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Unsichtbar werden: Wieso verstecken sich kleine Kinder hinter ihrer Hand?

Wenn Kleinkinder Verstecken spielen, ist klar: Wer sich die Augen zuhält, wird unsichtbar. Logisch, denn wenn ich dich nicht sehe, kannst du mich auch nicht sehen. Kleinkinder haben eindeutig eine andere Vorstellung von Sehen und Gesehenwerden als Erwachsene.
Siehst mich nicht!

Etwa bis zum Alter von fünf Jahren haben Kinder eine andere Vorstellung von Sehen und Gesehenwerden als Erwachsene. Augen zu und unsichtbar? Für die lieben Kleinen selbstverständlich. Lange unterstellte man ihnen deshalb eine gewisse Egozentrik. Kleinkinder würden einfach von sich auf andere schließen: Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Kinder schließen aus ihrer Perspektive auf andere und umgekehrt – von einer anderen auf sich. Kleinkinder sind Beziehungswesen, sie besitzen eine Art Wir-Perspektive. In ihrer Wahrnehmung ist man ohne Blickkontakt unsichtbar. Logisch, dass für sie Augenzuhalten eine gute Strategie ist, um sich zu verstecken.

1980 untersuchten Psychologen der Stanford University, ob Kinder sich wirklich für unsichtbar halten, wenn sie die Augen geschlossen haben. Auf die Frage: "Kann ich dich sehen?" antworteten Kinder zwischen zweieinhalb und vier Jahren, die sich die Augen zuhielten: "Nein!" Durchaus bewusst war den Kindern allerdings, dass ihr Gegenüber ihren Körper (gefragt wurde nach dem Arm) und einen Gegenstand, der sich vor den Kindern befand, sehen konnte. Damit war widerlegt, dass Kleinkinder allein aus ihrer Perspektive – ich sehe nichts – auf andere folgern. Kleinkinder verstehen also, dass ihr Gegenüber Dinge sieht, die sie nicht sehen können. Aber warum sind Kinder von ihrer Unsichtbarkeit überzeugt, obwohl sie wissen, dass das Gegenüber ihren Körper sieht?

22 Jahre später wiederholten Wissenschaftler der University of Cambridge zu Beginn einer vertiefenden Versuchsreihe das Experiment ihrer US-amerikanischen Kollegen und kamen zum selben Ergebnis. Zwar trugen die Kinder diesmal eine undurchsichtige Brille, statt die Augen mit den Händen zu bedecken; dennoch gaben sie ebenso an, dass ihr Gegenüber sie nicht sehen könne – ihren Körper aber schon. Die Forscher aus Großbritannien trieben den Versuch noch etwas weiter. Setzte sich das Gegenüber der Kinder die Brille auf, erklärten die Kinder, dass sie diese Person nicht sehen könnten – deren Körper aber schon. Demnach spielt für Kinder unter fünf Jahren das Gegenüber bei ihrer Vorstellung von Sichtbarkeit ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie schließen nicht nur von sich auf andere, sondern auch umgekehrt: Wenn du mich (nicht) siehst, sehe ich dich auch (nicht). Ein Experiment, in dem das Gegenüber an den Kindern vorbei- und nicht in ihre Augen blickte, bestätigte die Vermutung der Wissenschaftler. In der kindlichen Vorstellung sieht man nur jemanden, der einen selbst anschaut und umgekehrt.

Ohne Blickkontakt bleibt man unsichtbar

Davon sind Kinder unter fünf Jahren überzeugt – auch dann, wenn sie selbst beteiligt sind, fanden Psychologen der University of Southern California 2017 heraus. In ihrem Versuch erklärten Kleinkinder auf Nachfrage, dass sich zwei andere Menschen gegenseitig nicht sehen können, wenn einer von ihnen die Augen geschlossen hat. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass dem kindlichen Denken eine Art "Wahrnehmungs-Wir" zu Grunde liegt: ein beidseitiges Verständnis von Wahrnehmung, das nicht nur das Sehen, sondern auch andere Sinne betrifft. Die Wissenschaftler experimentierten mit Hören und Sprechen und entdeckten, dass Kleinkinder sagen, dass sie jemand anderen nicht hören können, der seine Ohren verschließt, und dass sie nicht mit jemand anderem sprechen können, der seinen Mund zuhält. Wie die Forscher außerdem belegen konnten, gilt diese Art der beidseitigen Wahrnehmung nur in Bezug auf Personen, nicht aber auf Gegenstände. Die Wissenschaftler verdeckten Gegenstände teilweise, wie zum Beispiel die Schweinwerfer eines Spielzeugautos oder die Fenster eines Puppenhauses. Anschließend befragten sie Kleinkinder über die Sichtbarkeit des Spielzeugs. Eindeutig sichtbar, befanden diese.

Für Kleinkinder kommt das Wir vor dem Ich. Die Perspektive des Ich und des Du klar voneinander zu trennen, müssen sie erlernen. Ich sehe was, was du nicht siehst – eine bittersüße Lektion.

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