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Leser fragen – Experten antworten: Was ist eine Gravitationslinse?

Gravitationslinsen stellen einen spannenden Gegensatz zu den uns bekannten optischen Linsen dar.
Silhouette zweier gestikulierender Männer im Gespräch vor hellem Hintergrund

»In letzter Zeit lese ich viel von so genannten Gravitationslinsen. Ich verbinde mit dem Begriff »Linse« ein optisches Element, das extrem genau geschliffen sein muss, damit ein vernünftiges Bild entsteht. Bei den Gravitationslinsen, wo große, ­verteilte Massen das Licht ablenken, ist ja wohl eine solche exakte Abbildung nicht gegeben. Was kann man aber dann ­praktisch damit anfangen?« – Dietrich Kracht

Gravitationslinsen stellen einen spannenden Gegensatz zu den uns bekannten optischen Linsen dar, weil sie auf gänzlich unterschiedliche Weise funktionieren. Optische Linsen sind präzise geschliffene Glaselemente, die Licht durch Brechung fokussieren. Lichtwellen, die von einem Punkt ausgehen, werden beim Durchgang durch die Linse so gebrochen, dass sie sich wieder in einem Punkt, dem Brennpunkt sammeln und so ein scharfes Bild erzeugen. Die präzise Form der Linse und ihr Material sind ausschlaggebend für die Bildqualität.

Im Gegensatz dazu nutzen Gravita­tionslinsen keine Brechung, sondern die Krümmung der Raumzeit, um den Lichtlaufweg zu beeinflussen. Sie erzeugen keine Brennpunkte, also keine echten Bilder im fotografischen Sinn. Wenn Lichtstrahlen an massereichen Objekten wie Galaxienhaufen oder Schwarzen Löchern vorbeiziehen, führt die Krümmung der Raumzeit dazu, dass das Licht abgelenkt wird und auf unterschiedlichen Pfaden zu uns gelangen kann. Diese Pfade hängen von der Massenverteilung des linsenförmigen Objekts ab und führen zur Entstehung von virtuellen Bildern. Diese Bilder sind Projektionen des ursprüng­lichen Objekts, die durch die Lichtablenkung verzerrt, gedehnt und oft vervielfacht erscheinen. Selbst geringfügige Ablenkungen, manchmal weniger als ein millionstel Grad, können auf kosmischen Skalen signifikante Effekte erzeugen. Bei einer Linse mit einer symmetrischen Massenverteilung kann dies dann zu ­einem so genannten Einstein-Ring führen, bei dem ein kleiner Teil der Hintergrundquelle als ein kompletter Kreis um die Linse erscheint.

Diese Verzerrungen und Mehrfachprojektionen sind jedoch nicht als Bildfehler zu verstehen, sondern als einzig­artige Möglichkeit, die Eigenschaften des linsenden Objekts und der dahinterliegenden Lichtquellen zu studieren. Sie ermöglichen es Astronomen, die Massenverteilung innerhalb des linsenden Objekts zu analysieren und sogar die dortige Verteilung der unsichtbaren Dunklen ­Materie zu ermitteln. Mit Hilfe komplexer Berechnungen können Astronomen das beobachtete Licht zurück zur Lichtquelle projizieren und dadurch manchmal mehr Details erkennen als ohne die Linse möglich wäre. Durch die Nutzung dieser Erkenntnisse können Astronomen verborgene Aspekte unseres Universums entschlüsseln, die sonst unentdeckt bleiben würden.

Heidelberger Schloss | Links ist die normale Frontansicht des Schlosses zu sehen, rechts die simulierte, stark verzerrte Ansicht beim Blick durch die Gravitationslinse, die ein (winziges!) fiktives, nicht-rotierendes Schwarzes Loch erzeugen würde, wenn es zwischen Kamera und Schloss positioniert wäre. Das gezeigte Bild wird nicht von dem Schwarzen Loch, sondern von einer Kameralinse erzeugt. Einige der Fenster des ­Schlosses sind im ­rechten Bild mit roten Buchstaben markiert. Sie erscheinen ­jeweils ­zweifach. Bei komplizierteren Gravitationslinsen können Teile des betrachteten Objekts sogar mehr als zweimal erscheinen.

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