Freistetters Formelwelt: Wie wahrscheinlich ist es, dass die Sonne morgen wieder aufgeht?
Kürzlich bin ich in einem Artikel auf folgende interessante Formel gestoßen:
Der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace hat damit die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass die Sonne auch morgen wieder aufgeht. Das klingt nach einer sehr obskuren Frage – insbesondere für einen Wissenschaftler, der obendrein ein berühmter Astronom war und seine größten Leistungen auf dem Gebiet der Himmelsmechanik geliefert hat, also der Wissenschaft von der Bewegung der Himmelskörper.
Als Laplace im frühen 19. Jahrhundert an diesem Problem arbeitete, wusste man zwar noch nicht wirklich, wie die Sonne funktioniert und wie alt das Sonnensystem ist. Doch Laplace dürfte auf jeden Fall genug über die Dynamik der Planeten gewusst haben, um davon ausgehen zu können, dass die Erde nicht plötzlich aufhört zu rotieren, ihre Bahn verlässt oder dass die Sonne nicht mehr strahlt. Bei der Sache mit der Wahrscheinlichkeit geht es allerdings um etwas ganz anderes.
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Angenommen, man wirft eine faire Münze. Wie wahrscheinlich ist es nach fünfmaligem Kopf-Ergebnis, dass auch beim sechsten Mal Kopf oben liegt? Natürlich lautet die Antwort immer noch 50 Prozent, denn die Würfe sind unabhängig voneinander. Die Münze weiß nichts von dem, was zuvor passiert ist. Aber was, wenn man es mit zwei Münzen zu tun hat: einer normalen und einer manipulierten, die in 90 Prozent der Fälle Kopf zeigt? Man wählt blind eine der beiden Münzen, wirft sie fünfmal und stets liegt Kopf oben. Man könnte nun mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, die manipulierte Münze erwischt zu haben und dass der sechste Wurf damit eher auf Kopf als auf Zahl landen würde.
Bayessche Statistik liefert die Lösung
Es geht hierbei um Wahrscheinlichkeiten, die man unter dem Kontext eines konkreten Wissensstands interpretieren muss (in diesem Fall des Wissens um die Existenz einer manipulierten Münze). Das entsprechende mathematische Gebiet nennt sich bayessche Statistik und ist definitiv zu komplex, um sie in einer einzigen Kolumne abzuhandeln. Es ist jedoch genau diese Art der Betrachtung von Wahrscheinlichkeiten, die Laplace mit seinem Beispiel zum Sonnenaufgang veranschaulichen wollte.
Wir wissen, dass die Sonne bisher immer aufgegangen ist: Das sind die Ereignisse E1 bis En in der obigen Formel. Darauf basierend kann man berechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass sie auch morgen (also beim Ereignis En+1) aufgeht. Die Mathematik zur Herleitung der Gleichung ist ein wenig komplex, aber am Ende bleibt der simple Bruch, der die Wahrscheinlichkeit in Abhängigkeit der Tage n angibt, an denen die Sonne in der Vergangenheit aufgegangen ist. Laplace setzte das Alter der Erde mit etwa 5000 Jahren an und kam damit auf eine Wahrscheinlichkeit von 99,999945 Prozent für den nächsten Sonnenaufgang.
Das ist beruhigend. Man sollte allerdings noch einmal klarstellen, dass Laplace die Sache nicht als astronomische Berechnung verstanden hat, sondern als Illustration der von ihm verwendeten mathematischen Prinzipien zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aus astronomischer Sicht gibt es wenig Möglichkeiten, einen Sonnenaufgang zu verhindern. Man müsste die Erdrotation stoppen; doch abgesehen davon, dass dafür so gut wie keine plausiblen Mechanismen existieren, würde die dabei frei werdende Bewegungsenergie uns sowieso auslöschen. Die Sonne selbst wird tatsächlich irgendwann aufhören zu leuchten. Aber bis es so weit ist, werden noch ein paar Milliarden Jahre vergehen. Genug Zeit, sich jede Menge Sonnenaufgänge anzusehen und sich mit Mathematik zu beschäftigen.
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