Bildgebende Verfahren: Aufklärung statt verschwommener Darstellungen
Auch die Neurowissenschaft konnte Edwin Hart Turner nicht mehr helfen. Nach Jahren in der Todeszelle wurde er am 8. Februar im Staatsgefängnis von Mississippi mit der Giftspritze wegen zweifachen Mordes hingerichtet – trotz aller rechtlichen Mittel, die die Verteidigung bis zur letzten Minute einlegte. Darunter waren auch Hirnscans, mit denen die Anwälte ihrer Ansicht nach belegen konnten, dass Turner psychisch krank sei und daher nicht hingerichtet werden dürfe.
Ob wir Hirnforscher es wollen oder nicht, unsere Wissenschaft ist zur neuen Genetik geworden. Statt Genen müssen nun die Bilder aus dem Hirn herhalten, wenn einfache Erklärungen für menschliche Verhaltensweisen gefragt sind.
So vergeht nun kaum eine Woche, in der die Medien nicht mit einer bunten, dreidimensionalen Grafik aufwarten, die das Gehirn in Aktion zeigt und uns erklärt, warum wir handeln, wie wir handeln. Vor Kurzem wurde beispielsweise so getan, als könne man einzig mit Hilfe bildgebender Verfahren erkennen, ob jemand pädophile Neigungen zeigt oder nicht. An anderer Stelle dienten sie gar als Beweis dafür, dass wir uns in unser Handy verlieben können.
Solche Behauptungen kann man einfach nicht ernstnehmen, wenn man sich bewusst macht, wie begrenzt die Scannertechnologie nach wie vor ist und wie wenig wir letzten Endes vom Gehirn verstehen. Doch die Anziehungskraft der Grafiken auf das Publikum ist ungebrochen – und mehr noch: Sie wächst und wächst, allen Warnungen der Hirnforscher zum Trotz.
Überinterpretation der Wissenschaft
Je mehr die Neurowissenschaft auch außerhalb von Laboren und medizinischen Einrichtungen stattfindet, desto drängender werden die damit verbundenen ethischen und praktischen Fragen. Kommerzielle Anbieter vor allem im Bereich Marketing, aber auch gewerbliche Lügendetektoren greifen bereits in nennenswertem Umfang auf bildgebende Verfahren zurück. Doch diesen Methoden liegt eine Überinterpretation der Wissenschaft zu Grunde. Freilich können uns Hirnscanner dabei helfen zu verstehen, wie Menschen Entscheidungen treffen. Man sollte sie jedoch nicht als Werkzeug verkaufen, mit dem sich menschliches Verhalten vorhersagen oder gar beurteilen lässt. Ein Hirn allein sagt uns wenig.
Dass eine Technik noch in den Kinderschuhen steckt, hat die Menschen noch nie davon abgehalten, sie an andere zu verkaufen.
Dass eine Technik noch in den Kinderschuhen steckt, hat die Menschen noch nie davon abgehalten, sie an andere zu verkaufen oder selbst zu kaufen. In diesem Fall zieht das zwar weniger die Allgemeinheit in Mitleidenschaft als das Portemonnaie leichtgläubiger Firmenchefs, doch schädlich sind die Konsequenzen allemal. Verstetigt sich dieser Trend, wird er das Gesicht der Neurowissenschaft prägen. Wir können es uns aber nicht leisten, dass sich die öffentliche Meinung gegen die Hirnforschung wendet, weil kommerziell agierende Opportunisten das Vertrauen der Allgemeinheit in unsere Forschung verspielt haben.
Gesetz verbietet die kommerzielle Nutzung
Frankreich hat jetzt versucht, diesem Missbrauch der Neurowissenschaft einen Riegel vorzuschieben. Mit meiner Hilfe und der anderer Hirnforscher hat das französische Parlament die aus dem Jahr 2004 stammenden gesetzlichen Regelungen zur Bioethik überarbeitet. Im Ergebnis wurde im vergangenen Jahr folgender Passus ins Gesetz aufgenommen: "Bildgebende Verfahren der Hirnforschung dürfen ausschließlich zum Zweck medizinischer oder wissenschaftlicher Forschung eingesetzt werden sowie im Zusammenhang mit Gutachten von Gerichtssachverständigen."
Die Gesetzesänderung verbietet im Wesentlichen die kommerzielle Nutzung von neurowissenschaftlicher Bildgebung in Frankreich, was für die betroffenen Firmen allerdings nur bedeutet, dass sie in ein Nachbarland ausweichen müssen, wenn sie ihr Geschäft weiter betreiben wollen.
Das Verbot war von Anfang an umstritten. Viele Experten wendeten ein, dass man die Technik der Bildgebung nicht derart in den Fokus rücken sollte. Warum diesen pseudowissenschaftlichen Anwendungen überhaupt so viel Aufmerksamkeit schenken, hieß es beispielsweise. In meinen Augen hat diese Einstellung etwas Heuchlerisches. Man bedenke, dass dieselben Wissenschaftler, die zwar eine kommerzielle Verwertung für prinzipiell unwissenschaftlich halten, sich gleichzeitig auf den Standpunkt stellen, dass uns bildgebende Verfahren bei der Untersuchung neuronaler Störungen weiterhelfen können oder uns verraten, wie Kinder Lesen lernen. Im Endeffekt bringt uns dies in eine wenig wünschenswerte Situation, in der die Verlässlichkeit einer neuen Methode nicht mehr anhand der dahinter stehenden Wissenschaft beurteilt wird, sondern anhand ihres vermeintlichen Werts und Nutzens für die Gesellschaft.
Streitfall vor Gericht
Angesichts der Unsicherheiten, die mit der Technologie verknüpft sind, halte ich es allerdings für sehr problematisch, dass der zweite Teil der Gesetzesänderung den Einsatz bildgebender Verfahren in den Gerichtssälen befürwortet. Ganz sicher hat sich kein einziger der Neurowissenschaftler, die bei den Beratungen konsultiert wurden, für diese Regelung ausgesprochen.
Bislang leisteten bildgebende Verfahren vor Gericht vor allem argumentative Schützenhilfe, etwa bei der Frage, welche strafmildernden Umstände berücksichtigt werden müssen. Allerdings gab es in Indien, Italien und den USA bereits den fehlgeleiteten und gefährlichen Versuch, Hirnscans als entscheidendes Beweismittel zur Klärung der Schuldfrage heranzuziehen. Noch sind derartige Bemühungen zwar samt und sonders erfolglos geblieben, doch der Tag ist nicht mehr fern, an dem sich irgendein Gericht in einem Land auf Grund von Hirnscannerdaten von Schuld oder Unschuld des Angeklagten überzeugen lässt. Frankreich tut sich keinen Gefallen damit, den Einsatz der neurowissenschaftlich Bildgebung vor Gericht zu ermutigen – jedenfalls nicht auf eine derart unspezifische Art und Weise.
Vielsagende Entscheidung
Dass die französische Politik damit den Rückgriff auf bildgebende Verfahren in Gerichtsgutachten explizit begrüßt, obwohl dies keiner ihrer Berater befürwortete, spricht Bände. Ihr exzessives Vertrauen in eine Technologie, die sich gerade erst herausbildet, könnte dem Hype um die frühen wissenschaftlichen Hirnscanner-Studien geschuldet sein – und den Fantasien jener Firmen, die aus den Verfahren Profit schlagen.
Hinzu kommen die Versuche von Wissenschaftlern, die Entscheidungsträger in der Forschungspolitik für ihre Belange einzunehmen. In der Kombination hat dies allem Anschein nach zu der Überzeugung geführt, dass die Hirnforschung zwar nicht die endgültige Antwort auf sämtliche gesellschaftlichen Fragen liefern wird, dass ihre Erkenntnisse und ihr Potenzial aber dennoch nicht ignoriert werden dürfen. Fraglos sollten wir solche Bestrebungen gutheißen. Aber reicht das aus, was die Hirnforschung bislang geliefert hat, um grünes Licht für ihren Einsatz vor Gericht zu geben? Ganz sicher nicht.
Die Neurowissenschaft ist keine Hellseherei. Berücksichtigt man ihre Ergebnisse jedoch mit Bedacht, kann sie durchaus den politischen Entscheidungsträgern dabei helfen, eine kluge und sachgerechte Meinung zu bilden. Der Weg in die Zukunft sollte ihr daher keineswegs versperrt werden. Gesetze und Wissenschaft haben eines gemeinsam: beide können fehlinterpretiert werden.
Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Clear up this fuzzy thinking on brain scans" in: Nature 483, S. 7, 2012
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