Können Flüsse rückwärtsfließen?
Am 26. Juli 2006 war es wieder so weit: Die Havel veränderte ihren Lauf – und floss zwischen den Städten Brandenburg und Rathenow plötzlich rückwärts. Die mehrwöchige Dürre in Brandenburg ließ manche ihrer Zuflüsse teilweise austrocknen und den Grundwasserspiegel beträchtlich absinken. Statt wie üblich 58 Kubikmeter Wasser pro Sekunde in Richtung Elbe bewegten sich plötzlich nur mehr deren zwölf, allerdings gen Quelle.
Doch nicht nur die mangelnden Niederschläge haben Schuld an dieser Geisterfahrt, obwohl es in jenem Sommer – zumindest bis Anfang August – dort lokal außerordentlich wenig geregnet hat. Wichtiger ist der niedrige Höhenunterschied, den der Fluss zwischen seiner Quelle im Müritz-Nationalpark Mecklenburg-Vorpommerns und der Mündung in die Elbe in Sachsen-Anhalt überwindet: Er beträgt nur 40,6 Meter auf einer Distanz von etwa 325 Kilometern. Die Havel ist damit ein typischer Tieflandfluss, der mit zumeist sehr niedriger Geschwindigkeit sanft mäandrierend durch seine weiten Auen schweift. Ist die Wassermenge darin zu niedrig, steht der Strom bisweilen auch still, wie es im Sommer 2006 an der Spree im Spreewald ebenfalls zeitweise vorkam.
An der Havel trat allerdings noch ein Sondereffekt hinzu: Damit der Elbe-Havel-Kanal trotz allgemeinen Wassermangels weiterhin schiffbar blieb, wurde dem Fluss mehr Wasser entnommen, als ihm zuträglich war – erst wegen dieser Maßnahme war die Umkehr perfekt.
Es gibt jedoch ebenso Fälle, in denen sich die Fließrichtung aus natürlichen Gründen zumindest zeit- und abschnittsweise dreht. Ein bekanntes Beispiel betrifft den Amazonas, dessen enorme Wassermassen scheinbar stetig jahraus, jahrein in den Atlantik drängen. Während Voll- und Neumond, wenn Sonne, Mond und Erde in einer Reihe stehen, werden jedoch zweimal am Tag durch so genannte Springfluten ebenfalls Wassermassen aus dem Meer in die Mündung des Urwaldstroms gedrückt. Bis zu einer Höhe von vier Metern baut sich dann eine "Pororoca" getaufte Welle auf, die entgegen der Strömung flussaufwärts rollt. Sie erreicht dabei Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 50 Kilometern pro Stunde und läuft je nach Pegel im Amazonas und je nach Stärke der Springflut bis zu 300 Kilometer landeinwärts.
Ihr Kommen kündigt die Welle durch einen infernalischen Lärm an, den die einheimischen Tupi-Indianer als "poroc-poroc" bezeichnen – daher der Name. Gewarnt vom Lärm ziehen sie sich vom Fluss zurück, denn die Kraft der Pororoca entwurzelt Bäume, untergräbt Flussufer und kann auch Hütten mitreißen. Einzelne wagemutige Surfer nutzen sie heute als dauerhafte Brandung und reiten auf ihr teilweise kilometerweit, sie laufen jedoch immer Gefahr, von mitgeschwemmten Schlangen gebissen oder durch treibende Baumstämme verletzt zu werden.
Ähnliche Phänomene treten übrigens in allen Teilen der Welt auf. Die größte oberflächliche Strömungsumkehr jagt beispielsweise den chinesischen Fluss Qiantang hinauf: Sie kann bis zu stattliche 8,9 Meter hoch werden und beschleunigt auf immerhin bis zu 40 Kilometer pro Stunde. Im britischen Severn lässt sich das Phänomen 250-mal im Jahr beobachten. Und im Lupar Benak in Malaysia wäre 1949 fast der englische Schriftsteller Somerset Maugham ertrunken, als er sich während eines Besuchs beim lokalen Rajah zu nahe an die Fluten wagte.
Der Amazonas wiederum hat womöglich seinen Lauf vor Äonen generell radikal umgekehrt, denn er strömte bis vor etwa zehn Millionen Jahren von Ost nach West und mündete irgendwo zwischen Iquitos und Guayaquil in den damaligen Pazifik. Denn ursprünglich war er wohl schon Teil Gondwanas, wo er in der heutigen Sahara entsprang und über 14 000 Kilometer westwärts floss. Diese Richtung behielt der so genannte Uramazonas auch dann noch bei, als sich Südamerika und Afrika trennten und in entgegengesetzte Richtungen davondrifteten.
Erst als sich vor etwa 25 Millionen Jahren die Anden am Westrand Südamerikas auffalteten, wurde sein Lauf nach und nach blockiert, und das Wasser sammelte sich in einem riesigen Binnensee, der sich letztlich vor fünf Millionen Jahren gen Atlantik zu entleeren begann. Noch sind nicht alle Zweifel an dieser Theorie ausgeräumt, doch sprechen einige Indizien stark dafür: So verengt sich der Verlauf des Stroms in seinem Mündungsbereich, während sich sein Becken im ehemaligen Deltagebiet des heutigen Binnenlands im Westen deutlich weitet. Weiterhin leben einige Fischarten, die eng mit pazifischen Meeresfischen verwandt sind, wie verschiedene Rochen, die Süßwassersardine oder der Hornhecht, erneut vornehmlich im andennahen Amazonasraum. Und auch die Flussdelfine der Gattung Inia stammen ursprünglich wohl aus dem Pazifik.
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