Wahrnehmung: Ist Sehen unser wichtigster Sinn?
Der Verlust welcher Ihrer fünf Sinne – Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken – würde Ihnen am meisten Sorgen bereiten? Falls Sie sich fürs Sehen entscheiden, sind Sie in guter Gesellschaft: Die Mehrheit der Menschen empfindet das Sehen als ihren wichtigsten Sinn. Forscherinnen und Forschern geht es offenbar ähnlich. In der einschlägigen Fachliteratur finden sich viel mehr Studien zur visuellen Wahrnehmung als zu allen anderen Sinneskanälen. Weshalb ist das eigentlich so?
Oft wird angenommen, dass wir uns die Welt in erster Linie über die Augen erschließen und unser Gehirn entsprechend auf die Verarbeitung visueller Reize spezialisiert ist. Doch ist dieser Eindruck tatsächlich richtig? Dass sehende Menschen sich bei den meisten Verrichtungen ihres Alltags in irgendeiner Weise auf die visuelle Wahrnehmung verlassen, ist offenkundig. Der Verlust des Sehsinns wäre daher sicher ein herber Einschnitt. Andererseits können auch blinde Menschen mit etwas Unterstützung durchaus aktiv am Leben teilnehmen. Und ob es uns wirklich weniger einschränken würden, wenn wir einen unserer anderen Sinne verlören, bleibt dabei ebenfalls offen.
Der Ausfall anderer Sinnesmodalitäten kann uns mindestens genauso sehr einschränken wie der Verlust des Sehens
Nehmen wir zum Beispiel den Tastsinn. Ein vollständiger Funktionsausfall des Berührungsempfindens ist überaus selten, aber er kommt vor – und hat dramatische Auswirkungen, wie das Beispiel von Ian Waterman zeigt. Durch eine Virusinfektion, die einen Großteil seiner Sinnesnerven vom Hals abwärts schädigte, verlor der Patient das Gefühl für seinen Körper und dessen Position im Raum. Er konnte fortan weder sitzen noch stehen, vom Laufen ganz zu schweigen. Erst durch mühsames, monatelanges Training gelang es ihm, einige dieser Fähigkeiten zurückzuerlangen. Dabei lernte er, die Stellung und Bewegung seiner Glieder permanent visuell zu kontrollieren. Allein schon dieser Fall zeigt: Der Ausfall anderer Sinnesmodalitäten kann uns mindestens genauso sehr einschränken wie der Verlust des Sehens.
Prüfen wir eine zweite weit verbreitete Annahme: die Spezialisierung des menschlichen Gehirns auf die Verarbeitung visueller Reize. Trotz der Tatsache, dass die visuellen Areale innerhalb des menschlichen Neokortex beträchtlichen Raum einnehmen, ist auch dieses Narrativ auf den zweiten Blick weniger klar. Zum einen ist mittlerweile bekannt, dass Verarbeitungsprozesse im Gehirn nicht in streng unterteilten Modulen ablaufen – so verarbeiten die »visuellen« Areale durchaus häufig auch nichtvisuelle Informationen. Zum anderen ist die Größe eines Hirnareals nur ein möglicher Parameter unter vielen zur Bestimmung der Wichtigkeit. Man könnte beispielsweise die Anzahl der Rezeptortypen oder die absolute Größe des jeweiligen Sinnesorgans als Indikator heranziehen. Und hier nimmt das Sehen bei Weitem keinen Spitzenplatz innerhalb der Sinnesmodalitäten ein.
Hinzu kommt ein weiterer, ziemlich entscheidender Faktor: Die Bedeutung, die wir den verschiedenen Sinnen beimessen, unterliegt historischen und kulturellen Schwankungen. Dass uns das Sehen derart wichtig erscheint, hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir in einer von visuellen Medien geprägten Gesellschaft leben. So wurden Informationen und Geschichten vor der kulturellen Revolution des Buchdrucks sehr oft mündlich tradiert.
Ist das Sehen also unser wichtigster Sinn? Ja und nein. Oder besser gesagt: Es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. Vielleicht ist die Frage auch einfach falsch gestellt, weil sie uns zwingt, etwas in eine Rangreihenfolge zu bringen, was sich nicht gut mit den Kategorien wichtig und weniger wichtig beschreiben lässt. Jeder unserer Sinne erschließt uns einen Ausschnitt unserer Umwelt. Unser Leben wäre sicherlich ärmer und weniger facettenreich, wenn wir auf einen unserer Sinne verzichten müssten – ganz egal auf welchen.
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