Oktober 1996: Gradienten als Organisatoren der Embryonalentwicklung
»Die Bären paaren sich im Winter. Dann zieht sich das Weibchen allein in eine Höhle zurück und bringt dort nach 30 Tagen meist fünf Junge zur Welt. Bei ihrer Geburt sind diese formlose weiße Fleischklumpen, nur wenig größer als Mäuse; einzig ihre Krallen sind schon ausgebildet. Die Mutter leckt sie dann in die richtige Form.«
Diese bizarre antike Vorstellung überlieferte der römische Historiker und Schriftsteller Plinius der Ältere (um 23 bis 79 nach Christus) im achten Buch seiner »Naturgeschichte«. Sie ist einer von vielen frühen Versuchen, eines der größten Rätsel des Lebens zu erklären: wie aus einer fast einförmigen Eizelle die Gestalt eines tierischen oder menschlichen Organismus hervorgeht, mit Dutzenden von Zelltypen und mannigfaltigen Strukturen am jeweils richtigen Platze. Die Schwierigkeit dabei ist zu erklären, wie ein komplexes Muster aus einem einfachen entsteht.
Im 17. Jahrhundert kam die in Abwandlungen bis ins 19. Jahrhundert populäre Präformationstheorie auf. Danach ist das Ei nicht so strukturlos, wie es erscheint, sondern enthält, in unsichtbarer Form, ein Mosaik aus sogenannten Determinanten, das die Gestalt des zukünftigen Tieres Punkt für Punkt auf der Oberfläche der Eizelle festlegt und sich bei der Entwicklung nur zu entfalten braucht. Aus heutiger Sicht ist kaum verständlich, wieso diese Auffassung sich so hartnäckig halten konnte. Denn im weiblichen Organismus müßte nicht nur die Gestalt der Nachkommen in den Eizellen bereits auf unsichtbare Weise vorgeprägt sein, sondern in ihnen wiederum auch die Gestalt der folgenden Generation und so fort ad infinitum. Trotzdem hatte diese Einschachtelungshypothese in der einen oder anderen Form lange viele Anhänger, darunter auch Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832), »weil wirklich der menschliche Verstand gewisse Phänomene auf eine andere Weise zu begreifen kaum fähig ist – ob ihm gleich eben auch diese Einschachtelungshypothese unbegreiflich bleibt«.
Vor ungefähr 100 Jahren begann man zu erkennen, dass der Entwicklungsweg eines Embryos nicht völlig vorherbestimmt sein muß. In vielen Fällen führten experimentelle Manipulationen zu drastischen Änderungen der Entwicklung, die mit der Vorstellung eines Mosaiks nicht zu erklären waren. Wurde zum Beispiel ein Embryo eines Seeigels im Zweizellstadium in zwei einzelne Zellen getrennt, entwickelte sich jede zu einem vollständigen Individuum, obwohl sie sonst gemeinsam nur eines ergeben hätten. Geschieht dies bei menschlichen Embryonen auf natürliche Weise, entstehen eineiige Zwillinge.
Im Zuge solcher Erkenntnisse kristallisierte sich eine neue, bedeutsame Vorstellung heraus: die Gradientenhypothese. Sie geht unter anderem auf Theodor H. Boveri (1862 bis 1915) von der Universität Würzburg zurück, den Mitbegründer der Chromosomentheorie der Vererbung. Um unterschiedliche Einflüsse, die vom Cytoplasma verschiedener Eibereiche auf die Zellkerne ausgeübt werden, zu erklären, nahm er an, dass von einem Pol des Eies zum anderen »irgendein Etwas an Konzentration zu- oder abnimmt«. Die Hypothese besagt im wesentlichen, dass Zellen in einem sich entwickelnden Zellverband auf eine Substanz – ein sogenanntes Morphogen – reagieren, dessen Konzentration allmählich in einer bestimmten Richtung zunimmt. Dabei sollen verschiedene Konzentrationen des Morphogens unterschiedliche Antworten der Zellen hervorrufen.
Obwohl sich damit im Prinzip verstehen ließ, wie Polarität im Embryo entsteht und woran Zellen ihre Position im Embryo erkennen, wurde die Idee lange nicht generell akzeptiert. Eine der Schwierigkeiten war zu erklären, wie eine Ungleichverteilung des Morphogens, die lange genug stabil ist, überhaupt aufgebaut werden könnte. In einem sich entwickelnden Verband von Zellen würden die Zellmembranen Moleküle, die einen solchen Gradienten erzeugen könnten, an der Ausbreitung hindern; umgekehrt würden sich in einer großen Eizelle einmal aufgebaute Konzentrationsunterschiede durch Diffusion schnell ausgleichen. Überdies waren biochemische Natur und Wirkungsweise von Morphogenen ganz unklar.
Theoretiker haben Modelle und auch ausführliche Theorien entwickelt, wie solche Gradienten operieren könnten. Ein einfaches Diffusionsmodell mit lokaler Synthese und Abbau der Substanz an entgegengesetzten Polen, das für kurze Strecken und Zeiten funktionieren könnte, wurde 1970 von Francis Crick damals am Labor des britischen Medizinischen Forschungsrats in Cambridge vorgeschlagen. Bereits 1952 haben der Mathematiker Alan M. Turing an der Universität Manchester (England) und 20 Jahre später dann Alfred Gierer und Hans Meinhardt vom Max-Planck-Institut in Tübingen gezeigt, dass nicht-lineare physikalische Wechselwirkungen zwischen wenigen Substanzen Gradienten zu erzeugen vermögen, die über lange Zeiten stabil sind und wichtige Regulationseigenschaften haben (Spektrum der Wissenschaft, August 1991, Seite 60).
Drosophila – ein Versuchsobjekt voller Vorzüge
Trotzdem sahen die meisten Biologen den Gradientenmechanismus lange Zeit als ein nebulöses Konzept an. Das änderte sich, als Forscher in mehreren Labors im frühen Embryo der Taufliege em>Drosophila melanogaster vor etwa zehn Jahren morphogenetische Gradienten entdeckten. Es mag erstaunen, dass viele Entwicklungsmechanismen am besten bei diesem knapp drei Millimeter großen Insekt erforscht sind und nicht etwa bei Wirbeltieren, die dem Menschen näher stehen. Aber ein glückliches Zusammentreffen mehrerer vorteilhafter Eigenschaften macht es für genetische, embryologische und molekularbiologische Untersuchungen zu einem nahezu idealen Versuchsobjekt.
Drosophila wurde in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zum Labortier der Wahl für das Studium der Vererbung, weil sie sich leicht halten läßt und rasch zahlreiche Nachkommen liefert. Ein einziges Weibchen kann mehrere hundert Eier legen, bei einer Generationszeit von nur zwei Wochen. Die große Zahl von Nachkommen aus einer Kreuzung macht es möglich, systematisch nach genetisch veränderten Individuen – nach Mutanten, deren Abweichungen bestimmte Prozesse betreffen – zu suchen. Zudem kann man die Mutationsrate durch Bestrahlung oder durch Verfüttern gewisser Chemikalien experimentell deutlich erhöhen.
Drosophila läßt sich auch mit Methoden der molekularen Genetik recht einfach untersuchen. Das Insekt hat nur vier Chromosomenpaare; und in den Zellkernen der Speicheldrüsen liegen sie in einer speziellen Riesenform mit charakteristischer Querbänderung vor. Das erleichtert die Kartierung und Analyse von mutierten und klonierten Genen. Nicht zuletzt lassen sich bei Drosophila klonierte Gene von Interesse auch sehr effizient in die Keimbahn einschleusen. Mit dieser Methode, die auf zu Transportvehikeln umfunktionierten mobilen genetischen Elementen basiert, kann man die Funktionen von normalen und künstlich abgewandelten Genen elegant im intakten Tier untersuchen.
Genetische Untersuchungen an Mutanten haben sich bei der Aufklärung vieler Stoffwechselwege und regulatorischer Prozesse in Bakterien und Pilzen als sehr leistungsfähig erwiesen. Vor zwanzig Jahren haben Eric F. Wieschaus, der inzwischen an der Universität Princeton (New Jersey) tätig ist, und ich diesen Ansatz auf Drosophila ausgedehnt: Wir suchten nach Genen, die die Entwicklung der segmentierten Gestalt der Larve kontrollieren (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1995, Seite 16). Diese Made ist mit etwa einem Millimeter Länge verhältnismäßig groß und aus wohldefinierten sich wiederholenden Einheiten, den Segmenten, aufgebaut, die innerhalb von nur 24 Stunden differenziert sind. Ihre Gestaltmerkmale geben dem Forscher entscheidende Hinweise, um Mutationen und experimentell ausgelöste Anomalien, die das Entwicklungsmuster beeinflussen, zu erkennen und zu interpretieren.
Für embryologische Studien ist von großem Vorteil, dass der Drosophila-Embryo in einem frühen Stadium seiner Entwicklung noch keine getrennten Zellen ausbildet. Bei den meisten Tieren entwickeln sich die Embryonen durch Zellteilung, bei der sich mit dem Kern auch der Rest des Zellinhalts zweiteilt. Zellmembranen trennen die beiden Hälften voneinander, und es entstehen zwei Tochterzellen, die sich wiederum teilen. Der Embryo bildet deshalb zunächst einen Ball aus Zellen. Beim befruchteten Drosophila-Ei hingegen teilt sich der Kern wiederholt, ohne dass Zellmembranen die einzelnen Tochterkerne samt Zellplasma voneinander abtrennen. Die Kerne wandern vielmehr an die Peripherie des sehr dotterreichen Eies und teilen sich dort weiter. Erst ungefähr drei Stunden nach der Eiablage, wenn etwa 6000 Kerne entstanden sind, erscheinen trennende Membranen, und es wird eine Zellschicht gebildet, die den zentralen Dotter umhüllt. Bis dahin bleibt der Embryo immer noch eine einzige, aber vielkernige Zelle.
Deshalb können sich im Drosophila-Embryo selbst hochmolekulare Stoffe zunächst frei ausbreiten und das Schicksal weiter Bereiche bestimmen. Experimentell bietet sich die Möglichkeit, Zellplasma zwischen verschiedenen Embryonen und verschiedenen Eibereichen zu transplantieren. Auch lassen sich leicht Substanzen, Proteine etwa, in Embryonen injizieren und damit ihre Auswirkungen auf die Gestalt der Larve untersuchen.
Gradienten im Drosophila-Ei
Bei der Bildung des Drosophila-Eies im mütterlichen Organismus werden Stoffe produziert und eingelagert, die vielfältige Funktionen – darunter auch gestaltbildende – bei der frühen Entwicklung des Embryos haben. Durch die Untersuchung von Mutanten haben Forscher in verschiedenen Labors insgesamt ungefähr 30 Gene entdeckt, die im mütterlichen Organismus aktiv sind und deren Produkte in spezifischer Weise zur räumlichen Organisation des Embryos beitragen. Nur drei dieser Gene codieren für Signalstoffe, die die Anordnung der Strukturen entlang der Längsachse festlegen, also zwischen vorderem (anteriorem) und hinterem (posteriorem) Ende. Jedes der drei molekularen Signale ist im frisch abgelegten Ei an bestimmter Stelle lokalisiert und läßt einen anderen morphogenetischen Gradienten entstehen. Dabei hat das Morphogen seine maximale Konzentration jeweils am Ort des entsprechenden Signals.
Von diesen drei mütterlichen Signalen kontrolliert eines den vorderen Teil des befruchteten Eies, aus dem Kopf sowie Brustregion (Thorax) der Larve hervorgehen, ein anderes den hinteren Teil, aus dem sich der Hinterleib (das Abdomen) entwickelt, und das dritte schließlich die beiden Polregionen, aus denen Akron und Telson, Strukturen an den beiden äußersten Enden der Larve, entstehen.
Der einfachste Gradient ist der des Proteins Bicoid. Er determiniert die Entwicklung des vorderen Teils des Embryos. Wie mein Kollege Wolfgang Driever und ich feststellten, ist bereits in den frühesten Embryonalstadien ein Konzentrationsgradient von Bicoid vorhanden, der von vorn nach hinten allmählich exponentiell abfällt. Mutationen im bicoid-Gen eines Drosophila-Weibchens verhindern die Ausbildung eines solchen Gradienten in seinen Eiern, und den entwickelten Embryonen fehlen Kopf und Brustregion (Namen von Genen werden gewöhnlich kursiv geschrieben, die der zugehörigen Proteine jedoch nicht).
Das bicoid-Protein übt seine Wirkung in den Zellkernen des Embryos aus. Es leitet dort die Transkription bestimmter Gene ein (nach lateinisch transcribere, abschreiben). Bei diesem Vorgang entsteht an der Erbsubstanz eine Art Blaupause: die Boten-RNA (kurz mRNA, nach dem englischen Begriff). Nach Anleitung des Moleküls wird dann im Zellplasma das entsprechende Protein hergestellt. Transkriptionsfaktoren wie Bicoid wirken, indem sie sich an bestimmte, als Promotoren bezeichnete Regulator-Regionen ihrer Zielgene heften. Für diese Bindung muß die Konzentration von Bicoid einen bestimmten Schwellenwert überschreiten.
Driever und ich haben vor allem die Wirkung des Proteins auf ein Zielgen, hunchback, untersucht. Es wird in den Zellkernen der Vorderhälfte des frühen Embryos transkribiert, und sein Promotor enthält mehrere Bindungsstellen für Bicoid. In einer Serie von Experimenten haben wir das Konzentrationsprofil des bicoid-Proteins verändert, in einer anderen dagegen die Promotorstruktur des hunchback-Gens.
Durch Einbau von zusätzlichen Kopien des bicoid-Gens in das Erbgut von Weibchen kann man Embryonen erhalten, die entlang dem Gradienten bis zu viermal höhere Konzentrationen an bicoid-Protein aufweisen als normale Embryonen. Die Zone, in der das hunchback-Gen aktiviert wird, dehnt sich dann weiter als sonst zum hinteren Ende hin aus, und ein größerer Teil des Embryos entwickelt sich zu Kopf und Brustregion der Larve. Im Prinzip könnte diese Anomalie entweder durch die absolut höhere Konzentration an bicoid-Protein oder durch die nun größere Steigung des Gradienten verursacht werden. Entscheiden ließ sich dies, indem wir verschiedene Embryonen erzeugten, die über ihre gesamte Länge ein gleichbleibendes, aber jeweils unterschiedlich hohes Niveau des Proteins, ohne einen Gradienten, aufwiesen. Bei ihnen bildete sich nur eine Art von Vorderregion: Kopfstrukturen bei höherer Konzentration, Bruststrukturen bei niedriger. Folglich ist die absolute Konzentration von Bicoid und nicht die Steigung des Gradienten für die Steuerung der folgenden Entwicklungsschritte einer jeden Region entscheidend.
Bei der zweiten Art von Experimen-ten wurde der Gradient unverändert gelassen, aber der Promotorbereich des hunchback-Gens so verändert, dass er das bicoid-Protein nur noch schwach binden kann. In diesen Fällen waren höhere Konzentrationen an Bicoid nötig, um die Transkription des hunchback-Gens zu starten, und entsprechend verlagerte sich der hintere Rand der hunchback-Aktivitätszone weiter nach vorn, und der Kopf bildete sich aus einem kleineren Bereich als sonst. Das belegt, dass Bicoid durch eine spezifische Bindung an den hunchback-Promotor wirkt.
Diese Experimente zeigen, wie ein Morphogen wie Bicoid durch seine Affinität zu einem Gen, in diesem Falle hunchback, festlegen kann, wo dieses im Embryo aktiviert wird. Theoretisch könnte eine große Zahl von Zielgenen, die verschiedene Aktivierungsschwellen haben, auf unterschiedliche Konzentrationen innerhalb des Gradienten eines einzigen Morphogens reagieren; das Resultat wären viele verschiedene Genaktivierungszonen. Tatsächlich aber beeinflußt ein Gradient gewöhnlich nicht mehr als zwei oder drei Zielgene direkt, bestimmt also nur zwei oder drei Aktivierungszonen.
Entstehung des Gradienten
Wie wird der morphogenetische bicoid-Gradient selbst aufgebaut? Während das Ei im mütterlichen Organismus entsteht, deponieren spezielle mit ihm verbundene Nährzellen bicoid-RNA am Vorderpol. Die Synthese des Proteins beginnt dort mit der Befruchtung und hält an, bis sich der Embryo in Zellen unterteilt. Vom Entstehungsort am Vorderende breitet sich Bicoid nach hinten aus. Da es aber instabil ist, erreicht seine Konzentration im hinteren Bereich des Eies nie hohe Werte. Durch ein geeignetes Verhältnis von Neusynthese, Diffusion und Abbau entsteht eine gradierte Verteilung, die während der ersten drei Stunden der Embryonalentwicklung annähernd stabil ist.
Obwohl nicht auszuschließen ist, dass noch andere Mechanismen beteiligt sind, reicht dieser einfache Diffusionsmechanismus wahrscheinlich aus und ist dabei auch genau genug, um eine normale Entwicklung zu gewährleisten. Erstaunlicherweise sind nämlich die Anforderungen an die Genauigkeit des Konzentrationsprofils nicht hoch. So entsteht selbst nach erheblicher Veränderung des bicoid-Gehalts – einer Verdoppelung oder Halbierung – noch eine normal proportionierte Larve. Anscheinend können regulierende Mechanismen, die in späteren Stadien wirksam werden, Ungenauigkeiten in früheren Stadien korrigieren.
Injiziert man bicoid-RNA in den hinteren Pol eines normalen befruchteten Eies, so baut sich ein zusätzlicher bicoid-Gradient entgegengesetzt zum natürlichen. Der sich entwickelnde Embryo bildet dort, wo der Hinterleib der Larve sein sollte, einen zweiten Kopf und Thorax aus. Dies zeigt, dass die bicoid-RNA allein ausreicht und keine zusätzlichen am Vorderpol gelegenen Substanzen nötig sind, um ein Vorderende entstehen zu lassen.
Wie die normale Lokalisierung solcher und weiterer RNA im Eiplasma zustandekommt ist erst fragmentarisch verstanden. Paul M. Macdonald von der Universität Stanford (Kalifornien) hat in der bicoid-RNA einen langen Abschnitt identifiziert, der alle nötigen Informationen trägt, um das Molekül zu erkennen, zu transportieren und an der richtigen Stelle am Vorderpol zu verankern. Daniel St. Johnston und Dominique Ferrandon, damals in meinem Labor in Tübingen, haben zudem festgestellt, dass sich Komplexe aus bicoid-RNA und einem als Staufen bezeichneten Protein gerichtet an Mikrotubuli fortbewegen; diese gehören zu den Bestandteilen des Zellgerüsts und dienen als eine Art Gleitschiene für den Transport von Partikeln. Wahrscheinlich erklärt sich daraus die scharfe Lokalisierung der bicoid-RNA, wenn auch sicherlich noch andere, bisher noch nicht bekannte Proteine daran beteiligt sind.
Der morphogenetische Gradient von Bicoid bestimmt nur das Muster im vorderen Bereich der Larve; für den hinteren Bereich ist ein anderer Gradient verantwortlich, und zwar der des Proteins Nanos. Die zugehörige RNA wird im Cytoplasma am hinteren Pol des Eies verankert. Schon vorher findet man am gleichen Ort einen weiteren molekularen Komplex aus dem Staufen-Protein, diesmal mit der RNA eines Gens namens oskar. Wie wichtig die richtige Plazierung der oskar-RNA ist, zeigten Anne Ephrussi und Ruth Lehmann während ihrer Tätigkeit am Whitehead-Institut für biomedizinische Forschung in Cambridge (Massachusetts). Sie erreichten durch eine gentechnische Manipulation, dass ein Teil der oskar-RNA anstelle ihrer eigenen Lokalisationssequenz die der bicoid-RNA trägt. Das Zwittermolekül wurde daraufhin in der Zelle wie bicoid-RNA behandelt und am vorderen Pol statt am hinteren verankert. Dadurch wiederum wurde dann auch ein Teil der nanos-RNA nach vorne fehlgeleitet. Die sich entwickelnden Embryonen bildeten zwei Hinterenden spiegelsymmetrisch zueinander aus .
Das Diffusionsproblem
Die Mechanismen, die, wie bei Bicoid und Nanos, Gradienten durch Diffusion des Proteins von einer lokalen RNA-Quelle aus erzeugen, funktionieren allerdings nur, weil im frühen Drosophila-Embryo noch keine Zellmembranen existieren; sie würden die freie Diffusion solch großer Moleküle unterbinden. Bei den meisten Tieren entwickeln sich aber, wie erwähnt, die Embryonen durch Zellteilungen, so dass sich Morphogene nicht einfach durch Diffusion ausbreiten können. Es ist deshalb interessant, dass die beiden anderen entdeckten Signale keine RNA-Moleküle sind: Das eine legt die Dorsoventralachse (Rücken-Bauch-Achse) fest, das andere das Muster an den Eipolen. Hier greifen Signaltransfermechanismen, die Gradienten selbst in Gegenwart von trennenden Zellmembranen aufbauen können. Sie sind daher allgemeiner verbreitet und kommen in der einen oder anderen Form auch bei vielen anderen Organismen vor.
Für die erste Unterteilung entlang der Dorsoventralachse ist der Gradient eines Proteins namens Dorsal bestimmend. Wie Bicoid ist es ein Transkriptionsfaktor und steuert die Aktivität von mehreren Zielgenen abhängig von seiner Konzentration. Das Dorsal-Protein wirkt aber sowohl als Aktivator als auch als Repressor, schaltet also Gene in den Kernen des Embryos an oder ab: Übersteigt seine Konzentration im Kern einen bestimmten niedrigen Schwellenwert, wird die Transkription gewisser Gene unterdrückt; überschreitet sie einen bestimmten höheren Wert, wird eine Reihe von anderen Genen aktiviert, die für die weitere Entwicklung wichtig sind. Die allmähliche Zunahme an Dorsal-Protein von Kern zu Kern entlang der Achse führt dazu, dass die beiden Gengruppen auf entgegengesetzten Seiten des Embryos transkribiert werden.
Der Gradient von Dorsal bildet sich aber auf ganz andere Weise als der von Bicoid. Die dorsal-RNA ist im Gegensatz zur bicoid-RNA nicht auf eine Stelle beschränkt; auch bleibt insgesamt gesehen die Konzentration an Dorsal-Protein entlang der Dorsoventralachse des Embryos gleich. Was aber hier variiert, ist der Anteil des Proteins, der aus dem Plasma in die Kerne aufgenommen wurde. Auf der künftigen Rückenseite findet es sich nur im Plasma, zur künftigen Bauchseite hin dagegen zunehmend in den Kernen konzentriert. Dies haben Christine W. Rushlow und Michael S. Levine von der Columbia-Universität in New York sowie mein Kollege Siegfried Roth und ich festgestellt.
Wie entsteht dieser eigenartige Gradient aus kernlokalisiertem Dorsal? Ein Protein namens Cactus, das mit Dorsal einen Komplex eingeht, hält es im Zellplasma zurück. Auf der künftigen Bauchseite wird jedoch über einen Aktivierungsweg, an dem mindestens zehn weitere Proteine beteiligt sind, der Komplex gespalten und das nun freie Dorsal dort in die Kerne aufgenommen.
Die stoffliche Natur des Signals, das diesen Prozeß auslöst, ist noch immer unklar. Der Faktor ist jedenfalls in der Vitellinmembran konzentriert, die als äußere Hülle das abgelegte befruchtete Ei umschließt. Zwar wird er bereits während der Bildung der Eier im mütterlichen Organismus erzeugt, doch seine Wirkung – die Aufnahme von Dorsal in die Kerne – entfaltet er erst mehrere Stunden später: in Embryonen mit sich schnell teilenden Kernen. Der Signalstoff muß deshalb sehr stabil sein.
Durch diffizile Experimente haben mein Kollege David Stein und ich sowie Kathryn V. Anderson und ihre Mitarbeiter an der Universität von Kalifornien in Berkeley herausgefunden, dass gewisse frühe Proteinkomponenten des Aktivierungswegs in den mütterlichen Follikelzellen hergestellt werden, die das reifende Ei umgeben. Andere erzeugt die Eizelle selbst; sie werden entweder im Cytoplasma oder in der Eizellmembran deponiert, einige aber auch in den Spalt zwischen Eizellmembran und Vitellinhülle abgesondert. Anfangs sind diese Proteine gleichmäßig in ihrem jeweiligen Kompartiment verteilt. Dann wird das Signal, das die künftige Bauchseite kennzeichnet, aktiv. Es scheint eine Kaskade von Wechselwirkungen zwischen den Proteinen des Aktivierungswegs auszulösen. Über sie wird nach dem Stafettenprinzip die Information ins Innere des Eies weitergeleitet.
Dieses informationsübermittelnde System beruht vermutlich selbst auf mehreren Gradienten. Wahrscheinlich bildet sich der erste davon in dem Spaltraum zwischen Vitellinhülle und Membran des Eies aus, weil dort große Proteine leicht diffundieren können. Er verursacht dann wohl eine abgestufte Aktivierung eines Rezeptors in der Zellmembran. Die Rezeptormoleküle würden daraufhin an der inneren, der cytoplasmatischen Seite der Membran ein entsprechend abgestuftes Signal an die nächste Instanz weitergeben und so fort, bis sich schließlich der Dorsal-Gradient in den Kernen bildet.
Das von außen kommende Signal, das die Bildung embryonaler Muster längs der Dorsoventralachse initiiert, umgeht somit elegant das Problem der Diffusionsbarriere: Der primäre Gradient baut sich außerhalb der Eizelle in einem Raum auf, in dem große Moleküle leicht diffundieren können, und die so geschaffene Information gelangt dann, vermittelt durch ein System verschiedener nachgeschalteter Proteine, von einem Kompartiment in ein anderes, von außen nach innen. Das Endresultat ist eine abgestufte Verlagerung eines Proteins, das ursprünglich gleichmäßig im Embryo verteilt war, in die Zellkerne.
Vom Einfachen zum Komplexen
Was ist aus diesen Forschungsergebnissen zu folgern? Vor dem Nachweis von Gradienten wurde angenommen, Morphogene müßten wohl eine spezielle Klasse von Molekülen mit ungewöhnlichen, einzigartigen Eigenschaften sein. Das ist eindeutig nicht der Fall. Im frühen Drosophila-Embryo können ganz »gewöhnliche« Proteine aus verschiedenen biochemischen Funktionsklassen Positionsinformationen vermitteln. Einige sind Enzyme (Kinasen oder Proteasen etwa), andere sind membranständige Rezeptoren oder ihre Bindungspartner, wieder andere, wie Bicoid und Dorsal, Transkriptionsfaktoren.
In manchen Fällen, wie bei dem Prozeß, der die Dorsoventralachse festlegt, wird ein zunächst durch Diffusion entstandener Gradient über eine molekulare Kaskade mehrmals kopiert, durch eine Serie von Aktivierungen nachgeschalteter Proteine. In anderen Fällen wirken Gradienten hemmend. Der von Nanos beispielsweise unterdrückt die Nutzung einer bestimmten, gleichmäßig in der Eizelle verteilten RNA und läßt so einen Gradienten mit umgekehrter Polarität entstehen.
Bei allen bisher untersuchten Reaktionswegen ist das Endergebnis ein Gradient eines Morphogens, das als Transkriptionsfaktor fungiert: Als Aktivator oder als Repressor kontrolliert es die Transkription eines oder mehrerer Gene in konzentrationsabhängiger Weise. Häufig verlaufen solche Gradienten in ihrem Einflußbereich recht flach: So nimmt die Konzentration von Bicoid und Dorsal längs ihrer Achse im Embryo nur allmählich exponentiell ab. Trotzdem haben dann die Produkte ihrer Zielgene eine ziemlich scharf begrenzte Verteilung. Wie kann das erreicht werden?
Eine Möglichkeit ist, dass mehrere Moleküle – entweder der gleichen Art oder jeweils verschiedene – zusammenwirken, um die Transkription einzuleiten. Durch solche Kooperativität wird der Prozeß schärfer von der Konzentration einer oder mehrerer Komponenten kontrolliert, wie man von anderen Regulatorsystemen weiß. Tatsächlich enthalten Zielgene, die durch das bicoid- oder das Dorsal-Protein aktiviert werden, mehrere benachbarte Bindungsstellen, und das oft für verschiedene Transkriptionsfaktoren, die möglicherweise modulierend wirken.
Manche morphogenetischen Gradienten haben offenbar nur einen einzigen An-Aus-Effekt: Wenn die Konzentration des Morphogens einen kritischen Schwellenwert überschreitet, wird ein Zielgen aktiviert, sonst nicht. In anderen Fällen lösen verschiedene Konzentrationen unterschiedliche Reaktionen aus. Es ist dieser Gradiententypus, der für die Zunahme an Komplexität in einem sich entwickelnden Organismus besonders wichtig ist.
Zwar kontrolliert jeder morphogenetische Gradient anscheinend nur wenige Zielgene direkt, doch können Wechselwirkungen mit Kofaktoren, die auch die Transkription beeinflussen, die Reaktionen auf ihn grundlegend verändern. Solche Mechanismen kombinatorischer Regulation ermöglichen die Entstehung hochkomplexer Muster aus ursprünglich einfachen Systemen. So kann ein als Kofaktor fungierendes Protein die Affinität eines Morphogens zum Promotorbereich eines Gens modifizieren und dadurch einen kritischen Schwellenwert nach oben oder unten verschieben. Ein Kofaktor kann aber auch einen aktivierenden Transkriptionsfaktor zu einem Repressor machen. Das Potential für die Schaffung komplexer Muster wird klar, wenn man bedenkt, dass die Kofaktoren selbst in einem Konzentrationsgradienten verteilt sein können.
Dadurch, dass sich mehrere Gradienten in einer embryonalen Zone überschneiden, läßt sich diese noch weiter unterteilen, was zusätzliche Komplexität schafft. So erzeugen die drei Systeme, welche die Längsachse des Drosophila-Embryos definieren, zusammen zunächst vier voneinander unabhängige Gradienten mit jeweils ein oder zwei Zielgenen (das terminale System, jenes für die beiden äußersten Enden, bringt zwei Gradienten eines noch unbekannten Proteins hervor). Auf diese Weise werden mindestens sieben Regionen längs der Achse eindeutig durch eine unterschiedliche Kombination von Genaktivierungen definiert. Am Vorderende, wo sich der bicoid-Gradient mit dem noch nicht identifizierten Terminal-Gradienten überschneidet, werden Kopfstrukturen ausgebildet, während der Terminal-Gradient allein das Hinterende produziert.
Kombinatorische Regulation als ein wichtiges Prinzip der Musterbildung tritt in späteren Entwicklungsstadien von Drosophila noch deutlicher in Erscheinung. Zum Beispiel codieren die Zielgene der ersten Gradienten selbst wieder für Transkriptionsfaktoren. Diese sekundären Faktoren diffundieren ebenfalls, bilden somit selbst Gradienten aus. Bei unterschiedlichen Schwellenkonzentrationen wirkt jeder Faktor auf eigene nachgeschaltete Zielgene. In bestimmten Fällen heben oder senken andere Transkriptionsfaktoren, deren Einflußbereiche sich überlagern, die Höhe dieser Schwellen. Konzentrationsabhängigkeit und kombinatorische Regulation ergeben zusammen ein vielseitiges Repertoire musterbildender Mechanismen, die die im Erbgut verschlüsselten Körperbaupläne zu verwirklichen vermögen.
Bei Drosophila erzeugen die ersten einfachen Zonen ein periodisches Muster aus Querstreifen von Genaktivitäten in dem Bereich des sich entwickelnden Embryos, der später in der Larve segmentiert ist. Dieses Muster wiederum steuert die Bildung eines weiteren mit noch feineren Streifen, das dann direkt die Merkmale eines jeden embryonalen Segments festlegt.
Sobald sich der Embryo in einzelne Zellen aufteilt, können Transkriptionsfaktoren nicht mehr zu anderen Zellkernen diffundieren. Darum beruhen die späteren Schritte der Musterverfeinerung auf einer Kommunikation zwischen benachbarten Zellen, wobei wahrscheinlich spezielle signalübertragende Mechanismen die Weitergabe von Informationen durch die Zellmembranen vermitteln.
Noch sind viele weitere Details zu klären, bis wir uns ein vollständiges Bild davon machen können, wie sich der Drosophila-Embryo entwickelt. Einige der Grundprinzipien aber haben wir, wie ich meine, bereits verstanden, und diese können viel weiter reichende Erkenntnisse für die Zoologie bringen als erwartet. Eine der großen Überraschungen der letzten fünf Jahre war nämlich die Entdeckung, dass gemeinsame grundlegende Mechanismen, mit ähnlichen Genen und Transkriptionsfaktoren, im gesamten Tierreich während der frühen Embryonalentwicklung am Werk sind.
Die Grundlagenforschung an einem geeigneten Modellsystem hat damit allgemeine Einsichten geliefert, mit deren Hilfe sich eines Tages vielleicht auch Abläufe bei der menschlichen Embryonalentwicklung besser verstehen lassen. Jetzt schon ermöglicht hat sie eine Erklärung eines Phänomens der Biologie: wie aus Einfachem Komplexes wird.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben