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Angemerkt!: Chemie am Scheideweg

Zum Jahr der Chemie 2011 stehen die molekularen Wissenschaften vor einer großen Herausforderung: Wie gelingt es, die Erfolgsgeschichte des letzten Jahrhunderts weiterzuschreiben? Dazu muss sich die Chemie neu aufstellen - orientiert an den Fragestellungen der Gegenwart.
Internationales Jahr der Chemie 2011
Das 20. Jahrhundert war vieles – aber vor allem war es das Jahrhundert der Chemie. Auf chemischen Verfahren basierende Technik beherrscht heute unser aller Alltag und ermöglicht ihn in vielen Fällen erst. Doch 2011, von den Vereinten Nationen zum Jahr der Chemie ausgerufen, sieht die molekularen Wissenschaften nicht nur auf dem bisherigen Höhepunkt ihrer Entwicklung, sondern auch am Scheideweg. Denn die moderne Chemie hat mit ihrer Fähigkeit, die Bausteine der sichtbaren Welt nahezu nach Belieben zu manipulieren, auch die Mängel in ihrer eigenen Struktur offen gelegt.

Seit langem schon fransen die traditionellen Disziplinen an den Rändern aus, sei es die Organische Chemie, deren Ressort nun auch die Liganden von – streng genommen anorganischen – Metallkomplexen sind, sei es die Anorganische Chemie mit ihrer inzwischen großen Bedeutung für die organische Synthese oder die Chemie biologischer Systeme. Die Physikalische Chemie als eigenständige Disziplin wiederum stammt aus einer Zeit, als Wissenschaftler die Gesetzmäßigkeiten chemischer Reaktionen empirisch erforschten, während für Diffusion oder Reaktionskinetiken schon theoretische Modelle existierten. Heute jedoch ist alle Chemie physikalisch: Die Theorie der chemischen Bindung ist eine quantenmechanische, Kernspins enthüllen die Strukturen selbst komplexer organischer Moleküle, und die Thermodynamik spielt in der Chemie belebter Systeme eine überraschend große Rolle.

Die überkommenen Einteilungen in Fachbereiche korrespondiert nicht mehr mit dem, was die Chemie aktuell bewegt. Im Gegenteil, als zentrale Anwendungswissenschaft befasst sich die Chemie zu einem großen Teil mit Fragestellungen, die nicht nur über die einzelnen Disziplinen hinausgehen, sondern über die Chemie selbst. Wirkstoffdesign ist viel mehr als nur organische Synthese, genauso wie Kraftstoffe und Chemikalien aus Biomasse nicht nur chemisches, sondern auch verfahrenstechnisches Know-How fordern. In der Materialwissenschaft suchen längst keine neu synthetisierten Stoffe mehr nach Anwendungen, sondern die Anwender aus der Technik nach maßgeschneiderten Lösungen, egal ob organisch oder anorganisch.

So zwingt die klassische Unterteilung des Fachs gerade der Ausbildung junger Chemikerinnen und Chemiker eine absurde Struktur auf. Der Student – oder die Studentin – lernt in der einen Vorlesung alles über Verbindungen mit Kohlenstoff, in der anderen alles über solche ohne Kohlenstoff, und in der dritten dann, wie sich Atome untereinander überhaupt verbinden. Später muss er sich dann auf eine dieser als eigenständige Fächer eigentlich völlig unmöglichen Richtungen spezialisieren. Sobald es allerdings ernst wird und der angehende Chemiker zu forschen beginnt, muss er sich fix alles aneignen, was im Studium nicht in eine der überkommenen Schubladen hinein gepasst hat – böse Zungen behaupten: ungefähr die gesamte Chemie seit etwa 1980.

Das große Thema der Chemie ist längst nicht mehr der Aufbau von Molekülen, sondern ihre Funktion, und so sollte die Chemie auch strukturiert sein. Alles was Reaktionen katalysiert, gehört in einen gemeinsamen Fachbereich, ob es nun ein Metallcluster oder ein Ribozym ist, und genauso kann ein funktionelles Polymer auf Metallen basieren wie auf Kohlenwasserstoffketten oder Proteinen. Für Forscher ist diese Erkenntnis längst banal – sie nutzen selbstverständlich die gesamte Bandbreite der Chemie. Es wird Zeit, dass sich diese Einsicht auch in der Fachbereichstruktur und vor allem in der Ausbildung des Nachwuchses durchsetzt. Das Jahr der Chemie sollte ein willkommener Anlass sein, diese Entwicklung anzustoßen.

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