Januar 1987: Das Higgs-Boson
Die wahrhaft fundamentalen Probleme der Physik lassen sich immer mit einfachen Worten erklären — ohne komplizierte Gleichungen oder mathematische Beweisführung. Zumindest sagte mir das so einst Victor F. Weisskopf, ein herausragender Physiker, der gerne solche Erklärungen abgibt; er dürfte durchaus recht haben. Sicherlich stimmt es für ein hypothetisches, aber bisher nicht gefundenes Teilchen, das Higgs-Boson und das dazugehörige Higgs-Feld.
Dieses Boson ist nach Peter W. Higgs von der Universität Edinburgh benannt. Es ist der letzte wichtige noch fehlende Bestandteil der vorherrschenden Theorie, die wir heute als das Standardmodell der elementaren Prozesse bezeichnen — der Theorie, welche die Grundbausteine der Materie und die fundamentalen Kräfte beschreibt, über die sie miteinander wechselwirken.
Gemäß dem Standardmodell besteht alle Materie aus Quarks und Leptonen, die über vier Kräfte miteinander wechselwirken: Gravitation, Elektromagnetismus, schwache Kraft und starke Kraft. Die starke Kraft beispielsweise bindet die Quarks zu Protonen und Neutronen; die verbleibende starke Kraft bindet Protonen und Neutronen zu Atomkernen. Die elektromagnetische Kraft bindet Kerne und die zu den Leptonen gehörigen Elektronen zu Atomen, die restliche elektromagnetische Kraft bindet Atome zu Molekülen.
Die schwache Kraft ist für bestimmte Arten des Kernzerfalls verantwortlich. Der Einfluß der schwachen und der starken Kraft erstreckt sich nur über einen sehr kurzen Abstand, nicht größer als der Radius eines Atomkerns; Gravitation und Elektromagnetismus haben unbeschränkte Reichweite und sind daher die uns vertrautesten aller Kräfte.
Obwohl wir viel über das Standardmodell wissen, sprechen manche Gründe dafür, daß es unvollständig ist. Hier kommt das Higgs-Boson ins Spiel: Es sorgt für die mathematische Konsistenz des Standardmodells und macht diese Theorie dadurch für Energiebereiche anwendbar, die außerhalb der Reichweite der gegenwärtigen Generation von Teilchenbeschleunigern liegen, die aber schon bald von künftigen Beschleunigern erreicht werden könnten. Außerdem stellt man sich vor, daß das Higgs-Boson die Massen aller Elementarteilchen erzeugt. Anschaulich gesprochen: Die Teilchen verleiben sich das Higgs-Boson ein und werden dadurch schwer.
Der größte Mangel dieses Konzepts besteht darin, daß es bislang keine experimentellen Hinweise für die Existenz des Higgs-Bosons gibt. Statt dessen sammeln sich indirekte Hinweise darauf, daß das schwer nachweisbare Teilchen gar nicht existiert. Die moderne theoretische Physik füllt in der Tat das Vakuum gern mit merkwürdigen Partikeln wie dem Higgs-Boson, so daß es nachgerade erstaunlich ist, daß man in einer klaren Nacht noch die Sterne sehen kann.
Doch wenn auch künftige Beschleuniger direkte Hinweise für die Existenz des Higgs-Bosons finden und sich die Argumente für seine Existenz damit als korrekt erweisen würden, glaube ich nicht, daß die Dinge so einfach liegen werden. Meiner Meinung nach ist zwar nicht das ganze Standardmodell falsch; es ist jedoch vermutlich nur eine —wenn auch sehr gute — Näherung der Wirklichkeit.
Obwohl der einzig legitime Grund für die Einführung des Higgs-Bosons darin besteht, das Standardmodell mathematisch konsistent zu machen, hat man einem begrifflich einfacheren Vorschlag große Aufmerksamkeit gewidmet: der Idee, daß dieses Teilchen die Massen aller anderen Teilchen erzeugt. Ich will deshalb mit diesem Thema beginnen.
Massenerzeugung
Für das Verständnis der Massenerzeugung durch das Higgs-Boson ist der Begriff Feld von zentraler Bedeutung. Unter einem Feld versteht man eine physikalische Größe — wie etwa die Temperatur —, die an jedem Punkt eines bestimmten Bereichs in Raum und Zeit definiert ist, beispielsweise auf der Oberfläche einer Bratpfanne. In der Physik ist der Begriff Feld meist Größen wie dem Gravitationsfeld oder dem elektromagnetischen Feld vorbehalten.
Felder machen sich durch den Austausch vermittelnder Teilchen bemerkbar; beim elektromagnetischen Feld ist beispielsweise das Photon oder Lichtquant das vermittelnde Teilchen. Die entsprechenden Teilchen für das Gravitationsfeld, das schwache und das starke Feld sind das Graviton (das noch nicht entdeckt worden ist), drei schwache Vektorbosonen (W+ , W- und Z°) sowie acht Gluonen. Ganz analog ist das Higgs-Boson das Teilchen, das zu dem vorgeschlagenen Higgs-Feld gehört.
Man nimmt nun an, daß es im gesamten Raum ein konstantes Higgs-Feld gibt — das Vakuum im Weltraum wäre also nicht leer, sondern enthielte vielmehr dieses konstante Feld. Das Higgs-Feld erzeugt Massen, indem es an Teilchen koppelt. Je nach Stärke der Kopplung hat ein Teilchen im Raum eine bestimmte potentielle Energie. Gemäß Albert Einsteins berühmter Gleichung E = mc2 (Energie gleich Masse mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit) ist diese Kopplungsenergie einer Masse äquivalent: Je stärker die Kopplung, desto größer die Masse.
Die Art und Weise, wie Teilchen über ihre Wechselwirkung mit dem HiggsFeld Masse bekommen, läßt sich entfernt mit dem Aufsaugen von Tinte durch Löschpapierschnitzel vergleichen. In einer solchen makroskopischen Analogie entsprechen die Papierstückchen einzelnen Teilchen, während die Tinte die Energie oder Masse darstellt. Ähnlich wie Papierstückchen verschiedener Größe und Dicke unterschiedlich viel Tinte aufnehmen, »saugen« verschiedene Teilchen wie W- oder Z-Bosonen unterschiedliche Mengen von Energie oder Masse auf. Die beobachtete Masse eines Teilchens hängt von seiner Energieaufnahmefähigkeit und von der Stärke des Higgs-Feldes im Raum ab.
Das Higgs-Feld
Was sind nun die typischen Merkmale des vorgeschlagenen Higgs-Feldes? Um Teilchen mit Masse zu versehen, muß das Higgs-Feld — falls es existiert — sogar im Vakuum einen überall gleichen, von Null verschiedenen Wert annehmen. Es wäre überdies ein skalares Feld, bei dem jedem Punkt eine einzige Größe oder Zahl zugeordnet ist. Der andere wichtige Feldtyp zur Beschreibung von Wechselwirkungen zwischen Teilchen ist das Vektorfeld; darin ist je der Punkt durch einen Vektor — einen Pfeil — charakterisiert. Ein Vektor hat sowohl eine Größe, die durch die Länge des Pfeils dargestellt wird, als auch eine Richtung. Die elektromagnetischen, schwachen und starken Felder sind alle Vektorfelder. (Das Gravitationsfeld ist eine spezielle Größe, die man als Tensorfeld bezeichnet.)
Das vorgeschlagene Higgs-Feld muß ein Skalarfeld sein; denn wäre es ein Vektorfeld oder ein Tensorfeld, so hinge die Masse eines Teilchens im allgemeinen von seiner Ausrichtung bezüglich des Feldes ab. In einem stark vereinfachten makroskopischen Analogon würde sich die Masse einer Person ändern, falls sie sich an einem festen Platz herumdrehte. Das Higgs-Feld darf demnach keinen Spin (Eigendrehimpuls) haben.
Da das Higgs-Feld spinlos ist, muß das Higgs-Boson es ebenfalls sein. Der Spin eines Elementarteilchens ist eine quantenmechanische Eigenschaft, deren Analogon im Rahmen der klassischen Physik der Drall einer rotierenden Kugel ist. Elementarteilchen können nur ganzzahlige (0, 1, 2, und so weiter) oder halbzahlige (1/2, 3/2, und so weiter) Werte für den Spin annehmen. Teilchen mit ganzzahligem Spin heißen Bosonen, solche mit halbzahligern Spin Fermionen. Bosonen und Fermionen haben deutlich unterschiedliche Eigenschaften, jedoch will ich auf diesen Punkt hier nicht weiter eingehen.
Das Higgs-Boson ist ein skalares Boson, weil es Spin 0 hat. Die meisten anderen Bosonen, die mit Feldern verknüpft sind, sind Vektorbosonen mit Spin 1. Dazu gehören beispielsweise das Photon, das Gluon und die W+ –, W- und Z0-Bosonen.
Da die Vektorbosonen typisch für die Vermittlung der fundamentalen Kräfte der Natur sind, das Higgs-Boson dagegen ein Skalar ist, muß die Kraft, über die Teilchen an das Higgs-Feld koppeln, eine neue Kraft sein. Man hat sie allein zu dem Zweck eingeführt, die mathematische Konsistenz des Standardmodells zu verbessern. Die Higgs-Kraft verhält sich mathematisch ähnlich wie die kürzlich in die Diskussion gebrachte »Fünfte Kraft«, über die Ephraim Fischbach von der Purdue-Universität in West Lafayette (Indiana) berichtete; sie ist jedoch schwächer und hat eine wesentlich kürzere Reichweite als die »Fünfte Kraft«.
Die Higgs-Kraft ist keine universelle Kraft, denn sie koppelt in verschiedener Weise an unterschiedliche Teilchen. Hat ein Teilchen Masse, so nimmt man an, daß die Stärke der Kopplung an das Higgs-Feld gerade die richtige Größe hat, um die beobachtete Masse zu erzeugen. Vermutlich koppelt das Higgs-Feld nicht an das Photon, denn die Experimente zeigen, daß das Photon masselos ist. Aber offensichtlich koppelt es an die W+ –, W- –, und Z0-Teilchen, weil diese intermediären Vektorbosonen Masse haben. Zusätzlich zu der Masse, die Teilchen über das Higgs-Feld erhalten, könnten sie prinzipiell auch eine eigene Masse haben. Im Standardmodell kann jedoch merkwürdigerweise nicht ein einziges Teilchen eine eigene Masse haben, ohne daß dadurch die mathematische Vollständigkeit der Theorie zerstört würde.
Vom physikalischen Standpunkt aus ist wenig gewonnen durch die Hypothese, das Higgs-Boson sei für die Masse verantwortlich. Beispielsweise weiß man nicht, warum das Higgs-Feld an manche Teilchen stärker koppeln sollte als an andere. Auch verstehen die Theoretiker nicht, wie die (unbekannte) Masse des Higgs-Bosons selbst zustande kommt; vermutlich ist sie vorwiegend ein Effekt der Selbstwechselwirkung mit dem Higgs-Feld. Unwissen über den Ursprung der Teilchenmassen wird also lediglich ersetzt durch die Unkenntnis der Teilchen-Higgs-Kopplung, ohne daß physikalische Einsicht gewonnen würde.
Schwierigkeiten mit der Gravitationstheorie
Die Einführung des Higgs-Bosons verursacht außerdem ein schwerwiegendes Problem für die Gravitationstheorie. Die Äquivalenz von Masse und Energie hat zur Folge, daß das Graviton, das an alles koppelt, was Masse hat, auch an alles koppelt, was Energie hat — das Higgs-Feld eingeschlossen. Die Kopplung des Gravitons an das überall im Weltall vorhandene Higgs-Feld würde eine riesige kosmologische Konstante ergeben; das Universum würde dadurch zu einem Objekt etwa von der Größe eines Fußballs zusammengekrümmt.
Hätte das Higgs-Boson etwa die gleiche Masse wie die schwachen Vektorbosonen, wäre die Energiedichte des Higgs-Feldes im Vakuum zehn Billionen mal größer als die Materiedichte in einem Atomkern. Komprimierte man die Erde auf diese Dichte, so hätte sie ein Volumen von etwa 500 Kubikzentimetern, wäre also etwas größer als eine Getränkedose. Es erübrigt sich zu sagen, daß dies der experimentellen Erfahrung widerspricht.
Natürlich haben die Theoretiker einen Ausweg erdacht: Man nimmt einfach an, das »wahre« Vakuum (ohne Higgs-Feld) sei im negativen Sinne gekrümmt — mit einer kosmologischen Konstante von der gleichen Größe, aber entgegengesetztem Vorzeichen wie die vom Higgs-Feld erzeugte. Führt man jetzt das Higgs-Feld ein, wird der Raum flach; es entsteht das uns bekannte Universum.
Diese Lösung ist natürlich nicht sehr befriedigend, und es hat nicht an scharfsinnigen Versuchen gefehlt, das Problem der riesigen kosmologischen Konstanten zu lösen. Keinem dieser Versuche war Erfolg beschieden. Die Lage ist eher schlechter geworden, weil die Theoretiker weiterhin mehr und mehr Teilchen und Felder im Vakuum abladen. Vielleicht ist das Universum infolge der Dynamik der Urknallexplosion auf irgendeine Weise flach geworden; diese Explosion hat — nach heutiger Lehrmeinung — das Universum vor 15 bis 20 Milliarden Jahren geschaffen.
So wie die Theorie formuliert ist —mit einem Higgs-Feld —, widerspricht sie nicht unmittelbar den Beobachtungen, wenn man auch das schwer glaubhafte Verschwinden der kosmologischen Konstanten akzeptieren muß. In den letzten zehn Jahren sind Erweiterungen der Theorie mit zusätzlichen Higgs-Feldern vorgeschlagen worden; aber obwohl die Begründungen für solche Erweiterungen oft als zwingend erscheinen, sind die Phänomene, die mit zusätzlichen Feldern verknüpft sind, entweder nie beobachtet worden, oder sie widersprechen den Experimenten.
Um beispielsweise auf elegante Art gewisse Symmetrien der starken Wechselwirkung zu erklären, führten Helen R. Quinn vom Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) in Kalifornien und Roberto Peccei vom Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg ein zweites Higgs-Feld ein. Die entsprechende Theorie sagte ein neues und vermutlich sehr leichtes Teilchen vorher, das Axion. Bislang ist jedoch das Axion trotz umfangreicher Suchaktionen nicht gefunden worden.
Des weiteren hat diese Theorie dramatische kosmologische Konsequenzen, die das Phänomen der sogenannten Bereichswände betreffen. Ganz allgemein stellt eine Bereichswand die Grenze dar, an der zwei Gebiete mit unterschiedlichen Eigenschaften aneinanderstoßen. Es gibt sie beispielsweise in Permanentmagneten, in denen ein Gebiet, in dem die Spins der Atome in eine Richtung ausgerichtet sind, an ein anderes grenzt, in dem die Spins in eine andere Richtung zeigen.
Man nimmt an, daß aufgrund bestimmter Higgs-Felder im frühen Universum Bereichswände entstanden sind. Unmittelbar nach dem Urknall war die Temperatur extrem hoch, so daß kein Higgs-Feld existieren konnte. Nach einer gewissen Zeit der Abkühlung hätte sich jedoch ein Hintergrund-Higgs-Feld bilden können; es hätte dabei höchstwahrscheinlich in verschiedenen Raumgebieten unterschiedliche Eigenschaften angenommen — es sei denn, der Abkühlungsvorgang wäre völlig gleichmäßig gewesen. In welchem Maße durch das Aufeinanderprallen solcher Bereiche merkliche oder sogar stürmische Phänomene entstanden sein könnten, hängt von den detaillierten Eigenschaften der Higgs-Felder ab; aber man sollte sicherlich irgendeine Art von Effekt in Zusammenhang mit dem attraktiven Vorschlag von Quinn und Peccei erwarten dürfen.
Die Frage ist, warum man keine Bereichswände zwischen solchen Regionen beobachtet hat. Es könnte bedeuten, daß es kein Higgs-Feld gibt oder daß die Natur nur vorsichtigen Gebrauch davon gemacht hat. Eine Alternative wäre, daß die Wände schon früh in der Geschichte des Universums verschwunden sind. Es ist geradezu typisch: Man entwickelt eine faszinierende Idee, bringt dann ein Higgs-Feld ins Spiel, und schon geht alles schief. Dies erweckt sicherlich kein besonderes Vertrauen in den gesamten Mechanismus.
Die Einführung eines zusätzlichen Higgs-Feldes bringt auch Schwierigkeiten in einem Modell mit sich, das beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: in der sogenannten großen vereinheitlichten SU(5) Theorie. Das allgemeine Ziel vereinheitlichter Theorien besteht darin, die vier Kräfte aus einer einzigen fundamentalen Kraft herzuleiten. In den letzten beiden Jahrzehnten hat man die sogenannte elektroschwache Theorie formuliert und experimentell bestätigt; dies war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer großen vereinheitlichten Theorie. In der elektroschwachen Theorie sind die elektromagnetische Kraft und die schwache Kraft Manifestationen der gleichen zugrunde liegenden Wechselwirkung. Die Theorie wurde 1983 auf dramatische Weise bestätigt: Damals entdeckte man am europäischen Physik-Forschungszentrum CERN die W+ –, W- und Z0- Teilchen.
Große vereinheitlichte Theorien
Die große vereinheitlichte SU(5)-Theorie macht den Versuch, die starke und die elektroschwache Kraft zu einer gemeinsamen Kraft zu verküpfen. Die Bezeichnung SU(5) bezieht sich auf die mathematische Symmetriegruppe, die der Theorie zugrunde liegt. Unter normalen Bedingungen verhalten sich die starke, die schwache und die elektro-magnetische Kraft ganz verschieden; gemäß der SU(5)-Theorie werden sie ununterscheidbar, wenn Teilchen mit Energien um die 1015 Milliarden Elektronenvolt (GeV) wechselwirken. Die Vereinheitlichung der starken mit der elektroschwachen Kraft erfordert die Existenz eines weiteren Satzes von Vektorbosonen, deren Massen mehrere Größenordnungen über denen der schwachen Vektorbosonen liegen sollten. Da die neuen Vektorbosonen so schwer sind, benötigen sie ein eigenes Higgs-Feld. In der SU(5)-Theorie enthält das Vakuum daher zwei Higgs-Felder, die an verschiedene Teilchen mit unterschiedlicher Stärke koppeln.
Die wichtigste Konsequenz der SU(5)-Theorie besteht darin, daß sich Quarks über die neuen Vektorbosonen in Leptonen verwandeln können. Die Folge ist, daß das Proton — dieses »unsterbliche« Gebilde aus drei Quarks —in leichtere Teilchen zerfallen könnte, etwa in ein Positron (ein Lepton, das man sich als ein positiv geladenes Elektron vorstellen kann) und in ein neutrales Pion (ein Meson, das aus zwei Quarks besteht).
Geht man von der Existenz zweier Higgs-Felder aus, kann man die Zerfallsrate von Protonen berechnen. Experimente, die in den letzten Jahren durchgeführt worden sind, haben jedoch keinen solchen Zerfall nachgewiesen (siehe »Die Suche nach dem Protonenzerfall« von J.M. LoSecco, Frederick Reines und Daniel Sinclair in Spektrum der Wissenschaft, August 1985). Offenbar geben also die SU(5)- Theorie oder das Higgs-Feld (oder beide) kein völlig korrektes Bild der physikalischen Wirklichkeit. Ich glaube aber, daß die wesentlichen Konzepte der SU(5)-Theorie langfristig bestehen werden.
Falls die SU(5)-Theorie korrekt ist und das Higgs-Feld existiert, ergibt sich eine weitere Folgerung : In den ersten 10-35 Sekunden des Universums sollten magnetische Monopole erzeugt worden sein. Ein Beispiel für einen magnetischen Monopol ist ein isolierter Pol eines Stabmagneten. (Im Makroskopischen gibt es solche Objekte natürlich nicht, denn wenn man einen Stabmagneten in zwei Hälften schneidet, erhält man zwei kleinere Stabmagneten, aber keine isolierten Nord- und Südpole.)
Die Anhäger der SU(5)-Theorie haben unterschiedliche Ansichten über die Zusammensetzung der Monopole und auch darüber, wieviele Monopole existieren sollten. Die allgemeine Ansicht ist, daß der Monopol eine — für ein Elementarteilchen — riesige Masse besitzen sollte, vielleicht das 1016 bis 1017-fache der Masse des Protons.
Zwar gab es gelegentlich Meldungen, Monopole seien experimentell nachgewiesen worden, bisher ließ sich jedoch keiner dieser Berichte bestätigen; die Natur scheint alles, was mit Higgs-Feldern zu tun hat, nicht zu mögen. Die Suche nach Monopolen geht indes weiter (siehe »Die Suche nach den magnetischen Monopolen« von Richard A. Carrigan jr. und W. Peter Trower in Spektrum der Wissenschaft, Juni 1982).
Es gibt einen weiteren Hinweis darauf, daß die Natur beim Einsatz von Higgs-Bosonen sparsam ist — falls sie diese Teilchen überhaupt benutzt. In der elektroschwachen Theorie entsteht bereits eine Beziehung zwischen den Massen der W-Bosonen und jener des Z0-Bosons, wenn man nur den einfachen Typ von Higgs-Feldern zugrunde legt. Diese Beziehung wird durch einen Faktor beschrieben — den sogenannten Rho-Parameter —, der im wesentlichen durch das Verhältnis der W-Boson-Masse zur Z0-Boson-Masse gegeben ist. (Es gibt dazu noch Korrekturfaktoren, die uns hier nicht zu kümmern brauchen.) Der erwartete Wert für den Rho-Parameter ist 1, der experimentelle Wert 1,03 mit einem geschätzten Fehler von 5 Prozent. Gibt es mehr als ein Higgs-Feld, kann der Rho-Parameter jeden beliebigen Wert annehmen. Falls die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment nicht zufällig ist, gibt es also nur ein Higgs-Feld.
Existiert das Higgs-Boson?
An dieser Stelle muß man ernsthaft die Frage stellen, ob das Higgs-Boson überhaupt in der Natur existiert. Ich erwähnte bereits, daß der einzige legitime Grund für die Einführung des Higgs-Bosons darin besteht, das Standardmodell mathematisch konsistent zu machen. Historisch hat die Einführung des HiggsBosons aus Gründen der mathematischen Konsistenz nichts mit seiner Einführung zur Erzeugung der Masse zu tun.
Diese zweite Einführung des Higgs-Bosons erfolgte in sogenannten ModellbauTheorien, die ein möglichst gutes Modell für die Natur darstellen sollen. Zu den Forschern, die in dieser Richtung gearbeitet haben, gehören Sidney A. Bludman von der Universität von Pennsylvania, der den Hauptteil des Modells mit W-Bosonen vorgeschlagen hat, und Sheldon Lee Glashow von der Harvard-Universität, der den Elektromagnetismus in Bludmans Modell einführte. Steven Weinberg von der Universität von Texas ersetzte den Teil des Modells, der die Massen betrifft, durch den Higgs-Mechanismus zur Massenerzeugung; dabei verwendete er Methoden, die Thomas W. B. Kibble vom Imperial College of Science and Technology in London entwickelt hatte. Die Einfügung von Quarks in die VektorbosonenTheorie gelang Nicola Cabibbo und Luciano Maiani von der Universität Rom, Y. Hara von der Universität Tsukuba, Glashow und John Iliopoulos von der Ecole Normale Superieure in Paris.
Alle diese Arbeiten entstanden über einen recht langen Zeitraum, von 1959 bis 1970. Im gleichen Zeitraum wurden viele andere Modelle veröffentlicht, aber keine der Arbeiten — einschließlich der eben zitierten — erregte Aufmerksamkeit unter den Physikern. Die meisten Autoren glaubten sogar ihre eigenen Theorien nicht und verfolgten das Gebiet nicht weiter — mit Ausnahme von Glashow und Iliopoulos. Der Grund für diese Ungläubigkeit war offensichtlich: Niemand konnte konkrete Ergebnisse ausrechnen. Die damals bekannten mathematischen Methoden führten zu unsinnigen Antworten. Es gab daher keine Möglichkeit, experimentelle Ergebnisse vorherzusagen.
Als ich im Jahre 1968 das verfügbare Material überdachte, kam ich zu dem Schluß, daß Yang-Mills-Theorien (eine allgemeine Klasse von Theorien, zu der das Standardmodell als Spezialfall gehört) für das Verständnis der schwachen Wechselwirkung notwendig seien und daß kein Fortschritt ohne Lösung der mathematischen Schwierigkeiten möglich wäre. Ich begann deshalb in einer Richtung zu arbeiten, die ich als »mathematische Theorie« bezeichnen möchte: Es wird wenig Wert darauf gelegt, inwieweit die Theorie den experimentellen Beobachtungen entspricht —man konzentriert sich statt dessen auf den mathematischen Inhalt.
In dieser Richtung war ich keineswegs der erste Forscher. Die Schöpfer waren C. N. Yang und Robert L. Mills vom amerikanischen Brookhaven National Laboratory. Richard P. Feynman vom California Institute of Technology, L. Faddeev von der Universität Leningrad, Bryce S. DeWitt von der Universität von North Carolina und Stanley Mandelstam von der Universität von Kalifornien in Berkeley hatten bereits wichtige Beiträge auf diesem sehr schwierigen Gebiet der mathematischen Theorie geleistet.
Auch ich habe die Arbeit nicht zum Abschluß gebracht. Die abschließende Veröffentlichung war die Doktorarbeit meines früheren Studenten Gerard 't Hooft, damals an der Universität Utrecht, aus dem Jahre 1971. Zu dieser Zeit glaubten nur wenige Forscher, daß die Arbeiten substantielle Fortschritte im physikalischen Verständnis ermöglichen könnten. Mehr als einmal sagte man mir mehr oder weniger höflich, daß ich, mit den Worten von Sidney R. Coleman von der Harvard-Universität, »einen abgelegenen Winkel der schwachen Wechselwirkung sauberfegen« würde. Eine bemerkenswerte Ausnahme war eine russische Gruppe unter der Leitung von E. S. Fradkin an der Universität Moskau, die bedeutende Beiträge leistete.
Mathematische Theorie und Modellbau-Theorie
Interessanterweise liefen die Modellbau-Theorie und die mathematische Theorie über viele Jahre fast unabhängig nebeneinander her. Ich muß gestehen, daß ich bis zum Jahre 1971 nichts über die Einführung des Higgs-Bosons in die Modellbau-Theorie wußte; das gilt auch für 't Hooft. Ich erinnere mich deutlich, wie ich bei einer Gelegenheit zu ihm sagte, daß seine Arbeit meiner Meinung nach etwas mit dem Goldstone-Theorem zu tun hätte (das ist ein Konzept aus der Modellbau-Theorie). Da keiner von uns das Theorem kannte, starrten wir uns gegenseitig verdutzt an und beschlossen dann, uns nicht weiter darüber den Kopf zu zerbrechen. Wieder einmal kam der Fortschritt durch »Nicht-know-how« , ein Ausspruch, den Weisskopf geprägt hat.
Fortschritte in Richtung der mathematischen Theorie zeigten schließlich, daß die elektroschwache Theorie mathematisch besser definiert wird und größere Vorhersagekraft erlangt, wenn man das Higgs-Boson einführt. Genauer gesagt macht das Higgs-Boson die Theorie renormierbar: Mit wenigen Parametern kann man im Prinzip experimentell beobachtbare Größen mit jeder gewünschten Genauigkeit berechnen. Im Gegensatz dazu hat eine nichtrenormierbare Theorie keine Vorhersagekraft über eine gewisse Grenze hinaus: Die Theorie ist unvollständig; manche Probleme haben unsinnige Lösungen.
Ich muß jedoch darauf hinweisen, daß die elektroschwache Theorie auch ohne HiggsBoson wichtige Vorhersagen über die Kräfte zwischen Elementarteilchen machen kann. Diese Kräfte untersucht man in Hochenergiephysik-Laboratorien mit Hilfe von Streuexperimenten. In solchen Experimenten wird ein Strahl hochenergetischer Teilchen auf ein Ziel- oder »Target«-Teilchen geschossen. Beispielsweise kann man einen Elektronenstrahl an einem Proton streuen; durch die Analyse des Streumusters erhält man Informationen über die Kräfte.
Die elektroschwache Theorie sagt korrekt das Streumuster vorher, wenn Elektronen mit Protonen wechselwirken. Sie beschreibt ebenfalls korrekt die Wechselwirkung von Elektronen mit Photonen, mit W-Bosonen und mit Neutrinos. Die Theorie gerät jedoch in Schwierigkeiten beim Versuch, die Wechselwirkung von W-Bosonen untereinander vorherzusagen. Insbesondere besagt die Theorie, daß bei genügend hohen Energien die Wahrscheinlichkeit für die Streuung eines W-Bosons an einem anderen größer als 1 ist. Ein solches Ergebnis ist natürlich unsinnig. Es entspräche der Aussage, daß auch ein Schütze, der in Gegenrichtung zur Scheibe zielt, ins Schwarze trifft.
Hier erscheint das Higgs-Boson als Retter in der Not. Es koppelt mit dem W-Boson derart, daß die Streuwahrscheinlichkeit innerhalb der erlaubten Grenzen zwischen 0 und 1 liegt — das widersinnige Verhalten verschwindet. Eine detailliertere Beschreibung der Art, wie das Higgs-Boson die elektroschwache Theorie renormierbar macht, erfordert eine Darstellung in Form der sogenannten Feynman-Diagramme.
Hat man eingesehen, daß zur Renormierbarkeit der elektroschwachen Theorie das Higgs-Boson notwendig ist, so ist naheliegend, wie die Suche nach dem flüchtigen Teilchen vonstatten gehen sollte : Schwache Vektorbosonen müssen bei extrem hohen Energien von einer Billion Elektronenvolt (TeV) oder mehr aneinander gestreut werden. Die benötigten Energien könnten mit dem vorgeschlagenen supraleitenden Super-Collider (SSC) erreicht werden, der zur Zeit in den USA diskutiert wird — dort ist eine Maximalenergie von 20 TeV geplant (siehe »Der supraleitende Super-Collider« von J. David Jackson, Maury Tigner und Stanley Wojcicki in Spektrum der Wissenschaft, Mai 1986).
Folgt das Muster der gestreuten Teilchen den Vorhersagen der renormierten elektroschwachen Theorie, muß es eine kompensierende Kraft geben, für die das Higgs-Boson der offensichtliche Kandidat wäre. Wenn das Experiment dagegen nicht mit der Vorhersage übereinstimmt, würde das schwache Vektorboson höchstwahrscheinlich über eine starke Kraft wechselwirken — eine neue Ära der Physik würde sich auftun.
Eine Schwierigkeit bei der Suche nach dem Higgs-Boson besteht darin, daß seine Masse nicht eingeschränkt ist. Aus Experimenten weiß man, daß die Masse größer als 5 Milliarden Elektronenvolt (5 GeV) sein muß. Die Theorie gibt uns keinen Hinweis darauf, wie schwer das Higgs-Boson sein könnte —mit einer Ausnahme: Beträgt seine Masse 1 TeV — das ist etwa das Tausendfache der Protonenmasse — , so verursacht das Higgs-Boson einige derjenigen Probleme, zu deren Beseitigung es erfunden wurde. Man könnte dann die schwachen Vektorbosonen nicht länger als elementare Teilchen ansehen — sie wären vielmehr aus kleineren Teilchen zusammengesetzt.
Das Konzept zusammengesetzter Strukturen ist natürlich nichts Neues in der Geschichte der Physik. Zu Beginnn dieses Artikels erwähnte ich fünf Schichten derartiger Strukturen: Moleküle, Atome, Kerne, Nukleonen (Protonen und Neutronen) sowie Quarks und Leptonen. Sieht man das Higgs-Boson als zusammengesetztes Teilchen an, so ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Vermutung, daß auch solche »fundamentalen« Teilchen wie Quarks und Leptonen in Wahrheit aus noch kleineren Teilchen zusammengesetzt sind (siehe »Wie elementar sind Quarks und Leptonen?« von Haim Harari in Spektrum der Wissenschaft, Juni 1983).
In gewissem Sinn schließt die Annahme einer sechsten Schicht von Strukturen jenseits von Quarks und Leptonen den Kreis. Traditionsgemäß erklärte man freie Parameter durch Hinabsteigen zu einer tieferliegenden Struktur. Der Erfolg der Modelle zusammengesetzter Teilchen bei der Vorhersage der Energieniveaus von Atomen und Atomkernen legt nahe, daß sich auch Massen berechnen lassen, wenn man die Struktur auf einer tieferliegenden Schicht berücksichtigt.
Im Standardmodell ist das Higgs-Boson für alle beobachteten Massen verantwortlich. Selbst wenn ein Teilchen wie das Higgs-Boson gar nicht wirklich existieren sollte, muß es deshalb zumindest eine gemeinsame Quelle für alle Massen geben. Die Suche nach dem Higgs-Boson könnte sich schließlich und endlich als das gleiche herausstellen wie die Suche nach einer tieferen Struktur der Elementarteilchen.
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