Autismus: Autisten verstehen sich besser miteinander als mit Nichtautisten
Ein guter Freund von mir wurde als autistisch diagnostiziert. Obwohl die Kommunikation zwischen uns meist gut läuft, kommt es manchmal zu Missverständnissen. Liegt das an seinem Autismus? Den diagnostischen Kriterien zufolge ja. Aber wenn er mit anderen autistischen Menschen spricht, scheinen viel weniger Missverständnisse aufzutreten. Inwiefern sind Kommunikationsprobleme also ein charakteristisches Merkmal von Autismus? Das ist genau die Frage, die ich mir stellte, als ich vor einigen Jahren mit meiner Doktorarbeit an der Universität Gent (Belgien) begann.
Meine Kollegen und ich fragten mehr als 400 Menschen mit Autismus in Belgien und den Niederlanden nach ihren Erfahrungen. (Anders als zum Beispiel in englischsprachigen Ländern bevorzugen hier die meisten die Bezeichnung »Person mit Autismus« an Stelle von »autistische Person«.) Ihre Botschaft war unmissverständlich: Sie erleben die Kommunikation mit anderen Menschen mit Autismus als einfacher und besser als mit Menschen ohne Autismus. Sie finden die Kommunikation angenehmer und weniger anstrengend und fühlen sich dabei wohler.
Außerdem gaben mehrere Teilnehmende an, dass sie in Gegenwart anderer Menschen mit Autismus sie selbst sein können und ihren Autismus nicht verstecken müssen. Sie hätten außerdem mehr Ruhe, weil andere Personen mit Autismus nicht sofort eine Antwort erwarten. Die Befragten berichteten aber auch offen über autismustypische Schwierigkeiten. So sagten einige, dass es ihnen manchmal schwerfalle, die Sichtweise der anderen zu verstehen. Wer die Bezeichnung »autistische Person« an Stelle von »Person mit Autismus« bevorzugte, gab interessanterweise eher an, mit anderen autistischen Menschen besser kommunizieren zu können.
Die Probleme sind nicht dem Autismus zuzuschreiben, sondern eher der Kommunikation zwischen Menschen, die die Welt unterschiedlich erleben
Dafür gibt es verschiedene mögliche Erklärungen. Im Allgemeinen erleben diese Menschen ein stärkeres Gruppengefühl mit der autistischen Gemeinschaft. Möglicherweise wollen jene, die die Interaktion mit ihresgleichen als besser und einfacher erleben, auch lieber ein Teil dieser Gemeinschaft sein. Außerdem schreiben wir einer Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen, eher positive Eigenschaften zu. Vielleicht behaupten sie also nur, dass die Kommunikation mit anderen Menschen mit Autismus besser läuft, obwohl das gar nicht der Fall ist.
Die Befragten gaben überdies an, dass Menschen ohne Autismus unklar kommunizieren: Oft drücken sie sich vage aus oder sagen nicht geradeheraus, was sie meinen. Und sie begreifen nicht, wie sich Autismus auswirkt, weshalb sich Autisten oft unverstanden fühlen.
Glücklicherweise läuft die Kommunikation oft auch gut. Es hilft schon, wenn beide Seiten offen ins Gespräch gehen. Außerdem können Menschen ohne Autismus dazu beitragen, indem sie sich kürzer fassen, eine weniger bildhafte Sprache gebrauchen und genug Raum und Zeit für Nachfragen lassen.
Das doppelte Empathieproblem
Die Interaktionsprobleme zwischen Menschen mit und ohne Autismus wurden jahrzehntelang nur einer Seite zugeschrieben. Doch seit einigen Jahren ändert die Theorie vom doppelten Empathieproblem genau das: Sie besagt, dass Probleme im Umgang miteinander nicht dem Autismus zuzuschreiben sind, sondern eher der Kommunikation zwischen Menschen, die die Welt unterschiedlich erleben. Die Erfahrungen von Menschen mit Autismus stehen mit dieser Theorie im Einklang. Weitere Forschung muss klären, ob das an einer unterschiedlichen Art der Kommunikation liegt oder mehr mit dem Gruppengefühl zu tun hat.
Ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben, um mit meinem Freund direkter zu kommunizieren, und nicht davon ausgehen, dass alles, was ich sage, stets klar und verständlich ist. Ich hoffe, dass wir einander dann noch besser verstehen.
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