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Energiewende: Damit das Netz nicht reißt

Viele kleine Stromproduzenten und eine starke Nachfrage durch E-Autos und Wärmepumpen belasten das Netz. Im Notfall muss der Strombezug reduziert werden. Um das zu verhindern, könnten Stromspeicher und Elektrofahrzeuge eingespannt werden. Doch das ist nicht so einfach.
zwei Strommasten im Gewitter, Blitze am himmel
Hohe Lasten belasten das Stromnetz stark. Eine Reihe von Maßnahmen soll es stabil halten.

Kaum ein Werbeclip für die Energiewende kommt ohne diese Szene aus: Auf die Dächer einer Reihe von Niedrigenergiehäusern schmiegen sich schwarze Platten von Fotovoltaikanlagen, in den Einfahrten stehen E-Autos, angeleint an die jeweiligen Stromanschlüsse. Wer würde annehmen, dass diese Mustersiedlung das Stromnetz gefährden kann? Aber das Risiko besteht. Je mehr Großkraftwerke wegfallen und durch Solar- oder Windkraftanlagen ersetzt werden, je mehr Leistung private Abnehmer mit E-Fahrzeugen und Wärmepumpen aus dem Stromnetz ziehen, desto fragiler wird es. Forscher arbeiten an verschiedenen Optionen, um das Netz dennoch stabil zu halten.

Themenwoche: Stromnetze der Zukunft

Unsere Stromversorgung ändert sich – und mit ihr die Anforderungen an das Netz. Wir beleuchten in dieser Themenwoche die spannendsten Aspekte zur Zukunft unserer Stromversorgung.

Energiewende: Damit das Netz nicht reißt
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Alle Artikel zur Themenwoche »Stromnetz der Zukunft« finden Sie auf unserer Themenseite »Energie«.

Das Energiesystem ist in mehreren Ebenen organisiert. Die oberste, das nationale beziehungsweise europäische Verbundnetz ist bekannt: Kraftwerke speisen Strom ein, der über viele Kilometer dorthin übertragen wird, wo er benötigt wird. Über Verteilnetze kommt er schließlich zu den Verbrauchern. Sie betreiben damit beispielsweise Waschmaschinen, Wasserkocher oder Fernsehapparate.

So weit das herkömmliche Konzept – doch das ändert sich gerade gravierend, spürbar bis hinunter zu den lokalen Verteilnetzen. Die Kabel sind nicht länger Einbahnstraßen, die Strom zu den Kunden bringen. Wer eine Fotovoltaikanlage (PV-Anlage) auf dem Dach hat, schickt Sonnenstrom auch in der Gegenrichtung durch die Nachbarschaft. Das größere »Verkehrsaufkommen« belastet die »Wege« und »Kreuzungen«, sprich Kabel und Transformatoren.

»In der Vergangenheit wurden Anschlüsse für Häuser oder Wohnungen für eine Leistung von ein bis zwei Kilowatt geplant«, erläutert Christian Rehtanz von der Technischen Universität Dortmund. Es sei ein Mittelwert, bei dem man davon ausgehe, dass kein Haushalt alle verfügbaren Geräte zugleich anschaltet. »Nun ändern sich aber die Lasten«, sagt der Energieforscher. Da komme vielleicht ein E-Auto dazu, das mit elf Kilowatt (kW) laden will und eine Wärmepumpe, die fünf bis sieben kW fordert. »Das ist ein Vielfaches dessen, wofür der Hausanschluss einmal ausgelegt worden ist.« Sind solche Spitzenverbraucher aktiv, fließt ein großer Strom. In der Folge sackt die Spannung ab, oder die Leitungen werden heiß.

Die gefürchtete Zahnarzt-Allee

Die Probleme an einem Haus können sich innerhalb der Siedlung vervielfachen. Der Extremfall wird gelegentlich überspitzt als »Zahnarzt-Allee« skizziert: Dort wohnen viele gut Betuchte, die am Sonntagabend alle vom Golfspielen nach Hause kommen und gleichzeitig ihre E-Fahrzeuge ans Stromnetz anschließen, vielleicht noch den Backofen und die Sauna einschalten. Schlimmstenfalls gehen dann wegen Überhitzung die Kabel in der Straße kaputt – oder auch Geräte in den Ortsnetzstationen, den Trafohäuschen.

»Die Netzbetreiber müssen abschätzen, wie oft es zu dieser gefürchteten Gleichzeitigkeit kommt«, sagt Rehtanz. »Und entscheiden, ob sie ihre Anlagen entsprechend ausbauen oder in Kauf nehmen, dass es in seltenen Fällen Abschaltungen gibt.«

Mehr als eine halbe Billion Euro für den Netzausbau

Neu verlegte Kabel seien ausreichend dimensioniert, führt Rehtanz aus. Problematisch sei das Bestandsnetz, wo sich bei jedem Abschnitt die Frage stelle, ob er mit den gestiegenen Anforderungen zurechtkomme. Oder ob die Straße aufgebaggert und neue Leitungen verlegt oder Netzstationen mit stärkeren Trafos ausgestattet werden müssen. Die Kosten für solche Modernisierungen sind enorm. Für die Verteilnetze wird bundesweit ein Investitionsbedarf von 200 Milliarden Euro geschätzt, hinzu kommen 328 Milliarden für die Übertragungsnetze (Stromautobahnen).

Denn der Effekt der Zahnarzt-Allee könnte künftig häufiger auftreten, warnt Rehtanz: »Wenn der Strompreis niedrig ist, etwa an einem windigen Tag, gibt der Versorger ein Signal. Dann schaltet das Energiemanagement im Haus Waschmaschine, Wärmepumpe und so weiter an«, skizziert er. »Wenn bei den Nachbarn das Gleiche geschieht, wird das Netz überlastet und der Betreiber vor Ort schaltet notfalls ab.« Auch umgekehrt steigt beim Einspeisen die Stromlast mit jeder zusätzlichen Solaranlage, werden gefährliche Gleichzeitigkeiten häufiger.

Gleichzeitigkeit | Speisen viele Haushalte zur gleichen Zeit Strom aus der eigenen PV-Anlage ins Netz, kann das die Kabel übermäßig belasten. Das Stromnetz ist für die Energiewende nicht gut gerüstet.

Daher prüfen Netzbetreiber genau, ob neue PV-Anlagen angeschlossen werden können oder ob vorher weitere Ausbauten nötig sind. Das dauert im Schnitt drei Monate, wie der Bundesverband Erneuerbare Energie e. V. (BEE) auf Anfrage von »Spektrum« mitteilt. Im Frühjahr 2024 haben Politik und Wirtschaft Mechanismen vereinbart, um diese Prüfung zu beschleunigen, so sollen etwa Kapazitäten vorgehalten und universelle Fristen eingeführt werden. »Problematisch bleibt jedoch die lange Zeit bis zum Wirkungsbeginn dieser Mechanismen, also bis die gesetzlichen Regelungen tatsächlich verpflichtend werden«, erläutert der BEE. »Zudem verschärfen Personalmangel und fehlende Digitalisierung der Prozesse bei den Verteilnetzbetreibern die Situation.«

Einschnitte bei der Stromversorgung

Sollte es dennoch Engpässe im Netz geben, darf der Betreiber seit Jahresbeginn 2024 die Stromlieferung auf bis zu 4,2 kW reduzieren, um eine Überlastung abzuwenden. »Diese Mindestleistung muss immer zur Verfügung stehen, so dass Wärmepumpen betrieben und E-Autos weiter geladen werden können«, erklärt die Bundesnetzagentur. »Der reguläre Haushaltsstrom ist davon nicht betroffen. Im Gegenzug erhalten Verbraucher eine Netzentgeltreduzierung.«

Bevor man von einer solchen Zwangsmaßnahme betroffen ist, könnte man auch seine PV-Anlage samt Stromspeicher aktiv anbieten, um Engpässe zu umgehen. Dieses Konzept verfolgt beispielsweise das Unternehmen Sonnen aus dem Allgäu. Es verkauft Stromspeicher mit der Option, diese an den Strommarkt zu bringen. Dazu werden die Leistungen der einzelnen Anlagen gebündelt, so dass sie als virtuelles Kraftwerk im Megawattbereich agieren. Das virtuelle Kraftwerk macht kurzfristig so genannte Regelleistung verfügbar, um das Netz stabil zu halten, sowie Strom, der an der Börse gehandelt wird und in bestimmten Zeitfenstern geliefert werden muss.

»Diese Mindestleistung muss immer zur Verfügung stehen, so dass Wärmepumpen betrieben und E-Autos weiter geladen werden können«Bundesnetzagentur

Heimspeicher sollen Schwankungen ausgleichen

Technisch braucht es dafür ein intelligentes Messsystem sowie eine Internetverbindung. Es übermittelt an das Unternehmen, wie viel Energie verfügbar ist, und nimmt entsprechende Schaltanweisungen für den Batteriespeicher im Haus entgegen. Rund 25 000 Kunden hätten sich für diese Option entschieden, sagt Mathias Bloch von Sonnen. Sie motiviere der finanzielle Anreiz und auch »der Gedanke, etwas mehr zu tun und mit anderen gemeinsam die Energiewende voranzubringen«.

Dem entgegen steht die zusätzliche Beanspruchung der Batterie durch häufigeres Be- und Entladen. »Wir garantieren, dass nach 10 000 Zyklen noch 80 Prozent Kapazität vorhanden sind«, sagt Bloch. Allein mit Eigenverbrauch erreiche man binnen zehn Jahren lediglich rund 2500 Zyklen. »Wird zudem Regelleistung angeboten, merkt man das ein kleines bisschen, aber es fällt nicht ins Gewicht.«

Deutschland ist aufgeteilt unter 865 Netzbetreibern

In den lokalen Verteilnetzen könnten die Speicher ebenso eingesetzt werden, um Engpässe abzumildern, meint Bloch. Dafür gebe es bisher aber keinen Marktmechanismus. Überhaupt habe das Konzept ziemlich mit Bürokratie zu kämpfen. »Jede einzelne Anlage muss zur Direktvermarktung beim örtlichen Netzbetreiber angemeldet werden.« Davon gebe es bundesweit 865, jeder mit individuellen Anforderungen und verschiedenen Bearbeitungszeiten, die sich teils über ein halbes Jahr erstrecken. Zudem mangele es an intelligenten Messstellen in den Haushalten. »Länder wie Schweden oder Belgien sind weiter, dort geht es wesentlich schneller, virtuelle Kraftwerke aufzubauen.«

Daniel Zahn vom Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE in Kassel sieht Batteriehersteller wie Sonnen im Vorteil. »Sie haben durch den Aufbau des Speichers bereits eine Schnittstelle mit der jeweiligen Anlage, über die Informationen ausgetauscht werden.« Ein virtuelles Kraftwerk mit vergleichsweise kleinen Akteuren im Nachhinein aufzubauen, lohne hingegen kaum: »Sobald man einen Techniker an so eine Kleinstanlage rausschicken muss, um zusätzliche Steuergeräte zu installieren, wird das Ganze zu teuer.«

Die intelligente Messstelle mit einer Kommunikationseinheit namens Smart Meter Gateway könnte diese Hürde senken. Alle Haushalte in Deutschland sollen solche digitalen Stromzähler erhalten, allerdings werden sie voraussichtlich erst 2032 flächendeckend im Einsatz sein. Energietechnikexperten seien skeptisch, ob das System tatsächlich dazu verhilft, alsbald viele Anlagen zu verknüpfen, berichtet der Fraunhofer-Forscher. »Herstellerspezifische Systeme, wie sie etwa in E-Autos verbaut sind, könnten eher zum Erfolg führen.« Damit ließen sich einerseits die nötigen Daten der Akkus erfassen und diese andererseits gezielt steuern.

Hier stellt sich aber auch die Frage, wie beispielsweise Besitzer von E-Autos motiviert werden, ihr Fahrzeug als Entlastung für das Stromnetz bereitzustellen – sie »netzdienlich« einzusetzen, wie Fachleute sagen. Auch Zahn ist überzeugt, dass finanzielle Anreize dabei helfen. Dazu gehören dynamische Stromtarife sowie zeitabhängige Netzentgelte, die ab dem Frühjahr 2025 kommen sollen. »Dieses Momentum ist jetzt da und sollte genutzt werden.«

»Es ist komplex, die einzelnen Komponenten in einem zentralen Steuersystem zu vernetzen«Florian Klausmann, Physiker

Eine weitere Option besteht darin, den Stromfluss »vor dem Zähler« gering zu halten und die Energie im eigenen Haushalt oder Unternehmen bestmöglich zu verteilen. So wird das Netz weniger belastet und man spart Netzentgelte. Im Eigenheim kann das mit einem Speicher für Solarstrom geschehen, bei Firmen oder Institutionen ist es komplizierter. Dort müssen beispielsweise PV-Anlagen, Speicher und mehrere E-Fahrzeuge verknüpft werden. Solche »Micro Smart Grids« werden unter anderem am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart erforscht. »Es ist komplex, die einzelnen Komponenten in einem zentralen Steuersystem zu vernetzen«, sagt Florian Klausmann. Dabei geht es nicht nur um die Technik. Zu den aktuellen Forschungsfragen gehört, wie dynamische Strompreise an diejenigen, deren Fahrzeuge laden, weitergegeben werden – oder wie man CO2-Einsparungen richtig erfasst und verbucht.

Wie in Micro Smart Grids könnten E-Autos auch für das öffentliche Stromnetz als Speicher dienen, um Schwankungen auszugleichen. Immerhin gibt es mittlerweile rund 1,6 Millionen davon in Deutschland, viele weitere sollen folgen. In der Praxis erweist sich die »vehicle-to-grid technology« als schwierig, wie Marc Schmid, ebenfalls am Fraunhofer IAO in Stuttgart, sagt. »Fahrzeuge und Ladeboxen müssen entsprechend ausgerüstet sein, vor allem ältere Modelle können das nicht.« Das System muss wissen: Ist das Auto mit der Ladebuchse verbunden? Wie ist der Füllstand der Batterie? Wie viel darf für welchen Zeitraum entnommen werden? Welche Ladeleistung ist möglich?

Diese Informationen werden nicht vom Smart Meter Gateway übertragen, denn dieses könne Geräte nur ein- und ausschalten, sagt Schmid. Es brauche daher zusätzliche Hard- und Software, um E-Autos für die Netzstabilisierung zu nutzen. Die örtlichen Netzbetreiber dürften sich damit kaum befassen, meint der Forscher. »Die sind bereits mit dem Herunterregeln gut beschäftigt.« Stattdessen müssten das andere Firmen übernehmen.

E-Lkw als Zwischenspeicher

Die Technologie des bidirektionalen Ladens wird in diversen Projekten erforscht, teils herstellerspezifisch, teils übergreifend oder auch mit besonderem Fokus auf E-Lastwagen, die über größere Akkus verfügen. Ob sie sich durchsetzt, hängt unter anderem davon ab, wie hoch die Einnahmen sind – schließlich kosten die spezialisierten Ladeanschlüsse mehr als üblich, hinzu kommt der höhere Verschleiß der Batterien.

Wie oft Netzbetreiber die Stromlieferungen für Kunden bereits gedrosselt haben, um das Netz zu stabilisieren, ist unklar. »Erst ab März 2025 sind sie verpflichtet, Informationen zu durchgeführten Leistungsreduzierungen auf einer gemeinsamen Internetseite zu veröffentlichen«, teilt die Bundesnetzagentur mit. Die Zahl dürfte gering sein. »Bislang sind keine Steuerungen erforderlich gewesen«, antwortet etwa die Bayernwerk Netz GmbH aus Bayreuth. »Ein Eingriff ist bei einem weiter starken Hochlauf von Wärmepumpen und Ladeeinrichtungen in einzelnen Netzen jedoch temporär nicht auszuschließen.«

Christian Rehtanz von der TU Dortmund hält das für verkraftbar. »Wie bei allen Infrastrukturen gilt: Ressourcen sind endlich«, sagt er und vergleicht den Strombezug mit einer Zugreise. Es könne nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Sitzplatz im ICE garantiert werden. »Entscheidend ist, dass die Bahn fährt.« Zur Not erreiche man sein Ziel auch im Stehen. Für auf den Strom bedeutet das: Hauptsache er fließt, auch wenn einzelne Verbraucher in Ausnahmefällen etwas weniger bekommen als üblich.

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