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Schwarzmalerei: Ist der Mensch auf Trübsinn geeicht?

Warum die meisten denken, dass alles immer schlimmer wird, obwohl es uns eigentlich immer besser geht.
Traurige Frau streicht eine Wand schwarz

Die Nachrichten erwecken oft den Eindruck, es gehe mit der Welt ständig abwärts. Doch so schlimm, wie es scheint, ist es womöglich nicht. Das jedenfalls legen Experimente nahe, die in der Zeitschrift »Science« veröffentlicht wurden. Demnach neigen wir dazu, einen Rückgang sozialer Probleme wie extremer Armut oder Gewalt nicht wahrzunehmen, im Gegenteil: Es erscheine uns sogar so, als würde alles noch schlimmer.

Die Forscher unter Leitung des Psychologen Daniel Gilbert von der Harvard University fanden heraus, dass Menschen unbewusst ihre Definition von Begriffen verändern – etwa davon, was als unmoralisch gilt – je nachdem, ob sie den konkreten Fällen oder Beispielen für diese Konzepte öfter oder seltener begegnen. »In den meisten Belangen wird die Welt immer besser«, sagt Gilbert, der sich unter anderem als Glücksforscher einen Namen gemacht hat. »Aber wann immer wir ein Problem lösen, erweitern wir daraufhin unbewusst unsere Definition dessen, was wir als ein solches Problem betrachten.«

Dass sich Konzepte ausweiten können, ist an sich keine neue Beobachtung. 2016 führte der Sozialpsychologe Nicholas Haslam von der University of Melbourne in Australien die Idee des »concept creep« ein (siehe »Kurz erklärt«). Haslams Beobachtung: Einst als harmlos erachtete Fälle würden mit der Zeit zunehmend für problematisch gehalten und beispielsweise als Missbrauch, Mobbing, Trauma, psychische Störung, Sucht oder Vorurteil eingestuft.

Kurz erklärt: »concept creep«

Bezeichnet das Phänomen, dass Begriffe, die sich auf negative Aspekte des menschlichen Erlebens und Verhaltens beziehen, ihre Bedeutung auf andere oder weniger extreme Phänomene ausdehnen (nach Nicholas Haslam, University of Melbourne)

Zuweilen wird über die veränderte Bedeutung solcher Konzepte und Vorstellungen auch öffentlich debattiert. Einige Kritiker argumentieren, dass sich darin eine aus dem Ruder laufende politische Korrektheit zeige, während andere behaupten, darin würde sich vielmehr ein wachsendes soziales Bewusstsein widerspiegeln. Gilbert enthält sich in dieser Diskussion. »Die Ausdehnung eines Begriffs ist nicht zwangsläufig eine gute oder schlechte Sache«, sagt er. »Die Wissenschaft hat dazu keine Meinung.« Er und andere Forschende seien einfach daran interessiert, das Phänomen besser zu verstehen.

Eine Reihe politischer, sozialer und wirtschaftlicher Faktoren dürften zu dem Phänomen beitragen. Die neue Studie belegt jedoch, dass psychische Vorgänge ebenfalls beteiligt sind: »Dies ist das erste Mal, dass jemand einen kognitiven Mechanismus nachweist, der das Phänomen erklären könnte«, sagt Haslam.

In einem der Experimente präsentierte Gilberts Team Versuchspersonen eine Serie von 1000 Punkten in abgestuften Farben: von tiefblau bis eindeutig violett. Die Teilnehmer sollten bei jedem Punkt sagen, ob er blau war oder nicht. Ein Teil von ihnen bekam mit der Zeit immer weniger blaue und immer mehr violette Punkte zu sehen. Am Ende des Experiments bezeichneten diese Teilnehmer die Töne in der Mitte des Farbspektrums vermehrt als blau, darunter auch Punkte, die sie zu Beginn nicht für blau gehalten hatten.

Der Wandel vollzog sich offenbar unbewusst und auch dann, wenn die Freiwilligen vorab mitgeteilt bekamen, dass die blauen Punkte mit der Zeit seltener auftauchen würden. An dem Ergebnis änderte auch die Anweisung nichts, die Farben möglichst konsistent, also mit gleich bleibender Messlatte zu beurteilen; selbst dann nicht, wenn die Forscher eine Belohnung für denjenigen versprachen, der die Farben am konsistentesten beurteilte. An der Farbe selbst lag es auch nicht, denn es funktionierte ebenso andersherum: Kamen mit der Zeit mehr blaue Punkte, beurteilten die Teilnehmer jene in der Mitte des Farbspektrums seltener als blau – sie entwickelten anscheinend einen engeren Begriff der Farbe Blau.

Dieser Beitrag ist im Original unter dem Titel »The despondent mind: Are our brains wired for doom and gloom?« bei »Scientific American« erschienen.

Als Nächstes wiederholten die Forscher den Versuch mit einem anderen Konzept. Sie zeigten den Teilnehmern eine Reihe von computergenerierten Gesichtern, die vorab auf einem Kontinuum von völlig harmlos bis äußerst gefährlich eingestuft worden waren. Die Versuchspersonen sollten nun ebenfalls beurteilen, ob sie ein bestimmtes Gesicht als Bedrohung empfanden oder nicht, aber mit der Zeit präsentierten die Forscher einem Teil von ihnen immer weniger von den bedrohlichen Gesichtern. Auch hier tendierten die Probanden dazu, relativ harmlose Gesichter zunehmend als gefährlich einzuschätzen.

Für eine weitere Variante des Experiments ließ Gilberts Team unabhängige Gutachter Hunderte von Forschungsanträgen erfinden, die nach ihrem Ermessen mehr oder weniger ethisch zulässig waren. (Ein Beispiel: »Die Teilnehmer werden gebeten, an gefrorenen menschlichen Fäkalien zu lecken. Danach dürfen sie sich den Mund spülen, und es wird die Menge des verwendeten Mundwassers gemessen.«) Nun sollten Freiwillige die Rolle eines Ausschusses übernehmen, der die ethische Zulässigkeit von Forschungsprojekten an Universitäten überwacht. Sie bekamen eine Reihe von Anträgen vorgelegt, die sie entweder genehmigen oder ablehnen konnten. Jener Teil der Probanden, der mit der Zeit immer weniger offenkundig unmoralische Vorschläge unterbreitet bekam, lehnte daraufhin vermehrt auch unproblematischere Vorschläge ab.

»Bevor wir ein Problem zu lösen versuchen, sollten wir uns überlegen, was wir als Lösung gelten lassen«
Daniel Gilbert, Professor für Psychologie an der Harvard University

»Eine sehr kreative, provokante Studie«, findet Scott Lilienfeld, Professor für Psychologie an der Emory University in Atlanta, der nicht selbst an der Studie beteiligt war. Ihre Stärke liege darin, in mehreren verschiedenen Situationen den gleichen Effekt belegt zu haben: bei der einfachen Farbwahrnehmung ebenso wie bei komplexen ethischen Urteilen. Nun gelte es herauszufinden, so Lilienfeld, »in welchem Ausmaß sich der Effekt auf die reale Welt außerhalb des Labors übertragen lässt«.

Gilbert und sein Team wollen Modelle für die zu Grunde liegenden Denkprozesse entwickeln: Was genau bewirkt, dass Menschen ihre Konzepte von der Welt erweitern, wenn sie seltener auf entsprechende Beispielfälle stoßen? Ein praktisches Fazit hat der Psychologe schon gezogen: »Wir neigen dazu, ein Problem nicht vorab bis zu seinem möglichen Ende zu durchdenken. Bevor wir es zu lösen versuchen, sollten wir uns überlegen, was wir als Lösung gelten lassen.« Bei vielen realen Problemen, räumt Gilbert ein, sei das vorab aber nur schwer möglich.

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