Lateralisation: Warum besitzen wir zwei Gehirnhälften?
Hannover, 8. März 2003. Bereits in der zweiten Runde besiegt Corrie Sanders den favorisierten Wladimir Klitschko durch technischen K. o. Sanders schickt den Gegner mit seiner gefürchteten linken Faust auf die Bretter.
Ungefähr eine Milliarde Jahre vor diesem Boxkampf entstanden in den Urmeeren die ersten Bilateria, Tiere mit zwei spiegelbildlichen Körperhälften. Sie hatten wahrscheinlich ebenfalls schon ein spiegelverkehrtes Nervensystem, wobei eine Seite jeweils die Signale aus der gegenüberliegenden Körperseite verarbeitete und deren Muskeln kontrollierte. Aus jenen ersten Bilateria entstanden unter anderem wir Menschen mit unseren zwei Hirnhälften. Sie sind anatomisch zwar ähnlich, erfüllen jedoch sehr unterschiedliche Funktionen. Womit wir wieder zurück zu jenem Boxkampf kommen, der mit einem linken Haken auf Klitschkos Kinn endete – denn dessen Niederlage hat viel mit den Asymmetrien unseres Gehirns zu tun.
Unter Profiboxern haben Linkshänder Vorteile, weil sie eine Minderheit darstellen und ihre Gegner oft nicht auf die spiegelverkehrte Kampfstrategie eingestellt sind. Und die Kontrahenten haben noch einen weiteren Nachteil: Da die rechte Hirnhälfte Aufmerksamkeitsprozesse steuert, beachten wir primär die linke Seite unseres Sehfelds. Dort sieht man die rechte Faust des Gegenübers vielleicht gerade rechtzeitig hervorschnellen; die linke hingegen registriert man eher zu spät. Linkshänder sind daher auch in anderen Sportarten wie Tennis und Fechten bevorteilt, in denen sich zwei Gegner gegenüberstehen und es auf Millisekunden ankommt.
Linkshänder im Vorteil
Aus ähnlichen Gründen konnte Linkshändigkeit wohl in vorindustriellen, kriegerischen Kulturen wie jener der Yanomami in Brasilien das Überleben sichern. Bei diesem indigenen Volk liegt der Anteil der Linkshänder bei rund 30 Prozent – vermutlich, weil sie sich in Auseinandersetzungen mit Nahkampfwaffen bewährt haben. Weltweit machen Linkshänder nämlich lediglich etwa zehn Prozent aus.
Eine bevorzugte Hand und ein stärker »ausgeleuchteter« Aufmerksamkeitsfokus sind nur zwei von vielen funktionellen Hirnasymmetrien. Weitere Beispiele sind Sprache, Emotionsregulation sowie die räumliche Orientierung, die jeweils mit einer unserer Hirnhälften besonders eng verbunden sind. So ist die linke Hirnhälfte sprachdominant, wodurch wir Schrift im rechten Sehfeld besser lesen können. Gibt es solche Hirnasymmetrien auch bei anderen Spezies? Und warum haben sie sich auf dem Schlachtfeld der Evolution durchgesetzt?
Tatsächlich findet man Rechts-links-Unterschiede von Hirnfunktionen in weit über 100 Tierarten, von Bienen bis zu Killerwalen. Wir befinden uns also in bester asymmetrischer Gesellschaft.
Die vielfältigen Hirnasymmetrien bieten drei wesentliche Vorteile. Erstens trainieren wir dabei eine Seite besonders intensiv, so dass wir etwa mit einer Hand motorische Präzisionsleistungen erbringen können, zu denen wir ohne spezielle Präferenz kaum fähig wären. Der zweite Vorteil ist die kürzere Reaktionszeit: Das lebenslange einseitige Training macht die Bewegungen der bevorzugten Hand sowie die Sprachverarbeitung in der betreffenden Hirnhälfte deutlich schneller. Der dritte Vorteil resultiert aus dem Zusammenspiel von Rechts-links-Unterschieden: Asymmetrische Gehirne verarbeiten auf der linken und der rechten Seite verschiedene Informationen parallel. Dadurch steigt die Rechenleistung bei zugleich geringerer Verarbeitungsdauer.
Doch Hirnasymmetrien haben ihren Preis, wie Wladimir Klitschko schmerzlich erfahren musste. Offensichtlich waren ihre evolutionären Vorteile aber größer als ihre Nachteile, sonst hätten sie sich nicht durchgesetzt. Dass Linkshänder trotz ihres Trumpfes verlieren können, merkte Corrie Sanders am 24. April 2004. Vitali Klitschko besiegte ihn in der achten Runde – ganz klassisch mit rechts.
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