Direkt zum Inhalt

Lebensstandard und Lebenserwartung

Herkömmliche Kriterien wie Bruttoinlandsprodukt und Zahlungsbilanz sagen oft zu wenig über die tatsächliche Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft aus. Als wichtige Ergänzung der ökonomischen Analyse erweisen sich Sterblichkeitsdaten.

In der Volkswirtschaftslehre geht es nicht nur um Einkommen und Besitz, sondern auch um die Frage, wie man diese Ressourcen für wichtige Ziele sinnvoll einsetzt. Dazu gehört vor allem ein langes und menschenwürdiges Leben. Dieses Ziel bleibt allerdings unbeachtet, wenn man – wie dies nur allzuoft geschieht – den wirtschaftlichen Erfolg einer Nation nur an den traditionellen Indikatoren für materiellen Lebensstandard und gesunde Finanzen mißt; das Gesamtbild einer Volkswirtschaft gewinnt erst präzisere Konturen, wenn man ihre Fähigkeit bewertet, das Leben zu verlängern und seine Qualität zu steigern.

Obwohl heute in der Welt ein historisch beispielloser Wohlstand vorhanden ist, gibt es vielerorts Hungersnöte oder chronischen Nahrungsmangel. Noch immer sind vermeidbare Krankheiten und Todesfälle nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in Industrieländern weit verbreitet. Diese Probleme hängen, wie seit alters bekannt, insbesondere mit ökonomischen Verhältnissen zusammen; doch die Vor- und Nachteile alternativer Wirtschaftskonzepte vermag man erst richtig einzuschätzen, wenn man die herkömmlichen Kennziffern durch statistische Daten ergänzt, die noch enger mit dem Wohlergehen verknüpft sind.

Beispielsweise kann ein Land ein viel höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung aufweisen als ein anderes, zugleich aber eine viel geringere durchschnittliche Lebenserwartung, weil seine Bürger kaum Zugang zu medizinischer Versorgung und Schulen haben. Mit Mortalitätsdaten lassen sich also politische Maßnahmen bewerten und wichtige Faktoren wirtschaftlicher Verelendung herausfinden – und zwar sowohl bei einzelnen Nationen als auch bei speziellen Gruppen innerhalb eines Landes.

Der Wert von Sterblichkeitsstatistiken ist an Problemen aus aller Welt zu illustrieren. Dazu gehören etwa verheerende Hungersnöte, die selbst dort auftreten, wo ausreichend Nahrung vorhanden ist, des weiteren geringe Lebenserwartung in Staaten mit hohem Bruttoinlandsprodukt, erhöhte Mortalität bei Frauen in einigen Teilen Asiens und Afrikas und schließlich die sehr kurze Lebensspanne von Afro-Amerikanern – nicht nur im Vergleich mit den Weißen in den USA, sondern sogar gegenüber der Bevölkerung einiger extrem armer Länder.

Ursachen des Hungers

Oft sucht man die ökonomische Erklärung für Mangel an Lebensmitteln in Maßzahlen ihrer Produktion und Verfügbarkeit. Die staatliche Politik stützt sich dabei häufig auf die Gesamtstatistik der pro Person verfügbaren Nahrungsmenge; diesen Indikator führte bereits der englische Nationalökonom Thomas Robert Malthus (1766 bis 1834) ein. Entgegen der landläufigen Meinung kann eine Hungersnot aber auch dann ausbrechen, wenn diese generelle Rechnung aufgeht – sie kann fälschlich Sicherheit signalisieren und die Regierung geradezu daran hindern, gegen regionale Unterversorgung vorzugehen; außerdem werden dadurch Hilfsmaßnahmen des Auslands verzögert und fehlgeleitet.

Um das Hungerproblem besser zu verstehen, muß man sowohl die Wege untersuchen, auf denen Nahrungsmittel beschafft und verteilt werden, als auch die Unterschiede der Mengen, auf die verschiedene Teile der Gesellschaft Zugriff haben. Womöglich hat ein beträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung nicht mehr genug Geld oder andere Mittel, sich Nahrung zu verschaffen. Die Ursache mag Arbeitslosigkeit sein, Kaufkraftverlust der Löhne oder eine Verschiebung der Tauschrate zwischen angebotenen Waren und Dienstleistungen einerseits und benötigten Lebensmitteln andererseits. Man muß also die wirtschaftlichen Prozesse kennen, von denen die Fähigkeit einer bestimmten Gruppe zur Grundversorgung abhängt, um gezielt dem Elend abhelfen zu können.

Die Hungersnot von 1974 in Bangladesch lehrt dies exemplarisch. In jenem Jahr war dort die pro Kopf verfügbare Lebensmittelmenge groß – ja sogar wegen der besonders guten vorhergegangenen Ernte größer als in jedem anderen Jahr zwischen 1971 und 1976 (Bild 2). Doch zwischen Ende Juni und August störten oder verhinderten Überschwemmungen im nördlichen Landesteil die Reispflanzung (das Umsetzen aus den verstreut liegenden Anzuchtbeeten in die geordneten Naßfeldreihen) und andere landwirtschaftliche Tätigkeiten. Die Landarbeiter, die gewöhnlich von der Hand in den Mund leben, fanden keine Anstellung und konnten kaum mehr Lebensmittel kaufen.

Panik verschlimmerte die Lage noch. Obwohl die ausgebrachten Pflanzen von den Wassermassen nur teilweise geschädigt waren und zu erwarten stand, daß sie größtenteils im Dezember erntereif würden, trieben Spekulations- und Hamsterkäufe im ganzen Land die Preise von Reis und anderem Getreide hoch, während die Kaufkraft der armen Bangladeschis vollends verfiel. Im Oktober erreichte nicht nur die Teuerung Spitzenwerte, sondern auch die Zahl der Verhungerten.

Erst jetzt griff die Regierung zu breitangelegten Hilfsmaßnahmen. Verspätet reagierte sie unter anderem, weil erwarteter Nachschub ausfiel – die USA hatten ihre Nahrungsmittellieferungen wegen eines Streits um den Jute-Export Bangladeschs nach Kuba eingestellt. Doch eines der größten Hindernisse war vermeintliche Sicherheit aufgrund der günstigen Angebotsstatistik.

Sobald die Unterstützungsprogramme anliefen, schätzte der Markt auch die Winterernte realistischer ein: Anfang November begannen die Nahrungsmittelpreise zu fallen, und bis Ende des Monats konnten die meisten Hilfszentren geschlossen werden. Die Hungersnot war eigentlich schon vorbei, bevor die tatsächlich nur teilweise geschädigte Ernte termingerecht eingebracht wurde.

Dieser Ablauf der Ereignisse erweist deutlich, wie verhängnisvoll es sein kann, sich einzig und allein auf die generellen Zahlenwerte der vorhandenen Nahrungsmenge zu verlassen. Lebensmittel sind niemals völlig gleichmäßig unter der Bevölkerung aufgeteilt; außerdem werden Vorräte der Erzeuger und des Handels je nach Gewinnerwartung und vermuteten Preisänderungen auf den Markt gebracht oder gehortet.

Oft haben Hungersnöte stattgefunden, ohne daß die nationale Statistik einen nennenswerten Rückgang des Nahrungsmittelangebots angezeigt hätte. Zum Beispiel trieb 1943 in Bengalen, dem fruchtbaren Ganges-Tiefland, letztlich die gesunkene Kaufkraft der Löhne die Landarbeiter massenweise in den Tod. Auch die Bevölkerung der äthiopischen Provinz Wollo verarmte 1973, und zwar durch eine starke, örtlich begrenzte Dürre, ohne daß dabei die gesamte Nahrungsmittelproduktion des Landes wesentlich zurückgegangen wäre; doch wegen des regionalen Preisverfalls wurde sogar ein Teil der Vorräte in wohlhabendere Gebiete verkauft (schon in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte man Nahrungsmittel aus dem infolge von Übervölkerung, Unruhen und Mißernten verhungernden Irland ins florierende England verschifft).

Maßnahmen gegen den Hunger

Hungersnöte lassen sich auf unterschiedliche Art verhindern. In Afrika und Asien wäre es offensichtlich sinnvoll, mehr Nahrungsmittel anzubauen – nicht nur, weil dadurch der Lebensunterhalt billiger würde, sondern auch, weil die ländlichen Bevölkerungen besser verdienen könnten. Das setzt freilich gezielt gesetzte Anreize voraus, die Investitionen in die Landwirtschaft überhaupt erst lohnend machen. Erforderlich wären auch staatliche Begleitmaßnahmen wie ausgedehnte Bewässerung und das Fördern angemessener technischer Innovationen (was in Afrika weitgehend vernachlässigt wird).

Doch verstärkte Agrarproduktion ist keine Patentlösung. Wenn man die nationalen Ressourcen allzu stark auf dieses Ziel konzentriert, kann sich die unbeständige Witterung sogar noch verheerender auswirken. In Afrika ist es insbesondere südlich der Sahara dringend geboten, die Wirtschaft zu diversifizieren und unter anderem allmählich die industrielle Fertigung auszubauen. Wie auch immer die Menschen die ökonomischen Mittel erlangen – es kommt darauf an, daß sie sich Nahrung kaufen können, notfalls im Ausland.

Gleichwohl werden in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern weiterhin Überschwemmungen, Dürren und andere Naturereignisse die Lebensgrundlage von Millionen Menschen vernichten. Dann lassen sich Hungersnöte nur vermeiden, indem man die Kaufkraft der am schlimmsten betroffenen Gruppen hebt. Öffentliche Beschäftigungsprogramme schaffen rasch sichere Einkommen, und die neu eingestellten Arbeiter können mit um das gesamte Nahrungsmittelangebot konkurrieren. Zwar steigert man mit der Gesamtnachfrage auch die Inflationsrate. Dieser Preisanstieg kann aber sogar vorteilhaft sein, denn er zwingt weniger betroffene Gruppen, ihren Verbrauch einzuschränken. Dadurch wird der Mangel gleichmäßiger verteilt und möglicherweise eine Hungersnot verhindert.

Öffentliche Arbeitsprogramme zur Abwendung einer Katastrophe bedeuten für die Regierung eines armen Landes in der Regel keine außergewöhnliche finanzielle Belastung. Selbst wenn die absolute Anzahl der vom Verhungern Bedrohten hoch ist, handelt es sich meist nur um einen Bruchteil der Bevölkerung – normalerweise weniger als 5 bis allenfalls 10 Prozent; und ihr Anteil an Einkommen und Nahrungsverbrauch macht oft nur 2 bis 4 Prozent aus. Darum ermöglichen ihnen relativ geringe Mittel ein Auskommen während der akuten Notsituation.

Wie erfolgreich öffentliche Beschäftigungsprogramme dem Hunger vorbeugen können, läßt sich gut belegen. Im indischen Bundesstaat Maharaschtra hatten schwere Dürren zwischen 1972 und 1973 hohe Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft und eine Halbierung des Ernteertrags zur Folge (Bild 3). Staatliche Projekte – zum Beispiel der Bau von Straßen und Brunnen – retteten die betroffene Bevölkerung. Obwohl damals pro Kopf weitaus weniger Nahrungsmittel verfügbar waren als in den Ländern der Sahelzone (Burkina Faso, Mauretanien, Mali, Niger, Tschad und Senegal), verhungerte in Maharaschtra kaum jemand. Hingegen starben in der Sahelzone viele Menschen, weil der Mangel nicht so gleichmäßig verteilt wurde.

Daß Indien in den letzten Jahren vor massenhaftem Tod im Elend verschont blieb, ist vor allem solchen Methoden zu verdanken. Die letzte große Hungersnot machte das Land 1943 durch, vier Jahre vor der Unabhängigkeit. Obwohl es 1967, 1973, 1979 und 1987 durch Naturkatastrophen zu drastischen Versorgungsengpässen kam, konnte der bedrohten Bevölkerung das Nötigste an Kaufkraft gesichert werden.

Die Methode Brot durch Arbeitsbeschaffung unterscheidet sich von der besonders in Afrika üblichen Praxis, die Menschen in Lagern zu sammeln und dort schlecht und recht zu ernähren. Diese Hilfe wirkt meist langsamer und überfordert die zuständigen Behörden mit organisatorischen Aufgaben. Zudem werden Äcker und Weiden verlassen; dies wiederum unterminiert die künftige Agrarproduktion. Oft werden bei den begünstigten oder erzwungenen Wanderungen zu Versorgungszentren Familien auseinandergerissen; und die Lager selbst sind häufig bald Brutstätten für ansteckende Krankheiten.

Hingegen haben öffentlich finanzierte Beschäftigungsprogramme keine derartigen wirtschaftlichen und sozialen Nachteile. Da sie bei den bestehenden Produktions- und Marktmechanismen ansetzen sowie die Händler und Transportunternehmer der Region einbeziehen, stärken sie oft sogar die ökonomische Infrastruktur.

Politische Faktoren

Obwohl solche Maßnahmen Marktmechanismen nutzen, handelt es sich an sich um Interventionspolitik: Weil der Markt versagt, muß die Regierung eingreifen und Arbeitsplätze anbieten. Günstig ist dann, wenn sich wenigstens ein Minimum an Lebensmittelvorräten in öffentlicher Hand befindet, mit denen sich einer preistreibenden Spekulation begegnen läßt.

Ein gänzlicher Zusammenbruch der Versorgung ist zu vermeiden, wenn die Regierung den Vorteil darin sieht, rechtzeitig zu handeln. Noch kein demokratisches Land – ob reich oder arm – mit relativ freier Presse hat jemals eine große Hungersnot durchgemacht (obwohl einige dem Hunger wirksamer vorgebeugt haben als andere). Nahrungsmittelmangel kann das Leben von Millionen Menschen auslöschen, aber betrifft selten die Herrschenden. Der Druck auf die politische Führung wird indes stark, wenn sie sich um ihre Wiederwahl bemühen muß und wenn die Medien über Mißstände berichten und die Anlässe kritisieren können.

In Indien zum Beispiel zwangen nach der Unabhängigkeit ein demokratisches Mehrparteiensystem und eine relativ unbehinderte Presse die Regierung zum Handeln. Hingegen erlitt China, obwohl es nach der Revolution Wirtschaft und Gesundheitswesen viel erfolgreicher entwickelt hatte als Indien, zwischen 1958 und 1961 eine Hungerkatastrophe, nachdem das Agrarprogramm des sogenannten großen Sprungs nach vorn gescheitert war: Mangels politischer Opposition und publizistischer Freiheit wurde die verheerende Politik noch ganze drei Jahre beibehalten; infolgedessen stieg die Zahl der Todesopfer auf 23 bis 30 Millionen.

Viele afrikanische Länder südlich der Sahara – unter anderem Somalia, Äthiopien und der Sudan – haben unter ihren Militärregimes schwer leiden müssen. Konflikte und Kriege nötigen der Bevölkerung nicht nur Entbehrungen auf, weil sie die Wirtschaft zerstören, sondern auch, weil sie Diktatur und Zensur fördern. Halbwegs demokratische Staaten wie Botswana und Zimbabwe entgingen hingegen mehr oder weniger dem Hunger (Bild 4). Wohl kann auch ein gutwilliger Despot Krisen entgegenwirken; in der Regel aber ist unter undemokratischen Verhältnissen rechtzeitiges Handeln selten gewährleistet (Bild 5).

Sterblichkeit und Wohlstand

Wenn Menschen akut Hungers sterben, ist das Versagen von Wirtschaft und Politik offenkundig; hingegen zeigen permanent hohe Todesraten weniger extreme, dafür aber chronische Strukturschwächen an. Umgekehrt können höchst unterschiedliche ökonomische Strategien die Lebenserwartung steigern. So haben etwa Hongkong, Singapur und Südkorea zwischen 1960 und 1985 die Kindersterblichkeit während eines beispiellosen Wirtschaftsaufschwungs drastisch gesenkt; sie zählen heute, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, zu den reichen Nationen. Doch Erfolge erzielten auch mehrere Länder, die immer noch arm sind – unter anderem China, Jamaika und Costa Rica.

Der Befund, daß ein armes Land in dieser Hinsicht durchaus mit reicheren Nationen mitzuhalten vermag, hat enorme politische Bedeutung. Damit wird die oft vertretene These fragwürdig, in der Dritten Welt könne für Gesundheit und Bildung erst genug getan werden, wenn die Wirtschaft prosperiere und die Währung stabil sei. Weil das Bildungs- und das Gesundheitswesen wie auch etliche besonders wirkungsvolle medizinische Dienstleistungen arbeitsintensiv sind, kosten sie in einem Billiglohnland relativ sehr viel weniger als in einer reicheren Volkswirtschaft.

Die Effekte langfristiger Bemühungen auf bescheidenem Niveau zeigten sich etwa in Sri Lanka (früher Ceylon). Dort wurden bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts Alphabetisierungs- und Ausbildungsprogramme öffentlich gefördert. In den vierziger Jahren baute man die medizinische Versorgung stark aus, und 1942 begann die Verteilung von freiem oder subventioniertem Reis, um die Unterernährung zu bekämpfen. Im Jahre 1940 lag die Todesrate noch bei 20,6 pro 1000 Einwohnern; bis 1960 war sie auf 8,6 gesunken.

Ähnliche Veränderungen gab es im indischen Bundesstaat Kerala (mit 29 Millionen Einwohnern bevölkerungsreicher als Kanada). Obwohl das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt weit unter dem indischen Durchschnitt liegt, beträgt die Lebenserwartung heute mehr als 70 Jahre. Dieser Erfolg ließ sich – bei sehr niedrigen Einkommen – nur durch den Ausbau des Schulwesens, der allgemeinen Seuchenvorsorge und der medizinischen Betreuung sowie mit Nahrungsmittelsubventionen erreichen.

Gewiß kann wirtschaftliches Wachstum erheblich dazu beitragen, die Lebensqualität und die Lebenserwartung zu steigern. Doch die Früchte der Prosperität kommen nicht immer diesem Ziel zugute. In vielen Staaten – zum Beispiel Saudi-Arabien, Gabun, Brasilien und Südafrika – ist es um Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit der Gesamtbevölkerung viel schlechter bestellt als in Sri Lanka, China, Costa Rica oder Kerala, die zwar ein viel niedrigeres Bruttoinlandsprodukt haben, aber eine aktivere Sozialpolitik treiben (Bild 6). Der entscheidende Punkt ist einfach, daß arme Länder nicht warten müssen, bis sie reich sind, damit sie gegen hohe Sterblichkeitsraten angehen können.

Mortalität in Industrieländern

Auch im Westen und in Japan waren öffentliche Initiativen im Gesundheits-, Bildungs- und Ernährungssektor bedeutsamer als die Steigerung privaten Wohlstands. In England und Wales beispielsweise stieg die Lebenserwartung in den beiden Jahrzehnten um den Ersten und den Zweiten Weltkrieg markanter als in jeder anderen Dekade dieses Jahrhunderts (Bild 8). Während der Kriege wurden die Lebensmittel rationiert und gleichmäßiger verteilt, und die Regierung mußte sich mehr um die Gesundheitsfürsorge kümmern (so wurde der nationale Gesundheitsdienst in den vierziger Jahren gegründet). Indes stieg in diesen beiden Jahrzehnten das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt langsamer als jemals sonst, und zwischen 1911 und 1921 fiel es sogar.

Die Analyse von Sterblichkeitsdaten hilft bei der Bewertung sozialer Strukturen und entsprechender politischer Programme besonders dann, wenn es darum geht, entscheidende Ursachen für Ungleichheit zu ermitteln und zu beseitigen. In den USA etwa wäre dringlich neu zu klären, was eigentlich unter Verelendung zu verstehen sei. Zwar ist das private Einkommen offensichtlich ein wesentlicher Faktor; aber bei der Diskussion über Armut im allgemeinen und die Benachteiligung der Afro-Amerikaner im besonderen hat man darüber wichtige Aspekte des Problems übersehen.

So leben zwei Fünftel der Einwohner des Kernbereichs von Harlem im Norden des New Yorker Stadtteils Manhattan in Familien, deren Einkommen unter der offiziellen nationalen Armutsgrenze liegt. Die Tatsache ist zwar schockierend; doch dieses finanzielle Niveau, so niedrig es für amerikanische Verhältnisse ist, entspricht einem Vielfachen des Durchschnittseinkommens einer Familie in Bangladesch – selbst wenn man die Preis- und Kaufkraftunterschiede berücksichtigt. In mancher Hinsicht erlauben die Sterbestatistiken einen besseren Vergleich: Colin McCord und Harold Freeman von der Columbia-Universität und dem Harlem-Hospital in New York haben festgestellt, daß männliche Schwarze in Harlem mit geringerer Wahrscheinlichkeit das Alter von 65 Jahren erreichen als Männer in Bangladesch – ihre Überlebenschance ist vom 40. Lebensjahr an schlechter.

Noch schärfere Konturen gewinnt das Bild durch einen Vergleich mit China und Kerala, wirtschaftlich gleichfalls schwachen Ländern, die aber weit mehr für ihr öffentliches Gesundheits- und Bildungswesen unternommen haben als Bangladesch. Zwar ist die Kindersterblichkeit in China und Kerala höher als in Harlem, die jungen und erwachsenen Männer haben jedoch größere Überlebenschancen (Bild 9).

Die höhere Mortalität der Männer in Harlem ist zum Teil durch gewaltsame Todesfälle verursacht. Gewalt ist ein wesentliches Element der Verelendung in den USA, obgleich nicht der einzige Grund für hohe Sterblichkeit.

Unter sozialer Deprivation leidet die gesamte afro-amerikanische Bevölkerung. Deren Kindersterblichkeit ist zwar niedriger als in China und Kerala; aber mit fortschreitendem Alter unterschreitet die Überlebenswahrscheinlichkeit die entsprechenden Werte von Kerala und China immer stärker.

Mortalität und Geschlecht

Aus den Sterblichkeitsdaten geht eine weitere Begleiterscheinung rassischer Ungleichheit hervor: die relativ starke Verelendung der afro-amerikanischen Frauen. In mancher Hinsicht ergeht es ihnen noch schlechter als den männlichen Schwarzen (Bild 7). Im Extremfall Harlem etwa haben schwarze Frauen vom 35. Lebensjahr an eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit als Chinesinnen, sogar schon vom 30. Lebensjahr an eine geringere als Inderinnen aus Kerala (Bild 9).

Die unterschiedliche Lebenserwartung von Schwarzen und Weißen in den USA ist sicherlich teilweise durch ihr unterschiedliches Einkommen bedingt. Aber die Diskrepanz verschwindet selbst dann nicht, wenn man die Sterbestatistik nach der Höhe des Einkommens aufschlüsselt; und die relativ hohe Mortalität von schwarzen gegenüber der von weißen Frauen ist praktisch überhaupt nicht durch Einkommensunterschiede erklärbar.

Sterblichkeitsdaten erhellen außerdem eine besonders elementare Form geschlechtsspezifischer Benachteiligung. Ein auffälliges demographisches Merkmal der modernen Welt ist das von Land zu Land enorm unterschiedliche Zahlenverhältnis von Frauen zu Männern. Rein medizinischen Indizien zufolge sollten Frauen bei gleichen Lebensumständen generell eine niedrigere Sterblichkeitsrate haben als Männer. Schon der weibliche Fetus scheint weniger durch Fehlgeburt gefährdet zu sein. Obwohl wegen ihrer Bevorteilung bei der Empfängnis noch bei der Geburt männliche Individuen um 6 Prozent überwiegen, leben denn auch in Europa und Nordamerika etwa 5 Prozent mehr weibliche.

Doch in vielen Entwicklungsländern ist das Verhältnis von Frauen zu Männern ganz anders (Bild 10): Während es in Afrika südlich der Sahara noch 1,02 beträgt, liegt es in Nordafrika bei 0,98, in China, Bangladesch und Westasien bei 0,94, in Indien bei 0,93 und in Pakistan bei 0,91. Um eine Vorstellung zu vermitteln, was das in absoluten Zahlen be-deutet, haben Jean Drèze von der London School of Economics und ich den Wert von Afrika südlich der Sahara als Bezugsgröße genommen. Demnach fehlen sozusagen 44 Millionen Frauen allein in China und 37 Millionen in Indien; von anderen Bezugsgrößen ausgehende Schätzungen kommen auf global 60 bis 90 Millionen.

Das Phänomen der fehlenden Frauen ist das Resultat einer seit langem höheren Sterblichkeit und fortwährender Diskriminierung bei der Gesundheitsversorgung und der Ernährung in den betreffenden Ländern. Nur zwei Beispiele: Jocelyn Kynch von der Universität Oxford und ich haben Krankenblätter von Kliniken in Bombay untersucht; dort wurden Frauen erst eingewiesen, wenn sie schwerer erkrankt waren als Männer. Und in Zusammenarbeit mit Sunil Sengupta von der Visva-Bharati-Universität in Birbhum (West-Bengalen) fand ich heraus, daß in zwei Dörfern der Gegend Knaben bei der ärztlichen Verordnung von Aufbaukost systematisch bevorzugt wurden.

Obwohl die Zurücksetzung der Frau auf historische und kulturelle Faktoren zurückgeht, sind auch wirtschaftliche Bedingungen dafür ausschlaggebend. Offensichtlich verbessern Frauen ihren sozialen Status, wenn sie einen Beruf – insbesondere auf qualifizierteren Arbeitsplätzen außerhalb des eigenen Haushalts – ausüben und selber Geld verdienen; dann kümmert sich die übrige Familie auch mehr um sie. Zudem bietet ihnen das Auftreten in der Öffentlichkeit mehr Gelegenheit, die bestehende soziale und wirtschaftliche Ordnung in Frage zu stellen. Alphabetisierung, bessere Bildung, das Recht auf Landbesitz oder Erbfolge heben ebenfalls den allgemeinen Status von Frauen.

In Kerala haben auch wirtschaftspolitische Maßnahmen dazu beigetragen – der Staat bietet einem großen Teil der berufstätigen Frauen respektable Arbeitsplätze. Außerdem ist, wie bereits dargestellt, das Bildungwesen gut entwickelt, so daß die meisten Heranwachsenden beiderlei Geschlechts lesen und schreiben lernen, und der Gesundheitsdienst ist weithin ausgebaut (Bild 1). Hinzu kommt, daß es in einem beträchtlichen und einflußreichen Teil der Bevölkerung eine Tradition matrilinearer Erbfolge gibt. Das Verhältnis von Frauen zu Männern liegt derzeit bei 1,04 (diese Zahl wird allerdings etwas kleiner, wenn man die außerhalb des Bundesstaats arbeitenden Männer einbezieht). Die Lebenserwartung bei der Geburt beträgt in Kerala 73 Jahre für Frauen und 67,5 Jahre für Männer.

Sterblichkeit und Familienplanung

Nahezu diese Werte werden auch in China erreicht, doch den Frauen in Kerala geht es relativ besser. Die chinesische Regierung hat sich zwar bemüht, die Gleichberechtigung durchzusetzen, und die Frauen in der Volksrepublik sind großenteils berufstätig; aber der Anteil der Analphabeten unter ihnen ist viel größer als im südwestlichen Indien. Die hohe Sterblichkeitsrate weiblicher Kinder in China – einer Gesellschaft, die Knaben stark bevorzugt – hängt wahrscheinlich auch mit den Zwangsmaßnahmen zur Geburtenkontrolle zusammen, das heißt mit der zeitweilig strikten Ein-Kind-Politik.

Auf derartige Effekte möchte ich kurz eingehen, obwohl sich dieser Artikel nicht unmittelbar mit Fruchtbarkeit und Familienplanung beschäftigt. Es gibt gute Gründe, erzwungene Geburtenkontrolle unter Berufung auf Freiheit und Menschenwürde von vornherein abzulehnen; doch ihr möglicher Einfluß auf die weibliche Mortalität gibt der Debatte eine neue Dimension. Die Erfolge der chinesischen Führung in ihrem Bemühen, die Bevölkerungsexplosion einzudämmen, werden oft als beispielhaft für die gesamte Dritte Welt angeführt. Richtig ist, daß die Geburtenrate Chinas mit 21 pro 1000 Einwohner sehr viel günstiger ist als die Indiens mit 30 pro 1000 (und erst recht als der durchschnittliche Wert von 38 pro 1000 der anderen Länder mit niedrigem Einkommen). Aber in Kerala ist sie noch niedriger – und das ohne Zwangsmaßnahmen und ohne das Problem überhöhter weiblicher Kindersterblichkeit.

Viele demographische Indizien sprechen dafür, daß nach einem Rückgang der Mortalität sehr oft auch die Geburtenrate sinkt. Ein Grund ist ein Nachlassen des Drangs, möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen, damit wenigstens einige überleben. Außerdem läßt sich das Angebot empfängnisverhütender Mittel wirksam mit medizinischer Versorgung kombinieren. So ist in Kerala neben der Sterblichkeit auch die Geburtenrate zurückgegangen: von 44 pro 1000 Einwohner zwischen 1951 und 1961 auf 20 pro 1000 zwischen 1988 und 1990.

Mortalitätsdaten bieten ein Maß für wirtschaftlichen Mangel, das weit über die beschränkte Sicht auf Einkommen und Finanzmittel hinausgeht. Eine entsprechende Bewertung der Volkswirtschaft kann auf dringende politische Aufgaben aufmerksam machen und ermöglicht ein tieferes Verständnis von Hunger und Gesundheitsproblemen sowie von sexueller und rassischer Diskriminierung – und zwar nicht nur in armen Ländern (Bild 11). Die reichen Industrienationen haben nicht weniger Anlaß, den Rahmen der herkömmlichen Wirtschaftslehre um die Ökonomie von Leben und Tod zu erweitern.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1993, Seite 38
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum der Wissenschaft – Altern - Was uns länger leben lässt

Menschen altern unterschiedlich – abhängig vom Lebensstil, der Ernährung, dem Stresspegel oder dem sozialen Umfeld. Mit zunehmendem Lebensalter steigt auch das Risiko für Demenzerkrankungen wie Alzheimer. Ein wirksames Mittel gegen dieses Leiden ist immer noch nicht gefunden, neue Erkenntnisse aus der Forschung lassen jedoch hoffen. Die weltweit alternden Gesellschaften fordern aber nicht nur die Medizin heraus, sondern auch unsere Sozialfürsorge. Letztlich bleibt das wichtigste Ziel, möglichst lange gesund und agil zu bleiben.

Gehirn&Geist – Altruismus

Helfen Menschen einander, wenn sie sich in Lebensgefahr befinden – oder ist sich jeder selbst der Nächste? Neue Forschungsergebnisse belegen: Ausgerechnet bei tödlicher Gefahr verhalten sich Menschen meistens erstaunlich altruistisch. Außerdem im Heft: Die Schlafforschung interessiert seit Langem, wozu unser Gehirn komplexe Traumwelten erzeugt. Auch im Tierreich suchen sie nach Antworten: unter anderem bei Tintenfischen, Tauben und Spinnen. Bei vielen neuropsychiatrischen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und Huntington leidet der Geruchssinn als Erstes. Weshalb ist das so, und lässt sich das diagnostisch nutzen? Selbstverletzung erfüllte über die Jahrtausende hinweg wahrscheinlich verschiedenste Zwecke, vom Stressabbau bis hin zu religiösen Zwecken. Sexfilme sind online immer, überall und anonym abrufbar. Manche Konsumenten verlieren da die Kontrolle. Wie kann man diesen Süchtigen helfen?

Spektrum Gesundheit – Sonne – Wie viel ist gesund? Ab wann schadet sie?

Wie man mehr aus seinem Urlaub rausholt, nachhaltig entspannt und die positiven Effekte der Sonne ohne Reue genießen kann, lesen Sie ab sofort in »Spektrum Gesundheit«.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.