Gesundheit: Nehmen psychische Krankheiten zu?
Haben Sie auch manchmal das Gefühl, dass unsere Welt immer stressiger wird? Dass mehr und mehr Menschen über Ängste und Niedergeschlagenheit klagen? Könnte es sein, dass die Globalisierung, digitaler Medienkonsum, wirtschaftliche Krisen und Entfremdung uns zunehmend psychisch krank machen? Leben wir vielleicht sogar in einem Zeitalter der Depression?
Richtig ist, dass einige Menschen sich gestresster fühlen als früher. Das hat etwa mit den Veränderungen der Arbeitswelt der letzten Jahrzehnte zu tun. Körperlich harte Jobs haben an Bedeutung verloren, dafür sind die mentalen Anforderungen gewachsen: soziale Kompetenzen, Selbstverantwortung und lebenslanges Lernen, um mit den stetigen Veränderungen mitzuhalten. Viele Menschen mit psychischen Störungen kämpfen auf Grund dessen mit Problemen, die sie früher nicht im selben Maß hatten. Dass solche Entwicklungen jedoch vermehrt Störungen verursachen, ist empirisch nicht belegt. Die heutigen Arbeitsbedingungen erschweren also zwar manchen Menschen die Teilhabe und schaffen Behandlungsbedarf bei jenen, die nicht mehr mitkommen; sie machen aber nicht per se krank.
Denn im Allgemeinen können wir uns erstaunlich gut auf neue Anforderungen einstellen. Das gilt auch für die beschleunigte Arbeitswelt. Und wir sollten nicht vergessen, dass sich im Lauf der letzten Jahrzehnte einiges zum Besseren gewendet hat: Unser Lebensstandard ist gestiegen, die Gesundheitsversorgung ist so gut wie nie, und wir können unser Leben freier gestalten als die meisten Generationen vor uns. Dies alles sind wichtige Ressourcen, die psychischen Störungen entgegenwirken.
Epidemiologische Feldstudien, die die Verbreitung psychischer Störungen in der deutschen Bevölkerung untersuchen, sprechen nicht dafür, dass psychische Störungen vermehrt um sich greifen. Sie finden relativ konstant eine Prävalenz von 20 bis 30 Prozent – so etwa der »Bundesgesundheitssurvey« oder die »Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland« (DEGS) aus den Jahren 2009 bis 2012. In solchen groß angelegten Untersuchungen werden bei einer umfangreichen Stichprobe, die die Bevölkerung in wichtigen Merkmalen abbildet, psychische Symptome anhand gängiger Diagnosekriterien abgefragt. Wer bei so einer Studie als krank identifiziert wird, befindet sich allerdings nicht zwangsläufig schon in Behandlung und wird daher nicht unbedingt in anderen Krankenstatistiken erfasst.
Das ist ein entscheidender Punkt, denn laut den Abrechnungsdaten der Rentenversicherungen und Krankenkassen ist die Zahl psychischer Diagnosen sehr wohl angestiegen. Möglicherweise entsteht der Eindruck, psychische Erkrankungen würden zunehmen, also einfach dadurch, dass sich mittlerweile mehr Menschen wegen solcher Probleme behandeln lassen. Existiert haben sie jedoch schon immer. Verantwortlich ist eher ein gesteigertes Bewusstsein für psychische Befindlichkeiten. Auf Grund dieses Kulturwandels nehmen heute mehr Menschen psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung in Anspruch, als das früher der Fall war.
Doch ein stark ausgeweitetes Therapieangebot genügt offenbar nicht, um dem Anstieg psychischer Diagnosen zu begegnen. Das Versorgungssystem ist anscheinend nicht effektiv genug, um die Krankheitsbelastung in der Bevölkerung zu senken. In der Tat sind etwa die Prävention psychischer Störungen sowie die Vernetzung der verschiedenen Versorgungs- und Hilfesysteme in Deutschland noch deutlich ausbaufähig.
Zwar führt die beginnende Entstigmatisierung durchaus auch dazu, dass manche Diagnosen zu leichtfertig vergeben werden. Das drängendere Problem ist aber immer noch das Gegenteil: Viele Behandlungsbedürftige werden erst spät erkannt oder fallen ganz durchs Raster. An welchen Stellen wir heute über- oder unterversorgt sind, ist eine komplizierte und emotional aufgeladene Frage. Doch egal, ob psychische Störungen nun real zugenommen haben oder nicht – es lohnt sich, weiter in die seelische Gesundheit zu investieren.
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