Alltagsphysik: Wie lange dauert es, quer durch die Erde zu fallen?
"Ob ich wohl mitten durch die Erde falle?", wundert sich Lewis Carrolls Protagonistin Alice, als sie in einen scheinbar bodenlosen Kaninchenbau stürzt und immer weiter in die Tiefe fällt. Bekanntlich endete ihr Sturz irgendwo im Wunderland – und nicht auf der anderen Seite des Globus. Doch angenommen, es gäbe einen solchen Tunnel. Wie lange würde es dauern, einmal mitten durch die Erde zu fallen? Eine erste Antwort gab der Wissenschaftler Paul Cooper 1966 im Fachmagazin "American Journal of Physics".
Durch den Kaninchenbau
Alles steht und fällt mit der Gravitation. Sie ist die Kraft, die uns und alles, was eine Masse hat, auf der Erde festhält. Und natürlich macht sie sich auch in einem Tunnel bemerkbar, der mitten durch die Erde führt. Die Gravitation wirkt in Richtung des Erdmittelpunkts, weil dort der Schwerpunkt der Erde liegt.
Lassen wir Alice einmal (unter der Annahme, dass in dem langen Tunnel keinerlei Luftwiderstand herrscht) in das Loch fallen: Dann wird sie von der Gravitationskraft nach "unten" gezogen, also zum Erdmittelpunkt. Während sie fällt, wächst ihre Geschwindigkeit, doch die Kraft, die sie Richtung Erdmittelpunkt zieht, lässt nach. Denn je weiter sie fällt, desto mehr Gestein türmt sich über ihrem Kopf auf, und die Anziehungskraft dieser Materie wirkt ihrem Fall entgegen.
Besonders deutlich wird das, wenn Alice nach einer Strecke von ungefähr 6371 Kilometern den exakten Erdmittelpunkt erreicht. Genau an diesem Punkt ist jeglicher Zug auf ihren Körper verschwunden, denn die Kräfte ringsum heben sich komplett auf. Wäre Alice in Ruhe, würde sie an diesem Punkt schwerelos schweben.
Doch Alice ist nicht in Ruhe. Zum Zeitpunkt der Passage durchs Zentrum der Erde bewegt sich das Mädchen mit der atemberaubenden Geschwindigkeit von 28 800 Kilometern pro Stunde vorwärts – sie schießt durch den Kern und beginnt den Weg zur anderen Seite. Nun wächst die auf sie wirkende Gravitationskraft wieder an, doch diesmal ist sie Alices Flugrichtung entgegengerichtet: Je weiter Alice sich vom Erdkern entfernt, desto stärker wird sie abgebremst. Bis sie am anderen Ende des Lochs zum völligen Stillstand kommt. Jetzt muss sie sich nur noch am Rand festhalten, sonst geht die Reise wieder zurück.
Um die Zeit, die Alice durch die Erde fällt, zu bestimmen, setzte Cooper Alice mit einem Pendel gleich. Das Mädchen entspricht dabei der schwingenden Masse, die Gravitationskraft wird von zwei Federn dargestellt, zwischen denen die Masse befestigt ist. Die beiden anderen Enden der Federn sind an Wänden fixiert. Dieses konstruierte System bezeichnen Physiker als harmonischen Oszillator. Bringt man das Pendel in Bewegung, schwingt es mit einer bestimmten Frequenz hin und her. Diese hängt von der Zeit ab, die für eine komplette Pendelbewegung, also einmal hin und zurück, benötigt wird, und kann mit den Zahlenwerten für die Dichte und den Radius Erde ausgerechnet werden. Cooper bestimmte so die Zeit für einen Fall durch den Globus auf 42 Minuten. Die Zeit ist bei dieser Berechnung für jeden Körper gleich. Es ist also egal, ob Alice selbst springt oder einen Elefanten stellvertretend durch den Tunnel schickt.
Oder geht es noch schneller?
Alexander Klotz von der McGill University in Montreal störte es, dass obige Betrachtung von einer gleichmäßigen Dichte innerhalb der Erde ausgeht. Er stützt seine Rechnung, veröffentlicht im "American Journal of Physics", auf die innere Struktur der Erde, wie sie mit seismischen Daten bestimmt wurde. Mit dieser realistischeren Annahme ermittelte er eine Fallzeit von lediglich 38 Minuten. Zugegeben, die Berechnungen waren nur mit Hilfe eines Computers durchzuführen und sind daher nicht leicht nachvollziehbar.
Erstaunlicherweise erhält man exakt dasselbe Ergebnis auch auf einem simpleren Lösungsweg, wie Klotz herausfand. Statt überall im Inneren der Erde die gleiche Dichte anzunehmen, wie Cooper es getan hat, geht Klotz davon aus, dass die Gravitation im gesamten Erdball gleich ist. So lässt sich die Zeit genauso berechnen wie zum Beispiel bei einem Sturz aus einem Flugzeug, also einem herkömmlichen freien Fall. Das Ergebnis: ebenfalls 38 Minuten. Wie kann das sein? Die tatsächliche Gravitationskraft der Erde verändert sich von der Oberfläche bis ungefähr zur Hälfte des Wegs zum Kern kaum. Erreicht man den Punkt, an dem sie merklich kleiner ist, ist man bereits so schnell, dass die Aufenthaltszeit in diesem Bereich sehr kurz ist. Die Flugzeiten in der realistischen Rechnung und in der Näherung von Klotz weichen daher kaum voneinander ab.
Und was passiert, wenn …
Bei all diesen Betrachtungen gehen die Wissenschaftler von einer idealen Kugel aus, die keine Eigenrotation hat. Beides trifft natürlich auf die Erde nicht zu. Und sobald sich Luft im Tunnel befindet, verlängert sich die Fallzeit und ist abhängig von Form und Masse des Körpers. Auch die vorherrschenden Temperaturen und Drücke im Erdinneren werden außer Acht gelassen. Allerdings würden diese Effekte das betrachtete System stark verkomplizieren und eine computergestützte Rechnung notwendig machen, ohne sich dabei nennenswert auf die erhaltene Flugdauer auszuwirken. Und wirklich exakte Ergebnisse haben Gedankenexperimente ohnehin meist nur am anderen Ende eines sehr, sehr langen Kaninchenbaus.
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