Orientierung: Warum verwechseln wir so leicht rechts und links miteinander?
Oben und unten zu unterscheiden, ist einfach. Viele kennen dagegen die Situation, als Beifahrer im Auto den Fahrer lotsen zu müssen – und an einer Kreuzung plötzlich rechts und links zu verwechseln. Womöglich ist diese Art der Orientierung nicht so intuitiv, wie wir glauben.
In unserer Kultur beschreiben wir Dinge meist vom eigenen Standpunkt aus: "Der Ball liegt links vom Baum" – ob das stimmt, hängt davon ab, wo sich der Beobachter im Verhältnis zum Ball befindet. Diese Art des Beschreibens heißt deshalb egozentrisch. Es geht aber auch anders: Die allozentrische Sichtweise setzt die Position der Objekte im Raum zueinander in Beziehung und lässt den Sprecher außen vor: "Der Ball liegt zwischen dem Baum und dem Strauch." Diese zweite Strategie nutzen Kleinkinder spontan, um sich zu orientieren. Erst ab dem Alter von fünf Jahren lernen sie in oft langwierigen Prozessen die in unserer Gesellschaft verbreitete egozentrische Variante.
In einem Experiment fiel es drei- und vierjährigen Kindern leicht, die Position von Figuren auf einem Spielbrett im Gedächtnis zu behalten, wenn sie sich selbst durch den Raum bewegten. Wurde jedoch das Spielfeld gedreht, stimmte das Verhältnis der Figuren zum Raum nicht mehr mit der vorherigen Situation überein. Die Kinder konnten die allozentrische Strategie also nicht mehr anwenden und deshalb die fragliche Konstellation auf dem Spielbrett nicht mehr orten. Das war sogar dann der Fall, wenn das Verhältnis zwischen ihnen selbst und dem Spielbrett gleich blieb. Dank des gelernten egozentrischen Bewusstseins für rechts und links gelang es Fünfjährigen dagegen, auch in solchen Situationen die gemerkte Position auf dem Spielbrett auszumachen, wenn sich dessen Verhältnis im Bezug zum Raum geändert hatte.
In einer anderen Studie trainierten wir Orang-Utans, Gorillas, Bonobos und Schimpansen darauf, von drei nebeneinanderstehenden Bechern immer den zu ihrer Linken zu wählen, unter dem wir eine Belohnung versteckt hatten. Dann sollten sie sich auf die andere Seite des Tisches bewegen und von dort aus unter drei neuen Bechern den am ehesten Erfolg versprechenden aussuchen. Statt wieder den zu ihrer Linken zu nehmen, vermuteten sie die Belohnung nun rechts – gemäß der allozentrischen Sichtweise. Unsere nächsten Artverwandten scheinen sich intuitiv ebenso zu orientieren, wie es Kleinkinder tun.
Allozentrische Orientierung
In anderen Kulturen orientieren sich auch Erwachsene allozentrisch. Das kann zum Beispiel über bedeutsame geografische Orte in der Umgebung wie "in Richtung Fluss" funktionieren. Auf Inseln sind manchmal Angaben gebräuchlich wie "zum Mittelpunkt hin" und "gegen den Uhrzeigersinn um die Insel". Für viele Naturvölker hat die räumliche Umwelt eine andere Bedeutung als für uns. Die Haillom, ein Stamm im Norden Namibias, orientieren sich allozentrisch über die Himmelsrichtungen. Um zu zeigen, wie sich das auf verschiedene Lebensbereiche auswirkt, lehrten wir Haillom-Kinder zwischen vier und zwölf Jahren und deutsche Altersgenossen einen Tanz, der nach der Bewegungsabfolge "links, rechts, links, links" verlief. Als sich die Kinder um 180 Grad drehen sollten, behielten die deutschen weiter das Links-rechts-links-links-Muster bei. Die Namibier dagegen bewegten sich genau umgekehrt, nämlich "rechts, links, rechts, rechts" – sie richteten ihre Tanzschritte nach den Himmelsrichtungen aus.
Gedächtnis: Merken wir uns von Hand notierte Dinge besser als getippte?
Westliche Kinder müssen die egozentrische Orientierung erst lernen und brauchen deshalb besonders lang, um rechts und links zu unterscheiden – und auch als Erwachsene kommen wir noch in vielen Situationen durcheinander. Nach diesen Erkenntnissen müsste die Frage eigentlich lauten: Warum bemühen sich die europäischen Sprachen um eine egozentrische Orientierung? Manche Wissenschaftler vermuten dahinter eine besondere Rolle des Schriftsystems. Dadurch, dass wir von links nach rechts schreiben, könnten die beiden Richtungen ihre besondere Bedeutung entwickelt haben. Andererseits ist diese Konvention möglicherweise schon vor Erfindung der Schrift entstanden.
Die allozentrische Strategie nutzen größtenteils indigene Kulturen Australiens, Westafrikas oder Papua-Neuguineas. In keiner dieser Ethnien leben Menschen in Städten. Die Vermutung liegt also nahe, dass die Orientierung etwas mit der Größe von Siedlungen zu tun hat. Allerdings existieren egozentrierte Sprachen nicht nur in westlichen Breiten, sondern auch in manchen Kulturen ohne Städte. Die Frage, weshalb wir uns über rechts und links orientieren, bleibt also vorerst unbeantwortet.
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