Gewichten hätte. Ich solle wieder nach Hause gehen und das erst einmal googeln." Das tat Ehrenreich und fand heraus, "dass Beta-Gewichte Koeffizienten von Prädikatorvariablen in einer Regressionsanalyse sind, wie man sie zum Auffinden statistischer Korrelationen zwischen Variablen benutzt. Aber Seligman hatte seine Formel als gewöhnliche Gleichung im Stile von E = mc2 präsentiert, nicht als allzu stark vereinfachte Regressionsanalyse. Damit machte er sich natürlich angreifbar für Fragen wie diese: Woher wissen wir, dass H eine schlichte Summe von Variablen ist und sich nicht aus einer komplexeren Beziehung herleitet, die möglicherweise auch Effekte zweiter Ordnung wie ... L mal W beinhaltet?" Und genau das wissen wir natürlich nicht. Damit aber ist die Gleichung nichts weiter als eine mit ein bisschen Mathematik aufgehübschte Phrase.
Ohne Rücksicht auf Gefühle
Ist positives Denken dem negativen Denken aber nicht doch vorzuziehen? Sicher – jedenfalls dann, wenn alle anderen Variablen konstant bleiben. Doch die wirkliche Alternative zu Optimismus oder Pessimismus ist schlicht der Realismus. "Der intellektuelle Fortschritt des Menschen ... ist Ergebnis seines langwierigen Kampfs darum, die Dinge so zu sehen, 'wie sie sind', oder zumindest so, wie sie in möglichst allgemeingültiger Weise verstehbar sind", sagt Ehrenreich; es gehe keineswegs darum, "einfach unsere eigenen Emotionen auf sie zu projizieren". Und sie fährt fort: "Unter Aufklärung – die in unserer Welt noch immer einen prekären Status besitzt – verstehen wir das langsam aufkeimende Verständnis dafür, dass sich die Welt gemäß ihren eigenen inneren Algorithmen von Ursache und Wirkung, Wahrscheinlichkeit und Zufall entwickelt, und all dies völlig ohne Rücksicht auf menschliche Gefühle."
Natürlich bleiben Gefühle weiterhin wichtig. Das wichtigste Grundprinzip des skeptischen Denkens lautet jedoch, dass wir uns nicht selbst übertölpeln sollen. Gefühle hingegen, ob negativ oder positiv, halten den Verstand zu oft zum Narren. Am Ende muss darum der Realitätssinn die Vorherrschaft übernehmen – und zwar ganz gleich, wie wir uns damit fühlen.
Der US-Amerikaner Michael Shermer ist Herausgeber der Zeitschrift Skeptic und Sachbuchautor.
Dieser Beitrag ist im Original im Scientific American erschienen.
Genau solche folgenreichen, unvorhersehbaren und seltenen Ereignisse bezeichnet der US-Autor, Wall-Street-Finanzmathematiker und Wissenschaftler Nassim Nicholas Taleb als "schwarze Schwäne" (siehe auch "Manche Schwäne sind grau", SdW März 2009). Anders gesagt: Wenn nur genügend Zeit vergeht, ist kein Aufwärtstrend vor einem jähen Einbruch gefeit.
Mit einem Arsenal wissenschaftlicher Fachbegriffe
Jüngst nun hat die investigative Journalistin Barbara Ehrenreich ihr Buch "Bright-Sided" veröffentlicht (Metropolitan Books, 2009, noch nicht auf Deutsch erschienen). Der schwarze Schwan, der als Fahrradunfall daherkam, kann nun als passende Metapher dafür gelten, was Ehrenreichs Ansicht nach mit den Vereinigten Staaten geschah, nachdem die Positive-Thinking-Bewegung geboren war. In "Bright-Sided" zeigt sie, wie die "positive Psychologie" in den USA der 1990er Jahre plötzlich eine Breitenwirkung entfaltete – damals, als die Wirtschaft Höhenflüge unternahm, die Immobilienpreise ebenso in die Höhe schossen und die Gurus des Positive Thinking ins Geschäft mit der Motivation einstiegen. Und als sich die Psychologen aus der akademischen Welt mit einem Arsenal wissenschaftlicher Fachbegriffe ausrüsteten, um ebenfalls mitzumischen.
Vorhersehbar datenarm, dafür reich an Anekdoten ist das seichte Kauderwelsch von Positive-Thinking-Pionieren wie Norman Vincent Peale (The Power of Positive Thinking, 1952; auf Deutsch als "Die Kraft positiven Denkens" erschienen) und Napoleon Hill (Think and Grow Rich, 1937; "Denke nach und werde reich"), von US-Fernsehpredigern (und Unternehmern) wie "Reverend Ike" oder Joel Osteen. Besseres sollte man indessen von angesehenen Experimentalpsychologen wie Martin E.P. Seligman erwarten können, der unter anderem Präsident der American Psychological Association war. Seligman hatte die Positive Psychology fast im Alleingang in die akademische Welt getragen. Laut der Webseite des Positive Psychology Center an der University of Pennsylvania, das er leitet, geht es in dieser Disziplin um "die wissenschaftliche Untersuchung von Stärken und Fähigkeiten, die der Entfaltung von Individuen und Gruppen förderlich sind".
Dem Zaubertrank allzu sehr zugesprochen
Ehrenreich nimmt das Positive Thinking und seine angeblich wohltuenden Folgen nun ganz systematisch unter die Lupe. Auf Wissenschaftlichkeit stößt sie dabei kaum, Evidenz ist Mangelware, die statistische Signifikanz erweist sich als gering. Die wenigen nennenswerten Ergebnisse lassen sich von späteren Untersuchungen entweder nicht reproduzieren oder werden durch sie widerlegt. Zudem sind Korrelationen – zwischen, sagen wir: Glück und Gesundheit – keine Kausalzusammenhänge. Seligman und seine Kollegen haben dem Zaubertrank des Positive Thinking allzu sehr zugesprochen, und Ehrenreich sorgt für Ernüchterung.
Man nehme nur Seligmans "Glücksgleichung": G = V + L + W. (Der Neid auf die Naturwissenschaften wird hier ganz offensichtlich ...) Glück ist also: erbliche Voraussetzungen plus die jeweiligen Lebensumstände plus die Faktoren, die dem eigenen Willen unterliegen. "Will man diese Gleichung ausrechnen", überlegt nun Ehrenreich, "benötigt man die selben Maßeinheiten: für Glück (glückliche Gedanken pro Tag?) ebenso wie für V, L und W." Als sie Seligman in einem Interview mit diesem Problem konfrontierte, "zog dieser ein finsteres Gesicht und erklärte mir, dass ich keine Ahnung von Beta-Gewichten hätte. Ich solle wieder nach Hause gehen und das erst einmal googeln." Das tat Ehrenreich und fand heraus, "dass Beta-Gewichte Koeffizienten von Prädikatorvariablen in einer Regressionsanalyse sind, wie man sie zum Auffinden statistischer Korrelationen zwischen Variablen benutzt. Aber Seligman hatte seine Formel als gewöhnliche Gleichung im Stile von E = mc2 präsentiert, nicht als allzu stark vereinfachte Regressionsanalyse. Damit machte er sich natürlich angreifbar für Fragen wie diese: Woher wissen wir, dass H eine schlichte Summe von Variablen ist und sich nicht aus einer komplexeren Beziehung herleitet, die möglicherweise auch Effekte zweiter Ordnung wie ... L mal W beinhaltet?" Und genau das wissen wir natürlich nicht. Damit aber ist die Gleichung nichts weiter als eine mit ein bisschen Mathematik aufgehübschte Phrase.
Ohne Rücksicht auf Gefühle
Ist positives Denken dem negativen Denken aber nicht doch vorzuziehen? Sicher – jedenfalls dann, wenn alle anderen Variablen konstant bleiben. Doch die wirkliche Alternative zu Optimismus oder Pessimismus ist schlicht der Realismus. "Der intellektuelle Fortschritt des Menschen ... ist Ergebnis seines langwierigen Kampfs darum, die Dinge so zu sehen, 'wie sie sind', oder zumindest so, wie sie in möglichst allgemeingültiger Weise verstehbar sind", sagt Ehrenreich; es gehe keineswegs darum, "einfach unsere eigenen Emotionen auf sie zu projizieren". Und sie fährt fort: "Unter Aufklärung – die in unserer Welt noch immer einen prekären Status besitzt – verstehen wir das langsam aufkeimende Verständnis dafür, dass sich die Welt gemäß ihren eigenen inneren Algorithmen von Ursache und Wirkung, Wahrscheinlichkeit und Zufall entwickelt, und all dies völlig ohne Rücksicht auf menschliche Gefühle."
Natürlich bleiben Gefühle weiterhin wichtig. Das wichtigste Grundprinzip des skeptischen Denkens lautet jedoch, dass wir uns nicht selbst übertölpeln sollen. Gefühle hingegen, ob negativ oder positiv, halten den Verstand zu oft zum Narren. Am Ende muss darum der Realitätssinn die Vorherrschaft übernehmen – und zwar ganz gleich, wie wir uns damit fühlen.
Der US-Amerikaner Michael Shermer ist Herausgeber der Zeitschrift Skeptic und Sachbuchautor.
Dieser Beitrag ist im Original im Scientific American erschienen.
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