Sex matters: Darf’s auch durch die Hintertür sein?
»Ich bin seit ein paar Monaten in einer festen Beziehung. Neulich hat mich mein Freund gefragt, ob wir nicht mal Analsex ausprobieren könnten. Für ihn ist das irgendwie normal, für mich nicht. Ich frage mich, ob ich das wirklich machen will.« (Frage einer Schülerin, 18, in einer Stunde zur Sexualaufklärung)
Wenn ich in Schulklassen eingeladen werde, um mit Jugendlichen über Sexualität zu sprechen, fragen diese oft nach Sexualpraktiken und welche eigentlich »normal« sind. Dazu zitiere ich dann Statistiken und gefühlte Wahrheiten. Für mich schließt sich aber eine viel wichtigere Frage an: Wie kann ich entscheiden, welche Sexualpraktiken für mich persönlich in Ordnung sind? Soll ich das mal probieren – oder soll ich nicht? Die Antwort muss jeder für sich selbst finden, bewusst und selbstbestimmt, und das geht am besten, wenn man sich umfassend informiert hat. Deshalb finde ich es super, wenn die Jugendlichen Fragen stellen.
Mit der Klasse, aus der die Frage nach Analsex kam, habe ich eine Stunde diskutiert, gelacht, eingeordnet und Wissen geteilt. Die Leute waren 17, 18, 19 Jahre alt, ein Alter, in dem es wichtig ist, zum Fragen einzuladen und Antworten anzubieten. Wenn das niemand tut, suchen und holen sie sich ihre Informationen aus dem Internet und landen dabei auf Seiten, die mehr daran interessiert sind, Sexspielzeug zu verkaufen, als sachliche Informationen zu vermitteln. Mir geht es darum, Basiswissen zu vermitteln und Raum für Gespräche zu schaffen.
Es ist nie so, dass die Bedürfnisse von beiden zu 100 Prozent befriedigt werden
Punkt eins: Menschen dürfen Analsex haben. Unabhängig vom Geschlecht kann diese Praktik Teil der Sexualität sein. Kann, muss aber nicht. Damit sind wir beim zweiten Punkt: Wie alle gemeinsamen sexuellen Aktivitäten ist auch Analsex etwas, für das sich Menschen nur gemeinsam entscheiden können. Sex in einer Beziehung setzt immer Aushandeln voraus. Es ist nie so, dass die Bedürfnisse von beiden zu 100 Prozent befriedigt werden. Es braucht eine einvernehmliche Entscheidung. Und – Punkt drei – Menschen brauchen Wissen und Vokabeln, um darüber sprechen zu können.
Gerade bei sehr jungen Menschen sieht die Realität ganz anders aus als das, was durch Medien und Pornos in den Köpfen herumgeistert. Im Porno ist Analsex von einem patriarchalischen Männerbild geprägt. Der Mann will. Dann geht es ruckzuck. Konsens aushandeln? Vorbereitung? Zeit lassen? Zärtlichkeit? Fehlanzeige. Ich sage es mal so: Dieses Bild von Analsex hat mit der Realität so viel zu tun wie Social-Media-Videos vom Kuchenbacken mit dem, was man selbst zu Hause hinbekommt.
Analsex ist anders, als die meisten Menschen denken. Das fängt schon damit an, dass er längst nicht so häufig praktiziert wird, wie viele glauben. Das zeigen die Statistiken. In einer repräsentativen Befragung gaben mehr als 2500 Menschen in Deutschland Auskunft, ob sie schon einmal Analverkehr hatten. Bei Minderjährigen zwischen 14 und 18 Jahren war das selten: Knapp sechs Prozent der Jungen hatten schon einmal Analverkehr in der aktiven Rolle ausgeübt, und knapp zwei Prozent hatten schon einmal die passive Rolle inne. Unter den Mädchen hatten knapp zwölf Prozent bereits Analverkehr, aber nur rund zwei Prozent im vorangegangenen Jahr. Bei jungen Erwachsenen liegt die Quote höher: Im Alter zwischen 25 und knapp 40 hatte rund jeder Dritte bereits entsprechende Erfahrungen. In einer weiteren Studie gab jede fünfte Frau und jeder fünfte Mann zwischen Mitte 30 und Mitte 40 an, im Vorjahr Analverkehr gehabt zu haben. Im höheren Alter nehmen die Anteile deutlich ab.
Die Jugendlichen und ich haben aber auch über das »Wie« gesprochen, vor allem die Vorbereitung. Mit allem, was um den After herum passiert, sollte man ganz langsam anfangen. Wenn diese Körperregion berührt wird, wie fühlt sich das überhaupt an? Wie fühlt sich eine Massage an? Außerdem wichtig: reichlich Gleitgel, und zwar richtiges, keine Spucke. Und Kondome, denn die Gefahr von feinen Rissen in der Haut ist beim Analverkehr größer als beim Vaginalverkehr und damit auch das Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten. Das gilt ebenfalls für die orale Stimulation des Anus: Hierfür empfehle ich so genannte Lecktücher. Es ist auch wichtig zu wissen, dass ein nahtloser Übergang von Vaginal- zu Analverkehr nicht gut funktioniert, schmerzhaft sein und Krankheiten übertragen kann, egal ob Körperteile oder Sex Toys eingeführt werden. Es muss außerdem nicht gleich die anale Penetration sein. Man kann mit sanften Berührungen anfangen und dann langsam den Druck erhöhen, wenn es gewünscht ist.
Es ist viel einfacherer, etwas Neues auszuprobieren, wenn man sich bewusst ist, dass Sex immer ein Ausprobieren ist. Das ist wie beim Essen. Jedes Mal, wenn man etwas kocht, schmeckt es ein bisschen anders. Oft gut, manchmal aber auch seltsam, vielleicht muss ich mich an den Geschmack erst gewöhnen. Auch Sex fühlt sich nicht immer gleich an und ist nicht immer gleich gut. Manchmal will man weitermachen, manchmal lieber mittendrin aufhören. Das ist die wichtigste Botschaft: Probieren Sie aus, was Ihnen gefällt. Sagen Sie stopp, wenn es Ihnen nicht mehr gefällt. Und wenn Sie ein Stopp hören, dann nehmen Sie es jederzeit ernst und handeln Sie entsprechend.
Es braucht klare Absprachen
Wenn man Analsex ausprobieren möchte, braucht es klare Absprachen, ob und wann der nächste Schritt in Ordnung ist. Ich finde es zum Beispiel wichtig zu fragen: »Hey, wie fühlt es sich gerade für dich an? Willst du weitermachen oder sollen wir aufhören?« Dabei braucht es auch eine explizite Sprache, damit beide wissen, wovon sie eigentlich sprechen.
Manchmal fragen mich Lehrerinnen oder Lehrer, wie ich bei solchen Veranstaltungen eine gute Gesprächsatmosphäre schaffe. Meistens ergibt sie sich von selbst. Die Schülerinnen und Schüler sind in diesen Runden sehr aufmerksam, Jungen wie Mädchen. Schließlich sprechen wir über Fragen, die sie bewegen. Wenn wir junge Menschen und ihre Fragen ernst nehmen, dann erreichen wir sie auch und können sie bei ihren selbstbestimmten Entscheidungen begleiten – ein Ziel, das mich bei der Arbeit antreibt und das ich allen Eltern und Fachkräften ans Herz legen kann. Das ist nicht immer einfach, doch es lohnt sich.
Jetzt sind Sie dran:
Nehmen Sie im Alltag wahr, was Sie wollen? Achten Sie einen Tag lang darauf, was Ihnen gefällt und was nicht. Es kann um Wärme und Kälte gehen, um Essen und Getränke, um Zärtlichkeiten und Sexualität. Machen Sie sich bewusst, warum Sie sich für oder gegen etwas entscheiden.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
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