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Warkus' Welt: Wo das Recht auf Leben an Grenzen stößt

Sind wir moralisch verpflichtet, den eigenen Körper in den Dienst eines anderen Lebens zu stellen? Der Philosoph und Spektrum-Kolumnist Matthias Warkus lädt zu einem Gedankenexperiment ein.
Eine junge Frau sitzt im Bad und schaut ungläubig auf einen Schwangerschaftstest

Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens in ihrem Bett auf und stellen fest, dass dicke Kanülen mit Schläuchen in Ihren Adern stecken – wie bei einer Dialyse, die das Blut eines Menschen reinigt, wenn seine Nieren es nicht mehr können. Mit Ihnen verbunden ist aber kein Dialysegerät, sondern ein bewusstloser Mann, der neben Ihnen im Bett liegt. Es stellt sich heraus: Sie selbst sind das Dialysegerät. Eine Hilfsorganisation hat ihn an Ihren Blutkreislauf angeschlossen, während Sie schliefen. Der Mann leidet an einer seltenen Nierenkrankheit und Sie sind der einzige Mensch, der ihm auf diese Weise helfen kann. Sie müssen nur neun Monate mit ihm verkabelt bleiben; danach ist er geheilt. Wird die Verbindung vorher getrennt, wird er sterben.

Zu diesem Gedankenexperiment fordert uns die amerikanische Philosophin Judith Jarvis Thomson in ihrem berühmten Aufsatz »A Defense of Abortion« (1971) auf. Sie stellt fest, dass es sicher sehr liebenswürdig und lobenswert wäre, sich dieser Situation zu unterwerfen und so das Leben des Mannes zu retten. Der Knackpunkt ist aber: Ist man dazu moralisch verpflichtet? Wäre es legitim, einem Menschen in dieser Situation zu verbieten, die Schläuche zu trennen?

An der Dauer von neun Monaten ist unschwer zu erkennen, worauf dieses Gedankenexperiment abzielt: Es geht um die Frage der Legitimität von Schwangerschaftsabbrüchen. Thomson diskutiert zunächst die »extreme Ansicht«, dass es niemals legitim sei, eine Schwangerschaft zu beenden. Und sie kommt zu dem Schluss, dass die Frage, ab wann ein Embryo den Status einer Person hat und sein Leben entsprechend zu schützen ist, das Problem nicht im Kern trifft. Der Mann mag ein Recht haben zu leben – aber hat er auch ein Recht auf die Nutzung eines fremden Körpers als Lebenserhaltungssystem? Wenn die Analogie zutrifft, dann ist mindestens in Fällen, in denen das Leben der Mutter gefährdet oder die Schwangerschaft gegen ihren Willen verursacht wurde, die Fortsetzung der Schwangerschaft unabhängig vom Personenstatus des Embryo beziehungsweise Fötus vielleicht freundlich und lobenswert, aber nicht moralisch geboten.

Was, wenn eine Schwangerschaft neun Jahre dauern würde?

Der Aufsatz untermauert diesen Punkt mit Hilfe einer Reihe weiterer Gedankenexperimente. So stellt sich Thomson vor, eine Schwangerschaft könnte neun Jahre dauern oder vielleicht nur eine Stunde; oder Menschen könnten sich durch Windwanderung ausbreiten wie Löwenzahn, so dass man dichte Gitter vor den Fenstern anbringen muss, damit nicht versehentlich eine Menschenfrucht hereinweht und ein Baby in der Sofaritze heranwächst. Das Argument bleibt gültig: Wenn eine Frau eine Schwangerschaft abbricht, mag das zwar je nach Rahmenbedingungen charakterlich unterschiedlich zu bewerten sein, zum Beispiel je nach Alter, sozialen oder wirtschaftlichen Möglichkeiten oder der Art, wie die Schwangerschaft zu Stande gekommen ist (Vergewaltigung, sabotierte Verhütung, Pech oder Leichtsinn). Aber sogar falls ein Schwangerschaftsabbruch von schlechtem Charakter zeugen sollte, ist er dadurch immer noch nicht verwerflich. Es gibt nach Thomson in keinem Fall eine moralische Pflicht, den eigenen Körper einem anderen Menschen als Lebenserhaltungssystem zur Verfügung zu stellen.

Thomsons Aufsatz erschien 1971, dem Jahr, in dem der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten erstmals den Fall Roe gegen Wade hörte. Das Urteil im Jahr 1973 etablierte ein verfassungsmäßiges Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch. Am 24. Juni 2022 hat der Supreme Court die Grundsatzentscheidung rückgängig gemacht und damit das Recht auf Abtreibung in den USA gekippt. Judith Jarvis Thomson hat das nicht mehr erlebt; sie starb 2020 im Alter von 91 Jahren.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

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