Wieso empfinden wir Musik in Moll als traurig?
Ob Dur oder Moll, es scheint, als habe Musik ganz unterschiedliche Charaktere, die in uns tiefe Empfindungen auslösen können. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese subjektive Empfindung jedoch nicht eindeutig zu begründen. Hinsichtlich der Wirkung eines bestimmten Musikstücks auf uns gilt also zunächst die nüchterne Erkenntnis, dass es die Wirkung der Musik auf die Hörer nicht gibt. Eine eindeutige – gleichsam psychopharmakologische – Musikwirkung ist wissenschaftlich einfach nicht nachweisbar.
Die emotionale Wirkung ist vielmehr sowohl von der Situation des Musikhörens abhängig als auch von der momentanen Befindlichkeit des Hörers. Wer beispielsweise Franz Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" auf einer Beerdigung hört, empfindet dieses Stück ganz anders als in einem Konzertsaal. Grundsätzlich gilt beim Musikhören: Diejenige Musik wirkt am stärksten emotional, die der momentanen Befindlichkeit entspricht.
Dass Dur die Empfindung von "heiter" und Moll die von "traurig" in uns bewirkt, ist übrigens eine historisch relativ junge Vorstellung, die auf die Kompositionslehren von Gioseffo Zarlino (1517-1590) zurückgeht.
Wenn Musik eine eindeutige Wirkung haben soll, dann muss ihre Grundstimmung – der Affekt – auch eindeutig identifizierbar sein. Immerhin konnten Kinder ab drei Jahren in einer Studie von Robert Crowder und Marianna Kastner von der Yale University Testkompositionen in Dur und Moll lustigen beziehungsweise traurigen Gesichter zuordnen [1].
Dies beweist aber nicht die Natürlichkeit der Beziehung zwischen einem musikalischen Strukturmerkmal und einem empfundenen Affekt. Sie kann genauso gut auf die sehr frühe Entstehung eines musikalischen Stereotyps in der kindlichen Entwicklung hinweisen. In Moll reicht die Melodie zur Affektbestimmung nämlich nicht aus. Erst zusammen mit einer dazugespielten Begleitung erfassen Kinder den Affekt richtig. In Dur reichen hingegen unbegleitete Melodien aus – und die meisten Kinderlieder sind eben in Dur gesetzt.
Studien zum Vergleich der emotionalen Wirkung von Musik in Moll unterschiedlicher Kulturen ergaben ein uneinheitliches Bild: Der Musikpsychologe Günter Kleinen von der Universität Bremen hatte deutschen und chinesischen Hörern die Arie "Ihr habt nun Traurigkeit" aus dem Requiem von Johannes Brahms vorgespielt [2]. In beiden Kulturen wurde der Grundaffekt "Trauer" zwar im Prinzip richtig erkannt, doch zeigten sich ebenso Unterschiede auf den Skalen "kraftvoll" und "leidenschaftlich".
Eindeutig zeigt diese Studie auch, dass das Strukturmerkmal "Moll" als einziges Merkmal nicht ausreichend ist, um einen eindeutigen Affekt darzustellen. Der schnelle Anfangssatz aus Wolfgang Amadeus Mozarts berühmter g-Moll-Sinfonie wurde in beiden Kulturen als "gar nicht traurig" bewertet.
Mitunter werden musikalisch dargebotene Affekte auch verwechselt: Bei der Einordnung dargestellter Emotionen in hindustanischen Ragas durch Studenten von Laura-Lee Balkwill und William Thompson von der York University in Toronto kam es zu Verwechslungen zwischen dem musikalisch beabsichtigten Affekt "Trauer" und der Zuordnung zu "Freude" und "Friede" [3].
Zusammenfassend können wir sagen, dass die kompositorischen Bausteine von Musik viel zu sehr miteinander verbunden sind, als dass man die Wirkung der Musik nur einem Merkmal zuweisen könnte. Ein Stück in Moll kann uns unter bestimmten Bedingungen also traurig machen – muss es aber nicht. Das Musikerlebnis ist vielmehr individuell sehr unterschiedlich, und das ist auch gut so.
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