Das Atom in der Falle. Forscher erschließen die Welst der kleinsten Teilchen
Auf dieses Buch muß besonders hingewiesen werden, weil es in keine der etablierten und übervölkerten Kategorien physikalischer Sachbücher paßt. Es handelt von Fortschritten der letzten zehn oder zwanzig Jahre in der Physik der Atome, die der Öffentlichkeit nahezu verborgen geblieben sind. Über Kosmologie, Elementarteilchenphysik und die Paradoxien der Quantenmechanik kann sich dagegen jeder seit langem aus populärwissenschaftlichen Schriften umfassend informieren.
Es fängt damit an, daß der Sprachgebrauch zwischen dem Atom und seinem Kern nicht sauber unterscheidet. Das hat historische Gründe: Werner Heisenberg und seine Kollegen mochten den Namen "Atomphysiker" nicht ablegen, als sie sich längst nur mehr mit Kernen beschäftigten. Dabei sind die ganzen Atome um den Faktor einhundert Millionen größer.
Korrekterweise müßte man als Atomreaktionen nicht die Kernreaktionen, sondern die chemischen Reaktionen bezeichnen, die zum Beispiel Dynamit ex-plodieren und das Kaminfeuer brennen lassen. Dieses sprachliche Kuddelmuddel wäre belanglos, würde es nicht aus einem begrifflichen erwachsen. Denn atomos bedeutet "unteilbar" in der Sprache der griechischen Philosophen, die vor etwa 2500 Jahren den Begriff in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt haben. Sie hielten nur die Atome und das Leere zwischen ihnen für wirklich.
Das Buch behandelt die historischen Ursprünge des Atombegriffs, die Erwartungen, die er erfüllen sollte, und die Einwände, denen er zu begegnen hatte. Gesiegt hat in diesem Jahrhundert die Vorstellung, daß Alltagsmaterie eine körnige Struktur aus Atomen hat. Der Raum, in den sie eingebettet sind, kann für alle praktischen Zwecke als leer angenommen werden. Aber unteilbar sind die Atome nicht. Es ist sogar unbekannt, ob es letzte, wahrhaft unteilbare Einheiten gibt.
Das Buch macht auf der Ebene der Atome halt und beantwortet allgemeinverständlich die hämische Frage nach ihrer Existenz, die um die Jahrhundertwende der österreichische Physiker Ernst Mach gestellt hat: "Ham's schon welche g'sehn?" Ja, Hans Christian von Baeyer, Physikprofessor am College of William and Mary in Williamsburg (Virginia), hat schon welche gesehen und führt, was er gesehen hat, auf acht Farbseiten dem staunenden Leser vor: Atome allein im leeren Raum, in Moleküle eingebunden und auf Oberflächen.
Das erste Atom, das er sah, war einzeln in eine Falle eingesperrt und blinkte. Das Buch schildert die hohe Kunst der Fallenstellerei, mit deren Hilfe man einzelne Elektronen, Protonen und elektrisch neutrale Atome für Monate einsperren kann (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1989, Seite 14, und März 1990, Seite 100). So werden Atome gezähmt – wir machen uns durch ihre Bilder mit ihnen so vertraut, wie wir es mit den Planeten durch Fernrohre und durch die Raumfahrt seit langem geworden sind.
Für die direkte Beobachtung von Atomen sind in den letzten Jahren viele Physik-Nobelpreise vergeben worden, darunter der von 1986 an Gerd Binnig und Heinrich Rohrer für ihr Verfahren der Raster-Tunnelmikroskopie, das die atomare Struktur von Oberflächen sichtbar zu machen vermag (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1986, Seite 14). Es ist überdies möglich, einzelne Atome einer bestimmten Sorte in makroskopischen Proben nachzuweisen. "Die Lektüre läßt den Leser vor Verblüffung erstarren", zitiert der Klappentext eine Besprechung der amerikanischen Originalausgabe des Buches. Für den nicht vorinformierten Leser kann das durchaus zutreffen.
Atome sind real – "muntere Kerlchen, die so wirklich sind, daß ich sie fast sehen kann", wie Ernest Rutherford (1871 bis 1937), der Entdecker des Atomkerns, gesagt hat. In einem wichtigen Exkurs erläutert von Baeyer, was "sehen" durch Apparate wie Raster-Tunnelmikroskope bedeutet: sich mit dem Objekt so vertraut machen, daß ein Bild von ihm gezeichnet werden kann.
Andererseits sind Atome nicht einfach "reale, dauerhafte Objekte..., die man wie Sandkörner am Strand aussondern und untersuchen kann". Die Erkenntnis, daß sie das auch sind, hat manche Auswege aus den Paradoxien der Quantenmechanik, die deren Väter noch für möglich hielten, verbaut. Dieselben Atome, die wir mit kunstvollen Pinzetten wie Sandkörner manipulieren können, verhalten sich unter anderen experimentellen Bedingungen wie Wellen, zu denen Geisterteilchen irgendwie hinzukommen. Auch das ist heute Realität; die berühmten Doppelspalt-Experimente, an denen Lehr- und Sachbücher die Paradoxien der Quantenmechanik zu erläutern pflegen, haben Jürgen Mlynek und Oliver Carnal an der Universität Konstanz 1991 erfolgreich mit Heliumatomen durchgeführt.
Auch der sogenannte leere Raum, in dem die Atome in ihren Fallen zu schweben scheinen, hat seine Tücken. Atom und Hohlraum bilden zusammen ein quantenmechanisches System, das nur als Ganzes zu verstehen ist (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1993, Seite 48) – wobei statt "verstehen" nach dem Geschmack des Autors wohl besser "beschreiben" stehen sollte. Die Paradoxien der Quantenmechanik, welche die gesetzmäßigen Entwicklungen zwischen Messungen von den Messungen selbst unterscheiden muß, sind noch nie so unabweisbar aufgetreten wie bei den großen und schweren Atomen (und Molekülen).
Der Autor erhofft sich weitergehendes Verständnis von der Theorie der Führungswelle, die eine von Louis de Brog-lie (Nobelpreis für Physik 1929) begründete Schule vertritt. Vorerst aber stimmt er wohl der Aussage Richard P. Feynmans "Keiner versteht die Quantenmechanik" zu, wenn er schreibt: "Mit dem wellenartigen Elektron kamen die Physiker aus dem Regen der Unwissenheit in die Traufe der Unverständlichkeit."
Der hervorragende Stil des Buches ist durch die Übersetzung, an der von Baeyer beteiligt war, nicht verlorengegangen. Es könnte für die neuere Atomphysik und die Quantenmechanik dasselbe leisten wie Steven Weinbergs Buch "Die ersten drei Minuten" für die Kosmologie und die Physik der Elementarteilchen: die Eröffnung eines neuen Verständnisses in der Öffentlichkeit. Dabei ist die Informationsdichte niemals zu groß. Geschickt zieht von Baeyer Personenschilderungen heran, wenn es gilt, den Leser mit einer verblüffenden Entdeckung vertraut zu machen. Die Kunst der Darstellung macht sogar eine Passage über Maßeinheiten interessant. Nicht ausgelassen wurden die zahlreichen Anwendungen, welche die neue Atomphysik ermöglicht – eine Medizin zum Beispiel, die sich einzelner Atome bedient, oder Goldsuche durch Nachweis von Einzelatomen.
Mit Ausnahme der Farbtafeln, die im Text nicht erwähnt werden, enthält das Buch überraschenderweise keine Abbildung. Auch die Karikatur des quantenmechanisch gespaltenen Skiläufers, deren Beschreibung ein Kapitel einleitet, sucht man vergebens: "Im Vordergrund schießt in geduckter Haltung ein Skifahrer den Hügel hinab und hinterläßt eine Doppelspur, die den Abhang hinter ihm hinaufläuft, sich teilt, zu beiden Seiten um einen riesigen Fichtenstamm herumführt und sich dahinter wieder zu einer normalen parallelen Skispur vereinigt" (Seite 217). Nun ist die verbale Darstellung tatsächlich so kunstvoll, daß man ohne Abbildungen auskommt; aber manche, die der Text nur beschreibt, wären hilfreich gewesen.
Ohne einen Leserkreis auszunehmen, empfehle ich von Baeyers Buch nachdrücklich. Die Lektüre ist informativ und macht auch noch Spaß. Was kann man von einem populärwissenschaftlichen Sachbuch mehr verlangen?
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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