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Zufall und Chaos


Das Buch des Mathematikers und theoretischen Physikers David Ruelle ist amüsant und lehrreich. Amüsant, weil es aus der seltsamen Welt der Mathematiker berichtet, und lehrreich, weil es die Grundideen schwieriger Theorien einfach darstellt. Die Anwendungen auf Turbulenz, Ökonomie, die Tore zur Hölle, algorithmische Komplexität und die wahre Bedeutung von Sex sind dann beides – amüsant und lehrreich. Demjenigen, der nachzudenken bereit ist, verschafft die Lektüre überraschende Einsichten. Die wenigen Gleichungen des Textes können Ungeübte ohne Verständnisverlust überschlagen. Wer tiefer eindringen will, wird die mathematischen Beweise und Literaturangaben der Anmerkungen begrüßen.

Zunächst zum Amüsanten. Ruelle, Professor am Institut des Hautes Études Scientifiques in Bures-sur-Yvette bei Paris, arbeitet am liebsten flach auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen. In dieser Lebenslage leistet er allerschwerste Arbeit. Ich denke, daß jeder, der überhaupt zu dem Buch greift, ihm das abnehmen wird – nicht aber unser aller Finanzamt, das ein Arbeitszimmer mit Sofa nicht als solches anerkennt.

Aus dem Nähkästchen plaudert Ruelle auch, wenn er schildert, wie Autoren und Gutachter wissenschaftlicher Zeitschriften um Veröffentlichungen feilschen und aneinander kein gutes Haar lassen. Zustimmend kolportiert er den Ausspruch eines bekannten russischen Mathematikers, die normale psychologische Entwicklung einer Person komme dann zum Stillstand, wenn sich in jungen Jahren das mathematische Talent entwickelt. Einem – ungenannten – Mathematiker-Kollegen schreibt er ein mentales Alter von sechs Jahren zu.

Nun zum Lehrreichen. Ruelles Buch unterscheidet sich von vielen anderen mit verwandten Themen dadurch, daß es Grundbegriffe wie Zufall, Wahrscheinlichkeit, Determinismus, Chaos, ja sogar Entropie, Irreversibilität und Information wirklich begreifbar macht.

Was meinen wir, wenn wir in einer deterministischen Welt vom Zufall sprechen? Den Verlust der Langzeit-Vorhersagbarkeit durch Chaos. Ruelle zitiert den französischen Mathematiker und Physiker Henri Poincaré (1854 bis 1912), der um die Jahrhundertwende wesentliche Grundlagen der Theorie erarbeitete, mit einem „knackigen Satz“, in welchem er Zufall und Determinismus miteinander versöhnt: „Eine sehr kleine Ursache, die uns entgehen mag, bewirkt einen beachtlichen Effekt, den wir nicht ignorieren können, und dann sagen wir, daß der Effekt auf Zufall beruht.“

Wenn wir vom Zufall sprechen können, dann auch von Wahrscheinlichkeiten. Die zeitliche Entwicklung eines Systems kann mit einem sehr unwahrscheinlichen Zustand beginnen – wir haben die Freiheit, einen solchen zu präparieren; sich selbst überlassen, wird es ihn aber praktisch nie annehmen. So pflegt die Physik das Paradox zu erklären, daß zeitliche Entwicklungen irreversibel sind, obgleich die physikalischen Grundgesetze unverändert bleiben, wenn man Vergangenheit und Zukunft vertauscht. Ruelle fügt dem die Bemerkung hinzu, daß auch eine für Chaos typische empfindliche Abhängigkeit der Entwicklung von den Anfangsbedingungen in dieselbe Richtung wirkt. Auf jeden Fall wächst die Entropie, das Maß für die innere Unordnung eines Systems.

Greift man bei großer Entropie einen Zustand des Systems heraus, so hat dieser einen großen Informationsgehalt. Ruelle erläutert den Informationsbegriff am Beispiel des genetisch fixierten Bauplans eines Virus, der etwa 10000 Buchstaben aus einem Vierbuchstabenalphabet lang ist. Nachrichten dieser Länge gibt es mehr als Atome im ganzen bekannten Universum. Information ist auch der Schlüsselbegriff für die sich anschließende Definition von Komplexität.

Es gibt bei Ruelle trotz weitreichender Schlüsse kein Hopplahopp über Unverstandenes hinweg, und wenn Fragen offen sind, sagt Ruelle das. Aus einem Schwarzen Loch – sein Rand ist mit dem „Tor zur Hölle“ gemeint – gibt es kein Entrinnen. Das kann aber nicht die ganze Wahrheit sein. Wäre sie es, könnten wir Ordnung schaffen, indem wir Ungeordnetes in das Schwarze Loch hineinwerfen. Dann würde insgesamt gesehen die Ordnung wachsen, und das widerspricht dem Entropie-Satz, ist also unmöglich. Folglich strahlen Schwarze Löcher.

Amüsant und lehrreich zu lesen ist auch, wie ein Teufelchen den Lebensplan des Lesers dadurch durcheinanderbringt, daß es die Wirkung der Schwerkraft eines Elektrons am Rande des beobachtbaren Universums auf ein Luftmolekül hier auf Erden für einen Augenblick außer Kraft setzt. Ruelle wendet sich mehrmals direkt an den Leser, bezieht ihn ein und macht so drastisch klar, was abstrakte Überlegungen tatsächlich bedeuten.

Ich habe das erfreulich kurze Buch mit großem Vergnügen gelesen und empfehle es jedem, der Spaß an spielerisch vorgetragenen, genauen Überlegungen hat. Es schlägt die Brücke von einfachen Grundideen zu komplizierten Anwendungen und vermittelt auf amüsante Weise weitgehende Einsichten in Aspekte der modernen Mathematik und Physik.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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