Psychologie: Warum offenbaren Menschen ihre seelischen Nöte im Internet?
»Ich habe sehr lange mit mir gehadert, ob ich diesen Text schreiben soll, und lange überlegt, ob er online gehen soll. Denn es ist wohl mein persönlichster Text, und ich habe das Gefühl, mich dadurch sehr verletzbar zu machen. Aber es ist mir ein Anliegen, offen über dieses Thema zu reden, da ich immer mehr das Gefühl bekomme, dass durch Instagram & Co eine heile Welt dargestellt wird. Viele schreiben mir, dass sie sich schlecht fühlen, weil ihre Welt nicht so aussieht. Ich kann euch sagen, meine Welt sieht oft nicht so rosig aus. Denn ich falle in extrem tiefe emotionale Löcher, aus denen ich allein oft nicht mehr herauskomme. Ich habe Borderline. Ein Satz, den ich früher nicht wahrhaben wollte und jetzt gelernt habe, damit zu leben.« Mit diesen Worten vertraut sich die österreichische Bloggerin Leonie-Rachel ihren Lesern an.
Dass Menschen ihre intimsten Erfahrungen öffentlich machen, ist nicht neu. Denken wir nur an autobiografische Bücher von Prominenten, die darin persönliche Krisen offenbaren. Im Internet hat heute jeder die Möglichkeit, sich mitzuteilen und von psychischen Problemen zu berichten. Das ist zunächst ein großer Gewinn für diese Personen, denn sie können so Rückmeldung von anderen Betroffenen bekommen. Letztere haben wiederum die Chance, am Leidens-, aber auch am Genesungsweg des anderen teilzuhaben und daraus zu lernen – ähnlich wie bei klassischen Selbsthilfegruppen.
Gleichzeitig birgt die Kommunikation seelischer Probleme jedoch die Gefahr, missverstanden zu werden. Anstatt Empathie und Hilfe zu erfahren, schlägt so manchen Unverständnis, ja sogar Ablehnung oder Aggression entgegen. In der Anonymität des Internets ist die Schwelle für Beleidigungen und persönliche Angriffe bekanntermaßen niedriger – mit der Folge, dass es ohnehin schon psychisch belasteten Bloggern möglicherweise noch schlechter geht.
Um die Funktionen und das therapeutische Potenzial solch öffentlicher Selbstinszenierungen genauer zu erfassen, analysierten wir Youtube-Videos von acht psychisch kranken Menschen. Dabei fanden wir ganz verschiedene Motive, im Internet über die eigene Erkrankung zu sprechen. So gibt es den Typus des Aufklärers: Er identifiziert sich mit der eigenen Krankheit, versteht sich als Experte, wirkt daher oft belehrend und steuert die Kommunikation bewusst. Der Narzisst dagegen lebt seine Selbstverliebtheit im Internet aus, ist überheblich, aber häufig unsicher. Das Medium erleichtert es ihm, diese Rolle zu spielen. Der Ankläger schließlich versteht sich als kompetenter Kritiker in medizinischen und gesellschaftlichen Fragen. Er verhält sich eher distanziert zu seinen eigenen Problemen. Dies sind natürlich idealtypische Beschreibungen, doch sie veranschaulichen, dass es aus unterschiedlichen Gründen für Menschen attraktiv sein kann, sich im Internet mit ihren Leidenserfahrungen zu zeigen.
Insgesamt bietet das Netz für Menschen mit psychischen Problemen die Chance, mit anderen in Kontakt zu treten und das Thema zu enttabuisieren. Das ermöglicht einen öffentlichen Diskurs, der über den Kreis der Betroffenen und deren Angehörigen hinausgeht. Zudem nehmen Betroffene sich selbst mitunter differenzierter wahr, wenn sie ihre Probleme auf diese Weise artikulieren. Dies kann eine aktivere Auseinandersetzung mit dem eigenen Befinden ermöglichen und im besten Fall Selbstheilungskräfte aktivieren. Blogger vernetzen sich zunehmend und schützen sich gegenseitig vor diffamierenden Äußerungen. Solche virtuellen Selbsthilfegruppen können Halt geben und aus der Isolation heraushelfen. Sind die Effekte der Selbstöffnung im Internet für die Betroffenen unter dem Strich also positiv oder problematisch? Ich meine, eher Ersteres. Man sollte entsprechende Selbstdarstellungen jedoch nicht so sehr als ein »Zurschaustellen« von Krankheit ansehen, sondern als Versuch, empathische Reaktionen in einer akuten Krise zu erfahren.
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