Gewalt: Neigen psychisch kranke Menschen eher zu Gewalt?

Dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung unberechenbar seien, ist eine weit verbreitete Vorstellung. Auch in Medienberichten etwa über Amokläufe und andere Gewalttaten wird häufig spekuliert, der Täter oder die Täterin könne psychisch krank gewesen sein. Das ist ein Problem, denn die häufige Verknüpfung von psychischen Leiden und Gefährlichkeit in der öffentlichen Wahrnehmung befeuert das Stigma, unter dem Menschen mit seelischen Störungen und ihre Angehörigen ohnehin leiden. Was ist also wirklich dran?
In den letzten Jahren kamen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen in dieser Frage zu einer eindeutigen Einschätzung: Einige psychische Erkrankungen sind tatsächlich mit einem erhöhten Risiko für gewalttätiges Verhalten verbunden. Vor allem ist das die Schizophrenie, die häufig mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen einhergeht, sowie Suchterkrankungen. Gerade wenn Drogenprobleme und andere psychische Leiden zusammenkommen, liegt das Risiko für schweres gewalttätiges Verhalten im Schnitt etwa zehnmal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung. Etwas geringer fällt das Risiko bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen aus. Besonders häufig kommen Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung mit dem Gesetz in Konflikt. Gewaltbereitschaft ist hier bereits ein eigenes Diagnosekriterium. Ein nicht ganz so stark erhöhtes Risiko, gewalttätig zu werden, tragen dagegen Menschen mit Depressionen, manischen Störungen oder einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Hier fällt es im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung im Schnitt zirka dreimal höher aus, wobei es große Unterschiede zwischen den jeweiligen Erkrankungen gibt.
Die allermeisten Menschen mit psychischen Problemen, 98 bis 99 Prozent, sind statistisch nicht gefährlicher als andere Personen
Das mag zunächst erschreckend klingen, relativiert sich aber schnell, wenn man die konkrete Größenordnung betrachtet. Eine Überblicksarbeit, die 2021 im Fachblatt »Lancet Psychiatry« erschien, kam zu dem Schluss, dass von den psychisch Kranken mit dem höchsten Risiko – also Personen mit Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie oder Suchterkrankungen – nur etwa sechs bis zehn Prozent gewalttätig werden. Die allermeisten Menschen mit seelischen Problemen dagegen, 98 bis 99 Prozent, sind statistisch nicht gefährlicher als andere Personen. Experten gehen davon aus, dass selbst unter den Patienten mit Schizophrenie bloß drei Prozent gewaltbereiter sind als der Durchschnittsbürger. Man sollte demnach nicht vorschnell von dem allgemein erhöhten Risiko einer Gruppe auf den Einzelnen schließen.
Der beste Schutz ist eine gute Therapie
Außerdem darf man eines nicht vergessen: Von psychischen Erkrankungen betroffene Menschen befinden sich in vielen Fällen in Lebenssituationen, die ganz unabhängig von der eigentlichen Erkrankung mit einer erhöhten Gewaltneigung einhergehen. Sie sind zum Beispiel häufiger sozial isoliert oder arbeitslos. Sie werden überdurchschnittlich oft Opfer von Gewalt, was wiederum eigenes aggressives Verhalten begünstigt.
Hinzu kommt: Ob ein Patient oder eine Patientin gewalttätig wird, hängt nicht so sehr von der Diagnose an sich ab, sondern davon, ob sich die Symptomatik zu einem bestimmten Zeitpunkt gravierend zuspitzt, es etwa zu starker Impulsivität oder feindseligen Wahnvorstellungen kommt. So zeigt sich, dass beispielsweise bei Schizophrenien die Gewaltrate besonders hoch ist, wenn die Erkrankung erstmals ausbricht und die Symptomatik akut ist. Wenn wahnerkrankte Menschen drohen, sich oder anderen etwas anzutun, sollte man das also immer ernst nehmen und ihnen umgehend professionelle Hilfe zukommen lassen. Der beste Schutz vor Gewalt durch psychische kranke Menschen liegt allgemein in einer guten Früherkennung und professionellen Versorgung.
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