Im Sarg: Wachsen Fingernägel nach dem Tod noch weiter?
Der Sargdeckel schiebt sich langsam auf, eine Hand mit krallenartigen Fingernägeln kommt zum Vorschein, und ächzend klettert der Untote aus seinem Grab – ein Gruselklassiker. Während es kaum Zweifel bei der Frage gibt, ob Tote nachts tatsächlich aus ihren Särgen steigen, ist ein Aspekt dieser Szene noch immer von Mythen umrankt: die langen Fingernägel. Angeblich nämlich wachsen die Nägel auch nach dem Tod noch weiter.
Aus eigener Anschauung können nur die wenigsten Menschen dieses Phänomen beurteilen. In aller Regel bekommt man eine Leiche nur zu Gesicht, wenn Angehörige versterben. Dann ist der Tod erst kürzlich eingetreten. Und womöglich hat der Bestatter die Fingernägel als Teil der hygienischen Totenversorgung bereits geschnitten. Was also sagt die Medizin zu den wachsenden Fingernägeln der Toten?
Damit ein Fingernagel wächst, muss die so genannte epitheliale Matrix von der Nagelbasis her Zellen produzieren. Diese als heller Halbmond sichtbare Matrix schiebt dabei ältere Schichten weiter auf den vorderen Teil des Nagelbetts, das Hyponychium. Dadurch wächst der Nagel zur Fingerspitze hin. Nach dem Tod kommen alle Lebensfunktionen zum Erliegen. Wenn das Herz aufhört, Sauerstoff mit dem Blut durch den Körper zu pumpen, erstirbt die Energieversorgung für Zellteilung und hormonelle Regulierung – und damit auch das aktive Wachstum der Fingernägel.
Für die Hartnäckigkeit des Mythos, der sogar auf Weblogs von Bestattern und Krankenschwestern thematisiert wird, gibt es durchaus Gründe: Zum einen sieht es nach einer gewissen Liegezeit einer Leiche tatsächlich so aus, als würden die Fingernägel sowie die Haare wachsen. Zum anderen ist – wenn man es ganz genau nimmt – nach dem Tod in der Tat noch ein geringes Zellwachstum möglich. Darüber hinaus gibt es zahlreiche religiöse, mythische oder literarische Überlieferungen für die wachsenden Fingernägel der Toten, die sicherlich dazu beitragen, den Mythos aufrechtzuerhalten. Aber der Reihe nach.
Alles Ansichtssache
Dass sowohl Fingernägel als auch Haare einige Zeit nach dem Tod tatsächlich länger wirken als kurz nach dem Sterben, belegen zahlreiche Berichte von Wissenschaftlern und Medizinern. Berthold Müller, Professor der gerichtlichen Medizin an der Universität Heidelberg, beschrieb seine Erfahrungen 1953 so: "Wenn ein frisch rasierter Mann morgens zum Beispiel durch einen Verkehrsunfall ums Leben kommt, so erscheint er gleich nach der Einlieferung der Leiche gut rasiert; seziert man ihn am Tage darauf, so gewinnt man den Eindruck, als seien ihm in der Zwischenzeit Bartstoppeln gewachsen." Grund für diese Beobachtung ist, dass der tote menschliche Köper langsam dehydriert. Durch den Flüssigkeitsverlust ziehen sich die Nagelhaut sowie die Haut im Gesicht zurück, und Haare und Fingernägel wirken länger. Faktisch sind jedoch weder Haare noch Fingernägel aktiv gewachsen.
Ganz spitzfindig betrachtet ist es allerdings möglich, dass die Hornzellen bildende Matrix sowie die Haarfollikel auch nach dem Tod noch kurze Zeit weiterwachsen. Als offizieller Todeszeitpunkt gilt heute der Hirntod eines Menschen, also der Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Anders als der Herz-Kreislauf-Tod oder klinische Tod ist der Hirntod nicht durch eine Reanimation reversibel. Bei einem natürlichen Verlauf fallen nach Erlöschen der Hirnfunktion nach und nach alle Organe bis hin zu den einzelnen Zellen aus. Nervenzellen ohne Glukosespeicher etwa sterben in wenigen Minuten, während Bindegewebszellen noch einige Stunden funktionieren können. Das gilt auch für Fingernägel, jedoch ist dieses Wachstum mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Selbst bei einem lebendigen Menschen wachsen die 0,5 Millimeter dicken Hornplatten durchschnittlich nur etwa 0,1 Millimeter am Tag.
Eingewachsene Mythen
Obwohl es sich bei den lang gewachsenen Fingernägeln der Toten um einen Mythos handelt, taucht dieser immer wieder in religiösen, mytischen oder literarischen Überlieferungen auf. Der Chemnitzer Arzt Christian Friedrich Garmann, selbst kein Anhänger des Mythos, zitiert 1670 in seinem Buch "De Miraculis Mortuorum" (Über die Wunder[dinge] der Toten) Beobachtungen aus religiösen Zusammenhängen. So sitze etwa die gestorbene, aber unbestattete Heilige Katharina in einem Kloster in Bologna unverwest auf einem Stuhl, während ihre Finger- und Fußnägel weiterwüchsen. Ähnliche Berichte gäbe es über den Heiligen Gaudentius und die Heilige Salome aus dem polnischen Königshaus.
Auch die nordische Mythologie ließ sich von den Fingernägeln der Toten inspirieren: Das Totenschiff "Naglfar" segelt während des Weltuntergangs zur letzten Schlacht gegen die Götter – gebaut ist es aus den Fingernägeln der Toten. In der neueren Literatur greift etwa Erich Maria Remarque im Antikriegsdrama "Im Westen nichts Neues" das Thema auf. Er lässt dem toten Gefährten Fingernägel wie Korkenzieher und lange Haare wie Gras in gutem Boden sprießen.
Und mehr noch als alle diese dürfte eben Hollywood am Bild der langen Fingernägel gefeilt haben. Was wäre ein Nosferatu ohne seine Klauenhände? Wenn Sie sich also beim nächsten Vampirfilm zu sehr gruseln, dann stellen Sie sich einfach Graf Dracula beim Fußnägelschneiden vor. Geht nicht? Sehen Sie, ist eben doch alles nur ein Mythos!
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