Lobes Digitalfabrik: Achtung, Achtung: Eine Durchsage des Präsidenten!
Am 10. September 2020 wurde in Deutschland der Ernstfall geprobt: Mit dem ersten bundesweiten Warntag seit 30 Jahren sollte die Bevölkerung für Katastrophen sensibilisiert werden. Allein, der Probealarm entpuppte sich als großer Fehlschlag: Vielerorts blieben die Sirenen stumm, die Meldung der Warn-Apps NINA und Katwarn kam erst mit einer guten halben Stunde Verspätung auf den Smartphones an. Hinzu kommt, dass ohnehin nicht jeder die App auf dem Handy installiert hat. Und in manchen Orten gibt es auch gar keine Sirene. Deutschland ist für den Ernstfall nicht gerüstet. Nach dem Fiasko kündigte Bundesinnenminister Horst Seehofer Reformen an, der Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Christoph Unger, musste seinen Hut nehmen.
In den USA ist man in Sachen Katastrophenschutz schon einen Schritt weiter. Am 3. Oktober 2018 um 14.18 Uhr Ostküstenzeit poppte auf 225 Millionen US-Handys eine Eilmeldung auf: »DAS IST EIN TEST des National Wireless Emergency Alert System«, stand in der Nachricht. »Sie müssen nichts unternehmen.« Mit dem Notrufsystem will die Regierung die Bevölkerung vor Terroranschlägen, Epidemien oder Naturkatastrophen warnen.
Das System funktioniert vereinfach gesagt so: Die US-Behörde für Katastrophenmanagement (Fema) schickt eine Warnmeldung an alle Telekommunikationsanbieter im Land, die die Mitteilung über lokale Netze und Funkmasten auf die jeweiligen Endgeräte übermitteln. Im Gegensatz zu einer Warn-App, die man auf dem Smartphone installieren muss, erreicht die Eilmeldung per SMS alle Smartphone-Besitzer – egal, welchen Provider man hat. Der Presidential Alert ist für jedes Handy im US-Netz verpflichtend.
Alle Folgen von »Lobes Digitalfabrik« finden Sie hier.
Das Smartphone hat das Radio als Krisenmedium längst abgelöst. Im Krisenfall schaltet man nicht mehr das Radio ein, sondern schaut auf sein Smartphone (der Deutschlandfunk hat erst kürzlich die Verkehrsmeldungen abgeschafft). Insofern ist die digitale Krisenkommunikation effizient und sachgerecht. Man hat das Handy ständig bei sich.
Das macht das System interessant, aber auch gefährlich. Gefährlich deshalb, weil der Smartphone-Alert, der die Möglichkeit bietet, eine SMS an 225 Millionen Handys zu verschicken, Missbrauch Tür und Tor öffnet. Was wäre, wenn der Behörde ein Fehler unterläuft und eine Falschmeldung rausgeht? Wenn der Kanal gehackt wird und Hacker Fake-News verbreiten? Oder wenn plötzlich auf 225 Millionen Handys eine Push-Nachricht mit falschem Inhalt aufpoppt? Zum Beispiel, dass die USA mit Langstreckenraketen aus Nordkorea angegriffen werden? Wie schnell ließe sich eine solche Falschmeldung aus der Welt schaffen?
»Das ist keine Übung!« (aber ein Fehlalarm)
Das ist nicht bloß ein hypothetisches Szenario. Am 13. Januar 2018 wurden die Bewohner von Hawaii durch einen Raketenalarm in Angst und Schrecken versetzt. Hunderttausende Hawaiianer bekamen eine Warnung auf ihr Handy geschickt: »Drohende ballistische Rakete. Sofort Zuflucht suchen. Das ist keine Übung.« Daraufhin spielten sich dramatische Szenen ab: Menschen rannten panisch über die Straßen, um Schutz in Gebäuden zu suchen. Ein kleines Mädchen stieg in einen Kanal. Eine Familie verschanzte sich in der Toilette. In der Notrufzentrale klingelten die Telefone Sturm. 48 Minuten herrschte Ausnahmezustand – bis die Behörden Entwarnung gaben. Wie sich später herausstellte, war es bloß ein Fehlalarm. Ein Mitarbeiter des Katastrophenschutzes hatte auf einen Knopf gedrückt – und damit falschen Alarm ausgelöst. Eine technische Panne, die sich jederzeit wiederholen könnte.
Forscher der University of Colorado in Boulder haben gezeigt, dass man mittels Spoofing – einer Technik, bei der gefälschte Signale ausgesendet werden – Funkmasten kompromittieren und in einem geografisch eingegrenzten Gebiet falsche Warnmeldungen auf Handys schicken kann. Das könnte eine Massenpanik auslösen.
Der Presidential Alert könnte schließlich auch für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Was, wenn Donald Trump auf die Idee käme, 225 Millionen Handy-Nutzern eine »Warnung« des Inhalts »Die offiziellen Wahlergebnisse sind gefälscht« zu schicken? Wer kontrolliert den Verbreitungsweg? Die US-Verfassung mag Trump an einer digital orchestrierten Kampagne hindern. Der Katastrophenschutz würde sich sicher nicht zum Sprachrohr des Präsidenten machen. Aber theoretisch wäre dies möglich.
Verschafft sich die Regierung widerrechtlich Zutritt?
Schon bei dem Testlauf äußerten Netzaktivisten Unbehagen darüber, dass der Präsident ihre Nummer hat und sich quasi per offizieller Mitteilung auf ihr Handy schaltet. Das Smartphone ist ja mehr als ein bloßes Medium wie ein Fernseher oder Radio, sondern ein digitaler Alleskönner, der wie eine externe Festplatte unseres Gehirns fungiert. Entsprechend sensibel reagieren manche Nutzer auf staatliche Interventionen – zumal sich die Push-Meldungen nicht abschalten lassen. Man muss also gewissermaßen erdulden, dass sich der Präsident auf dem Smartphone mit einer amtlichen Mitteilung meldet.
Vor diesem Hintergrund klagten drei US-Bürger vor einem Bundesgericht in New York. Ihr Argument: Das verpflichtende Warnsystem verwandele das Handy in einen »Regierungslautsprecher« (Government loudspeaker) und verstoße daher gegen den vierten Zusatzartikel der US-Verfassung, das ein Abwehrrecht gegenüber staatlicher Abhörmethoden postuliere. Die Push-Nachrichten würden es der Regierung erlauben, mobile Geräte »widerrechtlich zu betreten und zu hacken«.
Es gibt in den USA eine Reihe von Warnsystemen. So kann im Kontrollzentrum des Bürgermeisters in Washington D. C. ein Netzwerk aktiviert werden, das die Hintergrundmusik in Aufzügen, Lobbys und Shopping-Malls im Stadtgebiet ausschaltet und durch Instruktionen ersetzt, wie sich die Bürger in einer Katastrophe zu verhalten haben. Die Frage ist: Gibt es eine Pflicht, auf den Staat zu hören? Kann man sich den Anweisungen entziehen? Und ist mit dem SMS-Empfang bereits die Schwelle der Nichtbeachtung überschritten?
In der Grundrechtslehre wird in diesem Kontext auf die negative Informationsfreiheit abgestellt, die Freiheit vor Informationen. Maßgeblich dafür ist das Kriterium der Unentrinnbarkeit, also die Frage, ob man sich einer Information entziehen kann oder nicht. Beispiele sind Sirenengeheul, aber auch optische Signale. Der Verfassungsrechtler Michael Sachs nennt in seinem Lehrbuch »Verfassungsrecht II – Grundrechte« Lautsprecherwagen als explizites Beispiel für eine »unentrinnbar aufgedrängte Information«. Das gälte in einem Analogieschluss wohl ebenso für eine Push-Nachricht ohne Ausschaltmöglichkeit. Daher hat der Bund übrigens bei der Corona-Warn-App auf das Prinzip der Freiwilligkeit gesetzt. Klar ist: Der exekutive Durchgriff auf Millionen Smartphones muss gesetzlichen Schranken unterliegen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben