Klimawandel: Begrabt das Zwei-Grad-Ziel
Seit ungefähr einem Jahrzehnt konzentriert sich die Weltdiplomatie im Kampf gegen den Klimawandel auf das Zwei-Grad-Ziel: Die Erderwärmung soll die weltweite Durchschnittstemperatur verglichen mit der Zeit vor der Industrialisierung nur um maximal zwei Grad Celsius erhöhen. Dieses Ziel – mutig und eingängig – wurde unkritisch akzeptiert und hat sich als einflussreich herausgestellt.
Der Beitrag zur Verringerung der Emissionen im fünften Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC dreht sich um dieses Ziel – so wie fast jeder politische Plan, in dem es darum geht, den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren: von Kalifornien bis zur Europäischen Union. Dieses Monat beginnen erneut diplomatische Verhandlungen, um vor dem großen Klimagipfel in Paris 2015 eine Übereinkunft zu erzielen. Und wieder stehen die maximal zwei Grad Celsius Erwärmung im Mittelpunkt.
Diese dreiste Vereinfachung muss nun mit der Realität konfrontiert werden. Politisch und wissenschaftlich führt das Zwei-Grad-Ziel in die falsche Richtung. Politisch erlaubte es einigen Regierungen die Behauptung, sie würden ernsthafte Maßnahmen ergreifen, um die Erderwärmung einzudämmen, obwohl sie in Wahrheit nichts erreicht hatten. Und wissenschaftlich gesehen existieren bessere Messmethoden, mit der man die menschliche Belastung des Klimas erfassen kann, als steigende Durchschnittstemperaturen – die sich seit 1998 kaum nach oben bewegt haben und nur schwach mit den Dingen verbunden sind, die Regierungen oder Unternehmen direkt kontrollieren können.
Wenn wir aber dabei versagen, wissenschaftlich gehaltvolle Ziele festzulegen, erschweren wir Wissenschaftlern und Politikern zu vermitteln, welche großen Klimaschutzinvestitionen handfeste Resultate bringen. Einige Gegenreaktionen von so genannten Klimaskeptikern hängt teilweise mit der Besessenheit mancher Entscheidungsträger zusammen: Sie fokussieren sich völlig auf die globalen Temperaturen, die aber in Wahrheit nicht mit den wirklichen Gefahren des Klimawandels im Gleichschritt marschieren.
Wir benötigen also neue Ziele. Es ist an der Zeit, endlich eine große Zahl verschiedener "Lebenszeichen" der Erde zu erfassen und zu verfolgen, die in unserem wissenschaftlichen Verständnis der Klimafaktoren und -risiken besser verwurzelt sind – etwa wie sich die Wärmekapazität der Ozeane verändert. Zudem benötigen wir jeweils verbindliche Ziele und politische Maßnahmen für alle Gase, die durch uns Menschen emittiert werden, um sie zu verringern.
Ein eigenes Ziel
Seit Anfang an gestaltet es sich schwierig, einklagbare Ziele beim Klimaschutz zu formulieren. Die 1992 von den Vereinten Nationen verfasste Klimarahmenkonvention will als Ziel "gefährliche menschliche Umwälzungen des Klimasystems" verhindern. Versuche, die Bedeutung von "gefährlich" näher zu definieren, haben sich als unergiebig erwiesen: Je nachdem welchen Teil des Klimasystems man genauer betrachtet, unterschieden sich auch die Antworten, was als gefährlich erachtet wird. Und dazu kommen noch unterschiedliche nationale Perspektiven.
Die Klimakonferenzen 2009 und 2010 in Kopenhagen und Cancun packten dieses politische Ziel in etwas konkretere Sätze: die globale Durchschnittstemperatur. Das Zwei-Grad-Ziel stand wissenschaftlich auf tönernen Füßen, aber es bot einen einfachen Fokus und war aus früheren Diskussionen geläufig, etwa im IPCC, der EU oder der G8 der Industriestaaten. Damals klang das Zwei-Grad-Ziel mutig und machbar.
Seitdem sind zwei fiese politische Probleme aufgetaucht. Zum einen ist das Ziel praktisch nicht zu erreichen. Angesichts des permanenten Versagens, die Emissionen weltweit zu verringern, wird der Treibhausgasausstoß sicherlich die Grenze nach oben einreißen. Es wäre laut vieler Klimamodelle nur machbar, wenn weltweit scharfe Einschnitte bei den Emissionen stattfänden. Die Simulationen gehen allerdings von heroischen Annahmen aus, etwa einer sofortigen globalen Zusammenarbeit und weiter Verbreitung von Technologien wie dem Einfangen und Einlagern von Kohlendioxid aus Kraftwerken, genannt Carbon Capture and Storage (CCS). Momentan wird damit nicht einmal in großem Maßstab experimentiert. Da das Zwei-Grad-Ziel knackig klingt und zukünftige Erwärmung betrifft, können Politiker Tatkraft vorgeben, obwohl sie in Wahrheit wenig unternehmen. Sie jagen diesem unerreichbaren Ziel nach und ignorieren darüber, dass wir uns massiv an den Klimawandel anpassen müssen.
Zum zweiten ist der Weg zum Ziel nicht zu verwirklichen. Die Zwei-Grad-Grenze hängt nur probabilistisch mit Emissionen und Gegenmaßnahmen zusammen. Es schreibt bestimmten Regierungen und Personen nicht vor, was sie konkret zu tun haben. Dabei war die internationale Politik immer dann am erfolgreichsten, wenn ihre Ziele mit exakten Handlungsanweisungen verbunden waren. Die acht Milleniumsziele der der Vereinten Nationen, die im Jahr 2000 ausgegeben wurden, wurden dann wirksamer in Angriff genommen, als man sie in 21 Ziele und 60 detaillierte Indikatoren aufspaltete: Sie waren messbar, praktisch und verknüpft mit dem, was Regierungen, Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen tun konnten.
Verstörende Pause
Die wissenschaftlichen Grundlagen für das Zwei-Grad-Ziel sind dünn. Die Mitteltemperatur der Erde stieg in den vergangenen Jahren kaum. Doch andere Messungen belegen, dass sich der Strahlungsantrieb beschleunigt – also das Ausmaß, mit dem die sich in der Atmosphäre ansammelnden Treibhausgase die Energiebilanz der Erde stören. Die Arktis beispielsweise heizt sich ungebremst auf. Das Klima in den höheren Breiten reagiert empfindlicher als unser Planet im Ganzen. Und über Rückkopplungsmechanismen könnte dies zu extremen Wetterlagen in den mittleren Breiten führen.
Warum könnte der menschliche Klimaeinfluss stärker wachsen, wenn gleichzeitig der Temperaturanstieg weit gehend ausfällt? Die Antwort liegt mit fast 100-prozentiger Sicherheit in den Ozeanen: Sie nehmen 93 Prozent der zusätzlichen Wärmeenergie auf, die dem Klimasystem zugeführt wird – wodurch unter anderem der Meeresspiegel steigt. Ein einziger Index des Klimawandelrisikos wäre wunderbar, doch Derartiges ist nicht möglich. Wir benötigen eine ganze Reihe an Indizes um die verschiedenen Klimaprobleme und ihre Folgen zu erfassen. Mediziner nennen ihre Sammlung an Gesundheitsindikatoren Lebenszeichen. Den gleichen Ansatz benötigen wir für das Klima.
Den besten Gradmesser verwenden wir sogar schon geraume Zeit: die Konzentration von Kohlendioxid und anderer Treibhausgase in der Atmosphäre (beziehungsweise den veränderten Strahlungsantrieb, den diese Gase verursachen). Derartige Parameter werden bereits exakt von einem internationalen Netzwerk an Überwachungsstationen gemessen. Einem globalen Ziel für die durchschnittlichen Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre im Jahr 2030 und 2050 müsste also zugestimmt werden. Danach kann man dies in spezifische Emissionsziele umwandeln und die entsprechenden politischen Handlungen festlegen. Diese müssen in regelmäßigen Abständen überprüft werden, damit die einzelnen Regierungen eindeutig sehen, wie ihre Maßnahmen zum globalen Ergebnis beitragen.
Manche Faktoren wie Methan oder Ruß unterscheiden sich lokal oder regional beträchtlich. Zudem existieren noch einige wissenschaftliche Unsicherheiten bezüglich des Zusammenhang zwischen unseren Emissionen und den gemessenen Konzentrationen. Momentan gewinnen allerdings einige politische Initiativen an Fahrt, mit denen der Nachweis und die Kontrolle dieser Erwärmungsfaktoren verbessert werden sollen. Die Climate and Clean Air Coalition etwa besteht aus einer Gruppe von Staaten, die sich darauf konzentrieren, die Freisetzung kurzlebiger Treibhausgase zu verringern.
Entscheidungsträger sollten zudem die Wärmekapazität des Ozeans und die Temperaturen an den Polen überwachen. Da die in der Tiefsee gespeicherte Wärmeenergie in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten wieder freigesetzt wird, ist sie ein guter Proxy für die langfristigen Risiken zukünftiger Generationen und die Ökosysteme der Erde. Die Temperaturen in den hohen Breiten muss man sinnvollerweise ebenfalls in die planetaren Lebenszeichen einfügen, da sie so empfindlich auf Klimaveränderungen reagieren und viele konkrete Schäden nach sich ziehen.
Den Weg beschreiten
Was wir letztendlich noch benötigen, ist eine Art Schwankungsindex, der die sich entwickelnden Risiken extremer Ereignisse misst – so dass wir die globalen Lebenszeichen mit lokalen Informationen verknüpfen können, was die Menschen am meisten interessiert. Am besten fängt man dabei mit dem gesamten Gebiet an, in dem festgelegte Parameter in ihren Werten das Dreifache der Standardabweichung vom lokalen und jahreszeitlichen Mittelwert überschreiten.
Das Fenster für Veränderungen und verbesserte Zielvorgaben ist offen. Ab jetzt nimmt die Klimapolitik wieder Fahrt auf, damit 2015 eine neue Übereinkunft zum Klimaschutz in Paris verabschiedet werden kann. Wenn man dem Klimawandel ernsthaft begegnen möchte, muss man über die Kosten der Emissionsziele streiten, die Lasten teilen und internationale Finanzierungsmechanismen entwickeln. Aber die Diplomaten müssen endlich von ihrem Zwei-Grad-Ziel abrücken. Wissenschaftler müssen ihnen erklären helfen, warum das nötig ist und durch was es ersetzt werden sollte.
Neue Indikatoren werden bis zum Pariser Gipfel nicht fertig sein, aber der Weg dahin sollte dann verabschiedet werden. Ein eindeutiges internationales Mandat würde die Erforschung derartiger Lebenszeichen der Erde ankurbeln – so wie der Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen dies für die Millenniumsziele geleistet hat. Die Pariser Übereinkunft sollte eine internationale technische Konferenz verlangen, auf der man diskutiert, wie man die heutigen wissenschaftlichen Messungen in planetare Lebenszeichen von morgen überführen kann.
Die Öffentlichkeit muss verstehen können, was sie bezahlen soll. "Kohlendioxidkonzentration" oder "Wärmekapazität der Ozeane" sind dabei weniger griffig als "Temperatur", um dem Mann auf der Straße die Gefahren des Klimawandels vorzuführen. Doch Patienten wissen mittlerweile, dass Ärzte viele Parameter wie Blutdruck, Herzschlag oder Gewicht überprüfen müssen, um Krankheiten frühzeitig zu erkennen und sie zu behandeln. Die gleiche Strategie benötigen wir nun auch für die Erde.
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