Orgasmuslücke: Warum kommen Frauen beim Sex seltener als Männer?
Frauen kommen beim Sex seltener zum Höhepunkt als Männer – ein Phänomen, das Mediziner und Psychologen »Orgasmuslücke« getauft haben. Obwohl der Begriff relativ neu ist, wurde das Phänomen bereits vor mehr als 20 Jahren in der Literatur beschrieben. So zeigte unter anderem eine 2010 erschienene, repräsentative Befragung unter knapp 2000 US-Bürgern, dass 91 Prozent der Männer, aber nur 64 Prozent der Frauen beim letzten Sex einen Orgasmus hatten.
Diese Lücke lässt sich nicht einfach durch biologische Unterschiede erklären, denn die Geschlechter unterscheiden sich grundsätzlich nicht in ihrer Fähigkeit, einen Orgasmus zu erreichen. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass beim Masturbieren beide etwa gleich lang bis zum Höhepunkt brauchen. Bei Frauen kann das Feuerwerk der Lust zudem mehrfach kurz hintereinander zünden, während Männer nach der Ejakulation eine gewisse Zeit brauchen, um wieder erregt werden zu können. Und: Frauen, die mit Frauen Sex haben, erleben deutlich häufiger einen Orgasmus als Frauen, die mit Männern schlafen – etwa 85 gegenüber rund 65 Prozent.
Daher geht man heute davon aus, dass die Gründe für die Orgasmuslücke nicht in der Biologie liegen, sondern in der Art, wie die meisten heterosexuellen Paare den Sex gestalten. Für viele ist Sex gleichbedeutend mit dem Eindringen des Penis in die Vagina. Dieses Verständnis von »echtem« Sex vernachlässigt jedoch die Bedürfnisse der Frau. Die meisten benötigen für einen Orgasmus nämlich eine direkte Stimulation der Klitoris – zum Beispiel mit der Hand oder der Zunge. Die höhere Orgasmusrate beim lesbischen Sex liegt unter anderem gerade daran, dass Frauen, die Sex mit Frauen haben, die Klitoris stärker einbeziehen.
Dass Frauen beim Sex mit Männern teils weniger auf ihre Kosten kommen, hat wahrscheinlich auch soziokulturelle Gründe, denn bei heterosexuellem Sex steht oft der männliche Orgasmus im Fokus. Selbst Frauen neigen traditionell zu der Überzeugung, dass Männer mehr Anspruch auf sexuelles Vergnügen haben. So baten die Sozialpsychologin Terri Conley und ich in einer 2022 erschienenen Studie Menschen, sich eine erotische Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau vorzustellen. Anschließend sollten sie sich vorstellen, nur einer von beiden könnte einen Orgasmus haben. Wer sollte das sein? Ergebnis: Zwei Drittel wählten den männlichen Orgasmus.
Mit diesem Ergebnis im Hinterkopf überrascht es nicht, dass es häufig als Höhe- und Schlusspunkt des Sex gilt, wenn der Mann gekommen ist. Ist diese Überzeugung einmal internalisiert, kann es passieren, dass Frauen das sexuelle Lustempfinden des Partners über ihr eigenes stellen.
Eine Studie an knapp 13 000 US-amerikanischen Studierenden belegte 2012 jedoch auch, dass sich die Orgasmuslücke im Verlauf einer Beziehung zunehmend schließen kann. Beim ersten Sex mit einem neuen Liebhaber kamen Frauen im Schnitt nur ein Drittel so oft wie Männer, bei wiederholtem unverbindlichem Sex etwa halb so oft – in festen Beziehungen hingegen erreichten die Frauen etwa 80 Prozent der Orgasmusrate von Männern.
»Bei heterosexuellem Sex steht oft der männliche Orgasmus im Fokus«
Aber warum kommen Frauen in festen Beziehungen häufiger als beim Gelegenheitssex? Männer schenken in einer Beziehung nichtkoitalen Sexpraktiken oft mehr Aufmerksamkeit. Im Vergleich zu One-Night-Stands kommt es zu einem ausgiebigeren Vorspiel. Außerdem bekommen Frauen von ihrem festen Partner eher Oralsex als von Männern, mit denen sie unverbindlich schlafen. Dass Frauen bei One-Night-Stands weitaus häufiger Oralsex geben als empfangen, spricht ebenfalls für den verbreiteten Fokus auf die männliche Lust.
Die gute Nachricht: Der Rückstand der Frau hat wenig mit der körperlichen Fähigkeit zum Orgasmus zu tun. Stattdessen spielen (oftmals unbewusste) Einstellungen und die Sexpraktiken eine wichtige Rolle. Eine breitere Definition von Sex und ein stärkerer Fokus auf das Vergnügen der Frau können helfen, die Orgasmuslücke zu schließen.
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