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Sucht: Können Drogen beim ersten Konsum abhängig machen?

Wie lange dauert es, bis sich feste Konsumgewohnheiten herausbilden?
Mehrere Medikamentengläser mit dem Opiat Oxycodon.

Diese Frage habe ich kürzlich einem meiner Patienten gestellt. Er hatte nach vielen Jahren seine Opiatabhängigkeit überwunden und engagiert sich jetzt in der Drogenprävention. Seine Antwort war eindeutig: »Ja!« Aus seiner Sicht hatte schon die erste berauschende Erfahrung bei ihm zum Kontrollverlust geführt.

Das mag sich für die Betroffenen subjektiv so anfühlen. Aus medizinischer Perspektive muss man dem jedoch klar widersprechen. Eine Sucht zeichnet sich dadurch aus, dass der Abhängige sein selbstzerstörerisches Verhalten nicht aufgeben kann. Bis es so weit kommt, sind einige Zwischenschritte nötig. Was mein Patient beschrieb, ist vielmehr ein evolutionär sehr alter Lernprozess, der den Weg in eine Sucht ebnen kann. Dieses »Belohnungslernen«, auch operante Konditionierung genannt, ist enorm wichtig für die Herausbildung grundlegender Verhaltensweisen wie Nahrungssuche oder Fortpflanzung. Zudem beeinflusst es die Vermeidung von Schmerzen und Gefahren: Was uns einmal Lust verschafft hat, wiederholen wir; was uns wehtut, meiden wir.

Das neuronale Belohnungssystem wird immer dann aktiv, wenn wir Glücksgefühle empfinden. Daran beteiligt sind Botenstoffe wie Dopamin und körpereigene Opiate, etwa Endorphine. Genau hier greifen auch Substanzen mit Suchtpotenzial an. So kann beispielsweise Kokain schon beim ersten Konsum bestimmte Synapsen im Belohnungssystem verändern. Allerdings sind diese zellulären Umbauten nicht Auslöser des Suchtverhaltens, sondern stellen eher eine vorübergehende Anpassungsreaktion dar. Ohne fortgesetzten Drogenkonsum bilden sie sich über kurz oder lang zurück.

Die Erfahrung beim ersten »High«-Sein bestimmt, ob man erneut zur Droge greift oder in Zukunft lieber die Finger davon lässt. War das Erlebnis positiv, können sich stabile Konsummuster herausbilden. In dieser Phase ist der Gebrauch von psychoaktiven Substanzen in der Regel zielgerichtet: Der Nutzer möchte mit ihrer Hilfe seinen geistigen oder emotionalen Zustand verändern, beispielsweise sein Konzentrationsvermögen oder Selbstbewusstsein steigern oder sich schlicht einen »Kick« verschaffen.

Im Lauf der Zeit kann daraus eine Gewohnheit entstehen. Der Griff zur Droge erfolgt dann nicht mehr intentional, sondern wird unbewusst wie ein gelernter Reflex ausgelöst. Das ist nicht viel anders als beim berühmten pawlowschen Hund, der beim Klang einer Glocke wie auf Knopfdruck Speichel absondert. Oft reicht eine bestimmte Situation aus, um das Verlangen zu entfachen. So greifen viele Raucher in geselliger Runde oder nach dem Essen automatisch zur Zigarette.

Wie lange es dauert, bis sich feste Konsumgewohnheiten herausbilden, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Neben der Wirkung der jeweiligen Droge sowie der Häufigkeit und den Umständen der Einnahme spielen auch die Persönlichkeitsmerkmale des Nutzers eine Rolle. Das Rauchen habitualisiert schnell, da die Wirkung des Nikotins unmittelbar nach der Inhalation zu spüren ist und das Rauchritual sehr häufig wiederholt wird. Bei zehn Zügen pro Zigarette und zehn Zigaretten pro Tag sind das allein schon 100 Gelegenheiten.

Sowohl der zielgerichtete Gebrauch als auch der gewohnheitsmäßige Konsum unterscheiden sich jedoch fundamental von einer echten Drogenabhängigkeit. Bei einer Sucht fällt es dem Betroffenen sehr schwer aufzuhören, selbst wenn er sich damit offensichtlich immens schadet. Er leidet zugleich unter einer chronisch negativen Stimmung und einem zwanghaften Verlangen. Die Sucht steht am Ende eines pathologischen Lernprozesses, bei dem es zu langfristigen Fehlanpassungen auf molekularer und psychologischer Ebene kommt. Unter regelmäßigen Rauchern ist schätzungsweise jeder Dritte in diesem Sinn abhängig, bei Alkoholkonsumenten beträgt der Anteil etwa fünf Prozent.

Selbst »harte« Drogen müssen also entgegen der landläufigen Meinung nicht zwangsläufig in die Sucht führen. Die meisten amerikanischen Vietnamkriegsveteranen, die im Dschungelkampf regelmäßig Heroin genommen hatten, konnten nach ihrer Rückkehr in die Heimat ohne große Probleme damit aufhören. Warum der pathologische Prozess bei manchen Menschen eintritt, während andere die Kontrolle behalten, bleibt Gegenstand intensiver Forschung.

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  • Quellen

Sommer, W. H.: Pathophysiology of Alcohol Addiction. In: Boyle, P. et al. (Hg.): Alcohol. Science, Policy, and Public Health, 2013, S. 84–96

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