Freistetters Formelwelt: Der Kalte Krieg im Taschenrechner
Der beste Taschenrechner der Welt ist der TI-68. Ich habe ihn für die Schule bekommen und fast 15 Jahre lang benutzt – so lange, bis irgendwann das Display den Geist aufgab. Danach habe ich es mit anderen Modellen ausprobiert; aber keines war so gut wie mein alter TI-68. Ein Nachkauf war leider nicht möglich, da er seit 1995 nicht mehr produziert wird. Ich habe also das getan, was mittlerweile so gut wie alle tun: den integrierten Rechner auf meinem Telefon benutzt.
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Vor Kurzem ist es mir dann doch gelungen, ein gebrauchtes, noch funktionstüchtiges Exemplar des TI-68 aufzutreiben. Und als ich die vertrauten Tasten endlich wieder drücken konnte, habe ich mir die Frage gestellt, wie der Rechner eigentlich rechnet. Woher zum Beispiel weiß er, wie Sinus- und Kosinusfunktionen zu berechnen sind? Vermutlich durch diese Formeln:
Zeichnet man einen Kreis mit dem Radius 1 um den Ursprung eines Koordinatensystems und zieht eine Linie von einem bestimmten Punkt am Kreis zu dessen Mittelpunkt, dann kann man sie als Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks definieren. Die Länge der Ankathete des Dreiecks entspricht dann dem Kosinus des Winkels, den die Hypotenuse mit der x-Achse einschließt; die Länge der Gegenkathete ist der Sinus.
Das lernt man in der Schule. Wie der Taschenrechner rechnet, ist dadurch allerdings immer noch nicht klar. Man könnte zum Beispiel vermuten, dass dort einfach eine lange Tabelle aller möglichen Werte eingespeichert ist. Theoretisch wäre das möglich, in der Praxis würde das bei der für Taschenrechner üblichen Genauigkeit jedoch mehrere Gigabyte an Speicher benötigen. Natürlich könnte man die Werte für Sinus- und Kosinusfunktionen auch approximativ aus ihrer Reihenentwicklung nähern. Das ist aber aufwändig und fehleranfällig. Stattdessen wird sehr oft der CORDIC-Algorithmus verwendet. Das steht für Coordinate Rotation Digital Computer und erklärt auch gleich das grundlegende Prinzip.
Algorithmus für die Apokalypse
Es geht darum, einen Einheitsvektor, der in der x-Achse liegt, um einen bestimmten Winkel – den Winkel, dessen Kosinus- oder Sinuswert berechnet werden soll – zu drehen. Dazu wählt man passende Teilwinkel und wendet die Rotation iterativ an, wie durch die Formeln oben beschrieben. Eine zu weite Drehung in die eine Richtung wird dabei durch eine Drehung in die Gegenrichtung kompensiert. Um das mathematisch zu realisieren, wurde eine zusätzliche Variable zi eingeführt, deren Wert das Vorzeichen σi festlegt: Ist zi kleiner oder gleich null, dann ist σi gleich -1; sonst +1. Die Werte des Ausdrucks arctan 2-i werden vorab berechnet und im Taschenrechner gespeichert.
Entwickelt hat diesen Algorithmus der amerikanische Ingenieur Jack Volder im Jahr 1959. Seine Motivation bestand nicht darin, Schulkindern das Rechnen zu erleichtern. Vielmehr wollte er die Navigationssysteme der B-58-Langstreckenbomber verbessern, die im Kalten Krieg als Träger von Atomwaffen eingesetzt wurden. Die bis dahin verwendeten analogen Rechner zur Positionsbestimmung waren fehlerhaft, und Volder wollte ein simples digitales System entwickeln, das nur mit Rechenoperationen arbeitet, die durch elektrische Schaltungen leicht umsetzbar sind. Mit CORDIC konnte er die für die Navigation nötigen trigonometrischen Rechnungen entsprechend vereinfachen. Die Methode wurde in den 1970er Jahren weiterentwickelt, und als die ersten Taschenrechner in großem Maßstab kommerziell vertrieben wurden, war sie mit dabei.
Mein TI-68 wurde das erste Mal 1989 angeboten, dem Jahr, in dem der Kalte Krieg zumindest offiziell zu Ende ging. Es ist ein wenig seltsam zu wissen, dass dieses Gerät eine Methode benutzt, die entwickelt wurde, um Atombomben präziser abwerfen zu können. Andererseits ist das eben genau das, was die Mathematik ausmacht: Sie kennt keine Ideologie. Wir sind selbst verantwortlich für das, was wir damit berechnen.
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