Kartografie: Warum ist Norden oben?
Im Dezember 1972 ist die letzte bemannte Mondmission der NASA, Apollo 17, unterwegs zum Mond. Unterwegs schießt die Besatzung eines der berühmtesten Fotos der Erde: »The Blue Marble«, die blaue Murmel. Es ist die erste Vollansicht unseres blauen Planeten. Am 23. Dezember 1972 veröffentlicht die NASA das Foto. Einen Tag später, Weihnachten 1972, ziert »The Blue Marble« weltweit die Titelseiten. Was damals keiner weiß: In der Originalaufnahme weist die Südhalbkugel nach oben. Um Verwirrung zu vermeiden, hat die NASA das Bild vor seiner Veröffentlichung um 180 Grad gedreht – also so, dass Norden oben liegt. Als die NASA knapp 43 Jahre später die Originalbilder des Apollo-Programms veröffentlicht, findet sich darunter auch die Blue-Marble-Serie – ebenfalls genordet, versteht sich.
»Oben« ist ein Konstrukt unseres Denkens. Eine Karte, bei der die nördliche Erdhälfte oben liegt, ist weder genauer noch korrekter als eine, bei der die südliche Hemisphäre obenauf ist. Gleiches gilt für das berühmte Foto aus dem Weltall. Doch es bleibt dabei: Dass unsere heutigen Landkarten in der Regel genordet sind (das heißt, Norden immer oben ist), prägt unser Weltbild. Und das sogar im übertragenen Sinn. So assoziieren wir mit einem nordwärts nach »oben« verlaufenden Weg mehr Anstrengung als mit einem, der nach »unten« Richtung Süden verläuft. Unbewusst schätzen wir auch Menschen, die im Norden wohnen, als besser gestellt ein verglichen mit jenen, die »unter« ihnen stehen – wenn auch nur auf der Landkarte. Untersuchungen zeigen, dass wir mit Norden Reichtum, mit Süden Armut in Verbindung bringen.
Warum sich die Kartografen ausgerechnet dafür entschieden haben, den Norden an die Spitze zu stellen? Man weiß es nicht. Immerhin: Man munkelt.
Der Okzident blickt auf Orient
Karten haben im Laufe der Geschichte so ziemlich alle Orientierungen durchgemacht. Kartografen setzten einst ihre Heimat an die Spitze oder in den Mittelpunkt der Karte. Frühe ägyptische Karten waren nach Süden ausgerichtet, ebenso arabische und chinesische. In anderen Ländern – so auch in Europa – war es bis zur Renaissance dagegen üblich, den Osten oben auf die Karte zu setzen. Der Begriff »orientieren«, den wir heute noch verwenden, bedeutet wörtlich übersetzt »nach Osten ausrichten« und stammt aus ebendieser Zeit.
Aber wie kam nun der Norden an seine Spitzenposition? Der Kompass ist schuld, behauptet eine Theorie. Von den Chinesen erfunden, fand der Kompass über die arabische Welt nach Europa, wo man ihn ab etwa 1300 einsetzte. Bevor ihnen das neuartige Instrument den magnetischen Norden weisen konnte, nutzten Seefahrer die Sterne, um die Richtung zu bestimmen. Einer der nützlichsten Himmelskörper dafür war der Polarstern, auch als Nordstern bekannt. Während die anderen Fixsterne auf Grund der Erddrehung über den Nachthimmel zu wandern scheinen, steht der Polarstern unverrückbar an Ort und Stelle – und zwar fast exakt im Norden. Gut möglich, dass sowohl der Kompass und der Nordstern einige Kartografen dazu veranlasst haben, ihre Karten zu norden – wer weiß?
Allerdings weist die Kompassnadel, die sich am Erdmagnetfeld ausrichtet, genauso gut nach Süden. Und so mag der Kompass wohl die Nordorientierung beeinflusst, wenn auch nicht allein geprägt haben. Denn auch nach der Verbreitung des Kompasses stellte man weiterhin Karten mit den unterschiedlichsten Ausrichtungen her: Einige Kartenmacher blieben bei der alten europäischen Methode (Stichwort Orientierung), andere richteten ihre Karte aber auch nach Süden aus.
Alles nur geklaut?
Möglicherweise hat die Sache mit der Nordorientierung aber auch einen ganz anderen Ursprung. Vielleicht haben die Kartografen diese Ausrichtung schlicht und ergreifend nur abgekupfert. Der griechisch-römische Intellektuelle Claudius Ptolemäus fertigte im 2. Jahrhundert viele gut strukturierte Karten an. Einige enthielten sogar Längen- und Breitengrade. Ptolemäus, der den Kartenmachern des 15. und 16. Jahrhunderts als wichtige Autorität galt, setzte den Norden, keiner weiß warum, an die obere Spitze seiner Karten.
Bedeutende europäische Kartografen wie Gerhard Mercator (fast 500 Jahre lang, bis zum Aufkommen des GPS, war sein Verfahren, die runde Erdkugel auf einer flächigen Karte darzustellen, unverzichtbar für die Navigation in See- und Luftfahrt) bedienten sich bei Ptolemäus seiner Methoden, um Karten zu erstellen, und kopierten auch deren Nordorientierung. Dank der damals neu erfundenen Drucktechnik gab es die genordeten Karten bald in ganz Europa. Das Prinzip, »wo oben ist, ist Norden«, wurde damit immer populärer.
Neben Kompass und Co gibt es noch ein schlagkräftiges Argument für diese Ausrichtung: die Egozentrik. Vor ihr waren weder Kartografen noch Auftraggeber gefeit. Informationen, die sich am oberen Rand einer Karte befinden, sind besser sichtbar und wirken wichtiger. Und so setzten die europäischen Kartenmacher des 16. Jahrhunderts vielleicht sogar instinktiv die nördliche Hemisphäre – ihre Heimat – an die Spitze ihrer Karten und sich damit ins Zentrum.
Warum der Norden heute ganz oben auf der Karte steht? Der Grund dafür ist wahrscheinlich eine Mischung aus Tradition, technischem Fortschritt, Politik und Zufall.
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