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Kreativität: Wann kommen uns die besten Ideen?

Eine geniale Eingebung braucht etwas Vorarbeit. Der Geistesblitz schlägt aber häufig erst dann ein, wenn wir die Seele baumeln lassen.
Ein junger Mann liegt glücklich in einer Hängematte
Beim Tragträumen arbeitet das Gehirn unbewusst weiter und kann, befreit von den Fesseln der Vernunft, ganz neue Verbindungen knüpfen. (Symbolbild)

Joanne K. Rowling saß gerade im Zug von Manchester nach London, als ihr die Idee zu einem Buch über einen jungen Zauberer mit Stirnnarbe kam. Ihre Harry-Potter-Romane wurden später in 80 Sprachen übersetzt und mehr als 500 Millionen Mal verkauft, die Verfilmungen des Stoffs spülten sieben Milliarden US-Dollar in die Kinokassen, mittlerweile gibt es sogar einen Harry-Potter-Freizeitpark. Dass die Muse die Schriftstellerin ausgerechnet auf einer Zugfahrt küsste, war wahrscheinlich kein Zufall.

Die besten Einfälle kommen uns nämlich immer dann, wenn wir in den gedanklichen Leerlauf schalten. Dieser Tagträummodus stellt sich besonders gerne ein, wenn wir mit nichts Bestimmtem beschäftigt sind, also etwa auf längeren Fahrten einfach aus dem Fenster starren. Hätte Rowling die zweieinhalb Stunden stattdessen genutzt, um ihre Steuererklärung zu erledigen – vielleicht wäre ihr der Durchbruch verwehrt geblieben.

Tagträume sind keinesfalls mentale Missgeschicke. Im Gegensatz zum destruktiven Grübeln sind sie oft eher bildhaft, sorgen für gute Gefühle und bereiten den Boden für kreative Ideen. Um Höchstleistungen zu vollbringen, braucht unsere Seele dieses entspannte Stand-by sogar, ja, das Abdriften ist die Standardeinstellung unseres Gehirns. Immer wenn wir geistesabwesend vor uns hin träumen, wird ein weit verzweigtes Netz von Hirnregionen aktiv, das so genannte Ruhezustandsnetzwerk. Doch der Name trügt, denn im Denkorgan geht es dabei keineswegs ruhig zu. Teile des Gehirns sind sogar reger als in Momenten, in denen wir zielgerichtet nachdenken, zum Beispiel der Praecuneus, der an der visuellen Vorstellungskraft beteiligt ist, oder der mediale präfrontale Kortex, mit dessen Hilfe wir uns an früher erinnern und Pläne für die Zukunft schmieden. Das erklärt, warum wir ausgerechnet im Tagträummodus besonders gut altes Wissen neu verknüpfen können – ein Kernmerkmal kreativer Leistungen.

Beim angestrengten Nachdenken bugsieren wir uns offenbar manchmal in eine Sackgasse

Geistesblitze schlagen oft nebenbei ein. Haben Sie sich auch schon einmal stundenlang erfolglos das Hirn zermartert, nur um später beim Abwasch von der entscheidenden Erkenntnis übermannt zu werden? Dann sind Sie nicht allein. Psychologinnen und Psychologen von der University of California in Santa Barbara fragten Physikerinnen und Drehbuchautoren, wann ihnen die besten Ideen kommen. Die Forschenden wählten diese beiden Berufsgruppen aus, weil deren Vertreter auf unterschiedliche Weise kreativ werden müssen: Ein Physiker sucht für ein mathematisches Problem häufig eine bestimmte Lösung, zu der mehrere Wege führen. Eine Drehbuchautorin hat hingegen bei ihrer kreativen Aufgabe noch kein klares Ziel vor Augen. Die Teilnehmenden sollten nun mehrere Wochen lang über ihre beste Idee des Tages Buch führen und angeben, in welcher Situation sie sich ihnen offenbart hatte.

Das Ergebnis der 2019 veröffentlichten Studie: Zwar kamen ihnen die meisten Ideen während ihrer aktiven Arbeitszeit. Die Einfälle, die sie hatten, während sich ihre Gedanken auf Wanderschaft befanden – oder etwas ganz anderem widmeten –, waren jedoch durchschlagender. Sowohl die Autoren als auch die Physikerinnen beschrieben sie häufiger als Aha-Momente. Woran liegt das? Beim angestrengten Nachdenken bugsieren wir uns offenbar manchmal in eine Sackgasse, aus der wir nicht mehr herauskommen.

Der Knoten platzt dann eher in Momenten, in denen wir die Seele wieder baumeln lassen, mit einer Tasse Tee in der Hand dem Regen zuschauen oder auf dem Sofa sitzen und stricken. Im Hintergrund laufen dabei unbewusste Prozesse weiter, Information und Intuition mischen sich, bis sich die fertige Idee plötzlich ihren Weg ins Bewusstsein bahnt.

Auch wenn Pausen integraler Bestandteil jedes Schaffensprozesses sind und sich um die Schöpferkraft viele Mythen ranken: Kreativität kommt selten aus dem Nichts. Viele Menschen unterschätzen, wie viel Planung, Expertise und harte Arbeit in wahrhaft große Ideen fließen. Selbst die kreativsten Köpfe müssen sich jahrelang ins Zeug legen, bis sie Geniales vollbringen. Ein Beispiel: 2007 analysierten zwei US-amerikanische Psychologen die Laufbahn von 215 zeitgenössischen Romanautorinnen und -autoren, darunter Stephen King und Joyce Carol Oates. Es zeigte sich, dass im Schnitt 10,6 Jahre zwischen ihrer ersten Veröffentlichung und dem Erscheinen ihres Meisterwerks vergangen waren.

Am ehesten erzielen wir demnach einen kreativen Durchbruch, wenn wir lange gründlich über einem Problem brüten und es dann bewusst beiseitelegen – eine Runde um den Block spazieren oder ein Bad nehmen. Der Legende nach kam schon dem griechischen Mathematiker Archimedes von Syrakus (287–212 v. Chr.) des Rätsels Lösung in der Wanne, nachdem er tagelang daran getüftelt hatte. »Heureka!« (»Ich habe es gefunden!«), soll er im Moment der Erleuchtung gerufen haben, weswegen wir den Ausdruck heute noch bei spontanen Einfällen verwenden. König Hieron II. wollte damals wissen, ob seine neue Krone aus purem Gold bestehe, und Archimedes hatte den Auftrag erhalten, ihre Echtheit zu prüfen, ohne die Krone zu zerstören. Beim Baden, so die berühmte Überlieferung, erkannte er, dass sich anhand der Menge des verdrängten Wassers das Volumen eines Körpers bestimmen lässt. Wie sein anschließender Versuch zeigte, ließ der royale Kopfschmuck mehr Wasser überlaufen als ein gleich schweres Stück pures Gold. Die Dichte der Krone war also geringer – es musste sich um eine billige Legierung handeln. So konnte der Goldschmied des Betrugs überführt werden.

Im REM-Schlaf entstehen neue Assoziationen

Und noch von einem anderen großen Denker können wir lernen, wenn wir in einem kreativen Tief feststecken. Dem Pharmakologen Otto Loewi (1873–1961) kam sein epochaler Einfall im Schlaf. In der Nacht auf Ostersonntag im Jahr 1920 wachte er auf, schaltete das Licht an und machte sich ein paar Notizen auf einem kleinen Zettel. Zwar konnte er sein Gekritzel am nächsten Morgen nicht mehr entziffern, doch zum Glück traf ihn der Geistesblitz in der Nacht darauf erneut. Diesmal stand er sofort auf, ging in sein Labor und begann mit dem Experimentieren. Es sollte sich lohnen: An einem Froschherz belegte er erstmals die chemische Übertragung von Nervensignalen und gewann damit den Nobelpreis.

Auch für solche nächtlichen Aha-Erlebnisse haben Kreativitätsforscherinnen eine Erklärung. Im REM-Schlaf (rapid eye movements), der Schlafphase, in der wir die lebendigsten Träume haben, ist die Verbindung zwischen den Hirnregionen für Logik und Gedächtnis geschwächt. Das erlaubt es dem Gehirn, die Karten neu zu mischen: Konzepte werden plötzlich mit anderen in Verbindung gebracht, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. So entstehen nicht selten wertvolle Assoziationen. Wir wachen dann mitten aus einem Traum – oder erst am nächsten Morgen – mit einer innovativen Idee auf, die wir am Tag zuvor noch nicht sehen konnten.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch »55 Fragen an die Seele« von Corinna Hartmann und Tanja Michael, erschienen 2023 bei dtv:

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