Biologie : Warum haben Menschen zwei Augen?
Die Romantiker unter uns werden jetzt vielleicht sagen, es gehe eben nichts über ein Paar lieblicher brauner Augen, aber ich denke, wir sollten uns in dieser wichtigen Frage um eine etwas wissenschaftlichere Antwort bemühen.
Natürlich haben nicht nur Menschen zwei Augen: Bei allen Wirbeltieren ist das so, seien es nun Säugetiere, Amphibien, Reptilien, Vögel oder Fische. Die Doppeläugigkeit hat im Verlauf der Evolution tiefe Wurzeln geschlagen. In gewisser Hinsicht haben wir Menschen also zwei Augen, weil unsere entfernten Vorfahren vor langer, langer Zeit ebenfalls zwei Augen hatten und sich seither keine von diesem Modell abweichende Mutation als besser erwiesen hat. Wie es scheint, ist man als Wirbeltier mit zwei Augen optimal für die Herausforderungen dieser Welt gerüstet. Abgesehen davon sind ja auch noch andere Körperteile paarig vorhanden oder spiegelsymmetrisch: Die linke Hälfte unseres Körpers entspricht beinahe der rechten; nur ganz wenige wichtige Organe – darunter das Herz und die Leber – sind "Einzelstücke". Eine andere Antwort auf die Frage könnte also lauten: Wir haben zwei Augen aus demselben Grund, aus dem wir auch zwei Ohren und zwei Knie haben.
Und doch ist etwas Besonderes an unseren menschlichen Augen, etwas, was uns von den meisten anderen zweiäugigen Tieren unterscheidet: Fast alle anderen Wirbeltiere – ob Fische oder Feldmäuse – tragen ihre Augen beiderseits ihres Kopfes, links und rechts. Sie blicken damit also nicht geradeaus, können ihre Augen noch dazu meist unabhängig voneinander bewegen und genießen auf diese Weise eine beinahe uneingeschränkte Rundumsicht. Beim Menschen hingegen ist es ja nun so – ich denke, das kann ich als bekannt voraussetzen –, dass beide Augen nach vorn gerichtet sind und sich außerdem nur gemeinsam bewegen, was sie – pragmatisch gesprochen – zu einem einzigen Auge werden lässt. Abgesehen vom Menschen verfügen nur die anderen Primaten sowie eine Hand voll Raubtiere wie etwa Eulen und Greifvögel, Wölfe, Schlangen und Haie über ein solches (größtenteils) nach vorn gerichtetes Gesichtsfeld. Wenn wir also im Lauf der Evolution die Vorteile gewissermaßen "freiwillig aufgegeben" haben, die das Sehen mit zwei unabhängigen, seitlich am Kopf befindlichen Augen mit sich bringt, dann muss diese Umorientierung wohl neue, größere Vorteile mit sich gebracht haben. Und genau so ist es gewesen.
Die Vorteile des Rundumblicks
Für Pflanzenfresser und andere Beutetiere ist so ein Rundumblick nämlich von großem Vorteil, erlaubt er es ihnen doch, etwaige Gefahren schnell zu bemerken, ganz egal, aus welcher Richtung sie sich nähern. Man kann also gewissermaßen mit einem Auge das Gras im Blick behalten – mmh, lecker! –, während das andere flink umherschweift, damit sich nicht etwa ein hungriger Fressfeind von hinten heranschleicht.
Aber viele Raubtiere brauchen ein solch großes Gesichtsfeld überhaupt nicht. Was sie dagegen schon eher gebrauchen können, ist eine Art Sucher, mit dem sie ihre Beute scharf ins Visier nehmen können. Auch Primaten benötigen keinen Panoramablick, denn in den Baumkronen ihres ursprünglichen Lebensraums gibt es nur wenige Richtungen, aus denen Fressfeinde überhaupt angreifen können. Für sie ist es viel wichtiger, Entfernungen richtig einzuschätzen, wenn sie nach einem Stück Obst greifen oder sich von Baum zu Baum schwingen: Ein einziger falsch platzierter Sprung, und die Evolution findet in Zukunft ohne deine Gene statt …
Tatsächlich liegt die romantische Sichtweise vielleicht gar nicht so falsch: Nach vorn gerichtete Augen spielen eine entscheidende Rolle bei der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen, auf einem Gebiet also, das uns recht eigentlich zu Menschen macht – und unserer Spezies damit, insgesamt betrachtet, womöglich erst zum Erfolg verholfen hat. Gerade weil unser Blick so deutlich auf etwas Bestimmtes gerichtet ist, kann man problemlos erkennen, wem oder was wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Das wiederum trägt dazu bei, Bindungen aufzubauen. Es erklärt zudem, warum wir Menschen uns – als beinahe einzige Spezies im ganzen Tierreich – beim Sex in die Augen sehen. Und noch dazu hilft es uns, Bindungen zu anderen Tieren zu knüpfen, deren Augen, wie die von Hunden oder Katzen, ebenfalls nach vorn gerichtet sind. Ganz besonders ausgeprägt ist das übrigens bei Tierbabys, deren Augen noch deutlicher nach vorn blicken als die ihrer Eltern – vielleicht finden wir sie gerade deshalb so süß.
Alles deutet darauf hin, dass die unterschiedlichen Arten von Raubtieren und die Primaten ihre frontalen Gesichtsfelder unabhängig voneinander entwickelt haben. Jedoch verdanken die einen wie die anderen ihren nach vorn gerichteten Augen einen entscheidenden Vorteil, eine Fähigkeit, auf die sie beide angewiesen sind, und das ist die bereits angesprochene Fähigkeit, Entfernungen präzise einzuschätzen. Unsere beiden nach vorn gerichteten Augen verleihen uns Menschen – und den anderen Tieren, die über eine vergleichbare "Ausstattung" verfügen – die Fähigkeit zum so genannten binokularen Sehen. Was wir durch unsere zwei Augen sehen, ist für jedes fast gleich; aber nur fast, weil sie eben doch nicht eines sind, sondern ein wenig auseinanderliegen. Und dieser kleine Unterschied hat große Folgen!
Die meiste Zeit fällt uns kaum auf, dass wir überhaupt zwei getrennte Augen haben – schließlich blicken wir ja durch nur ein Gesichtsfeld in die Welt hinaus. Aber man braucht nur einmal seine zwei Zeigefinger hochzuhalten, den einen vor den anderen, und den vorderen der beiden in den Blick zu nehmen. Jetzt schließen wir abwechselnd unsere Augen, erst das eine – dann das andere. Sehen Sie, wie der weiter entfernt befindliche Finger hin- und herzuspringen scheint? Ebenso wird sich, wenn Sie die beiden Finger nebeneinander dicht vor Ihre Nase halten und dann ein entferntes Objekt fokussieren, deren Anzahl verdoppeln: Auf einmal haben Sie vier Zeigefinger, da nun jedes Auge für sich an Ihr Hirn meldet: "Zwei Zeigefinger in Sicht!"
Was nun aber wirklich bemerkenswert ist: Das Gehirn komponiert aus den beiden immer leicht unterschiedlichen Bildern, die unsere Augen liefern – und deren Abweichung man in der Wahrnehmungsphysiologie als Disparität bezeichnet –, ein einheitliches Bild, das den Anschein von Tiefenschärfe erweckt. Man hat dieses Phänomen auch als Leonardo-Paradox bezeichnet, weil das große Universalgenie vor einem Rätsel stand, als er darüber nachgrübelte, wie um alles in der Welt zwei Augen mit unterschiedlichen Blickfeldern im Ergebnis einen Bildeindruck ergeben konnten. Leonardo erkannte jedoch, dass dieser eine, tiefenscharfe Bildeindruck uns befähigt, die Welt als Raum wahrzunehmen; als eine Welt aus dreidimensionalen Objekten und nicht nur aus zweidimensionalen, starren Bildflächen. Die Herausforderung, diese dreidimensionale Welt auf eine zweidimensionale Leinwand zu bannen, sollte ihn sein ganzes Künstlerleben lang beschäftigen.
Stereo-Sehen
Was Leonardo allerdings nicht verstanden hatte, war, dass es just die Vereinigung der beiden unterschiedlichen Blickfelder im Gehirn ist, die uns das Sehen "in Stereo" – das räumliche Sehen also – überhaupt erst ermöglicht. Zu dieser fundamentalen Erkenntnis gelangte erst der englische Physiker Charles Wheatstone, der 1838 ein recht simples Experiment durchführte: Er fertigte Zeichnungen von den jeweils leicht voneinander verschiedenen Bildeindrücken seiner beiden Augen an, wozu er das "Spiegelstereoskop" verwendete, ein Gerät, das er selbst entwickelt hatte. Das Stereoskop erlaubte es ihm, die gezeichneten Bildeindrücke dem jeweiligen Auge einzeln vorzustellen – und beide zusammen beiden Augen gemeinsam. Beim gleichzeitigen Betrachten beider Bilder entstand – wie er mit Begeisterung feststellte – ein wunderbarer 3-D-Effekt.
In den 1960er Jahren zeigten die bahnbrechenden Experimente der beiden Neurowissenschaftler und späteren Nobelpreisträger David Hubel und Torsten Wiesel, dass die Netzhautbilder beider Augen an genau derselben Stelle im Gehirn verarbeitet werden – und dabei überlagern sie sich so, dass sich, wann immer wir unsere beiden Augen öffnen, ein einheitliches Bild ergibt. Später entdeckten dann die Australier Jack Pettigrew, Horace Barlow, Colin Blakemore und Peter Bishop, dass auch die feinen Unterschiede zwischen den beiden Bildeindrücken im Gehirn wahrgenommen und verarbeitet werden; daraus entsteht erst der räumliche Eindruck unseres tagtäglichen Sehens.
Laborexperimente legen nahe, dass das räumliche Sehen bis in eine Entfernung von 2,7 Kilometern funktioniert – aber in der Realität scheint damit schon nach etwa 200 Metern Schluss zu sein.
Am deutlichsten tritt dieser 3-D-Effekt zu Tage, wenn die Gegenstände der Wahrnehmung sich dicht vor unserer Nase befinden. Das liegt daran, dass dann die Disparität zwischen den beiden Bildeindrücken am größten ist. Blicken wir weiter in die Ferne, wird der Effekt schwächer. Wie Laborexperimente nahelegen, funktioniert das räumliche Sehen bis in eine Entfernung von 2,7 Kilometern – aber in der Realität scheint damit schon nach etwa 200 Metern Schluss zu sein.
Das binokulare Sehen ist jedoch nicht das einzige "Werkzeug", mit dessen Hilfe wir Menschen Entfernungen bestimmen können. Eine besondere Perspektive, das Fokussieren einer anderen Bildebene oder auch andere Hinweise (wie etwa Objekte, die teilweise durch andere Objekte verdeckt werden und sich also in größerer Entfernung als diese befinden müssen) tragen allesamt dazu bei, dass wir zu einem dreidimensionalen Bild unserer Umgebung gelangen. Deshalb muss selbst ein Einäugiger keineswegs an Entfernungen verzweifeln. Tatsächlich sind wir derart an unser dreidimensionales Sehen gewöhnt, dass wir ein Auge schließen und immer noch in 3-D sehen können! Das dürfte jemandem, der stets nur mit einem Auge gesehen hat, natürlich etwas schwererfallen.
Perfekt aufeinander abgestimmt
Ziemlich bemerkenswert ist auch, wie perfekt unsere beiden Augen aufeinander abgestimmt sind, wie vollendet sie sich miteinander bewegen. Damit die Synthese eines einheitlichen Gesichtsfeldes gelingen kann, müssen die Bildeindrücke der beiden Augen beinahe identisch sein – abgesehen von der leichten Disparität der Perspektiven – und sie müssen sich absolut parallel verschieben, wenn die Augen sich bewegen. Die Netzhaut ist winzig klein, deshalb würde schon die leichteste Ungenauigkeit den Gesamteindruck ruinieren. Wenn die Augen sich gemeinsam seitwärts bewegen, nennt man das Version. Tatsächlich vollführen wir diese Bewegungen ständig, ohne es zu bemerken. Unsere Augen springen ohne Unterlass hierhin und dorthin, immer perfekt synchronisiert, und erfassen die Welt um uns herum. Diese Sakkaden oder Blickzielbewegungen sind die schnellsten Bewegungen, die der menschliche Körper überhaupt ausführen kann; um bis zu 900 Grad schwenken sie das einzelne Auge zu Spitzenzeiten umher – in der Sekunde!
Von diesen Seitwärtsbewegungen einmal abgesehen, behalten unsere Augen einen bestimmten Gegenstand selbst dann ganz mühelos im Blick, wenn wir unseren Kopf bewegen. Auch die Bewegung in unterschiedliche Richtungen fällt ihnen überhaupt nicht schwer – etwa, wenn wir abwechselnd Objekte fokussieren, die nah oder weit entfernt sind. Wenn sie einen Gegenstand in den Blick nehmen, der sich nahe vor unserem Gesicht befindet, drehen sich unsere Augen zueinander hin; das nennt man Konvergenz. Wenn wir sie dann auf einen weit entfernten Gegenstand richten, schwenken sie wieder ein wenig nach außen; das nennt man Divergenz. Ist die Konvergenz zu stark ausgeprägt, fängt man bekanntermaßen an zu schielen, was jedoch eher selten vorkommt.
Ganz offenkundig muss die Augenmuskulatur perfekt aufeinander abgestimmt sein, um Version, Konvergenz und Divergenz mit einer solchen Präzision durchführen zu können. Das allein reicht jedoch noch nicht aus – und überhaupt findet die Abstimmung all dieser Bewegungen überhaupt nicht in der Muskulatur statt, sondern entspringt unmittelbar bestimmten Bereichen im Frontallappen unseres Gehirns, die zusammen auch als Augenfeld bezeichnet werden. Dort werden die wechselnden Netzhautbilder überwacht und der Augenmuskulatur die entsprechenden Signale erteilt, damit die Bewegung der beiden Augen auch weiterhin perfekt aufeinander abgestimmt wird.
Da mittlerweile hinreichend bekannt ist, wie das binokulare, räumliche Sehen funktioniert, ist eine ganze Reihe von Verfahren entwickelt worden, mit denen man den Augen einen dreidimensionalen Bildeindruck vorgaukeln kann. Dazu muss man lediglich jedem Auge eine leicht unterschiedlich perspektivierte Variante desselben Motivs vorsetzen – und schon erhält man, wie Charles Wheatstone in seinem berühmten Experiment, eine Illusion von Dreidimensionalität. Auch 3-D-Filme sind heutzutage gang und gäbe; gefilmt werden sie mit zwei Kameras aus zwei leicht verschiedenen Perspektiven. Um sie anzuschauen, benötigt man allerdings eine Spezialbrille, die es jedem Auge erlaubt, die beiden projizierten Bilder unabhängig voneinander zu sehen – das ist noch lange keine perfekte Methode. Außerdem muss die Disparität der beiden gefilmten Perspektiven sehr sorgfältig berechnet werden, um den richtigen Grundabstand zwischen den beiden Linsen sicherzustellen; andernfalls sieht das Ergebnis ziemlich seltsam aus.
In mancherlei Hinsicht ist das binokulare Sehen der große evolutionäre Vorteil des Menschen. Unsere nach vorn gerichteten Augen, unserer Fähigkeit, Entfernungen präzise einzuschätzen, während wir zugleich im Stande sind, im Nahbereich zu überwachen, was wir da gerade mit unseren Händen anstellen – ob wir nun einen Faden durch ein Nadelöhr bugsieren oder einen Speer nach einem flüchtenden Beutetier schleudern –: All das beruht auf jenem einen entscheidenden Unterschied zu den meisten anderen Tieren. Natürlich teilen wir diesen Unterschied mit den anderen Primaten; aber man kann wohl sagen, dass wir Menschen das meiste daraus gemacht haben.
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