Freistetters Formelwelt: Manchmal sind Gefühle wichtiger als Logik
Will man exakt sein, lässt sich ein Winkel nicht ganz so einfach beschreiben: Ein Winkel ist ein Teil der Ebene, der von zwei Geraden begrenzt wird, die von einem gemeinsamen Punkt ausgehen. Das, was wir dagegen meist meinen, wenn wir Winkel sagen, ist das Winkelmaß oder die Winkelweite – also die Größe des Winkels. Dreht man eine Gerade um einen gewissen Wert um ihren Ausgangspunkt, erhält man einen entsprechend großen Winkel. Mit welchen konkreten Zahlen wir den Winkel darstellen, hängt davon ab, wie man den so genannten Vollwinkel unterteilt.
Den Vollwinkel erhält man, wenn man die Gerade eine volle Kreisbewegung durchführen lässt. Üblicherweise sagen wir, dass der Vollwinkel 360 Grad hat – aber das ist eine reine Konvention. Es geht auch anders, wie diese Formel zeigt:
Hier wird die Einheit Gon definiert, nämlich als der 400. Teil des Vollwinkels. Ein Gon entspricht also 0,9 Grad, was sehr ungewöhnlich klingt. Doch bei genauerer Betrachtung ist es eigentlich eine naheliegende Idee. Ein rechter Winkel hat nämlich genau 100 gon – und wir definieren ja auch unsere restlichen Einheiten über das Dezimalsystem, also als Vielfache von zehn. Es ist überraschend, dass sich dieses System bei Länge oder Gewicht fast global durchgesetzt hat; bei der Messung von Winkeln aber nicht.
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Bei Winkeln verwenden wir immer noch ein Sexagesimalsystem, das die Sumerer schon vor gut 5000 Jahren nutzten. Verantwortlich dafür ist vermutlich einerseits die Astronomie, die es praktisch fand, den Vollwinkel durch Vielfache von 60 darzustellen: eine Zahl, die sich leicht weiter unterteilen lässt. Andererseits passen 360 Grad auch gut zur Jahreslänge von 365 Tagen, was kalendarische Berechnungen einfacher macht.
Ein Kreis zu 6 mal 60 Grad, von denen jedes in 60 Minuten zu je 60 Sekunden unterteilt ist: Trotz aller Versuche der Metrifikation ist dieses System heute immer noch fast überall in Verwendung. Als im Zuge der Französischen Revolution die Einheiten auf ein Dezimalsystem umgestellt wurden, wurde ein Meter als zehnmillionster Teil der Strecke vom Nordpol bis zum Äquator (entlang des Meridians von Paris) definiert. Ein Gon würde dann einer Bogenlänge von 100 Kilometern entsprechen, ein Zentigon einer Bogenlänge von einem Kilometer und 10 Microgon wären genau ein Meter entlang des Meridianbogens.
Ein Tag mit 10 Stunden à 100 Minuten
Alles sehr schön übersichtlich. Aber genauso wie der Versuch, Kalender und Uhrzeit zu dezimalisieren, hat sich auch die Einheit Gon nie wirklich durchgesetzt. Sieht man von vereinzelten Gebieten des Vermessungswesen und der Robotik ab, wird weiterhin mit 360 Grad für einen Kreis gerechnet. Auch bei der Uhrzeit werden wir vermutlich weiterhin bei den üblichen 24 Stunden (oder zweimal 12 Stunden) pro Tag bleiben; ein weiteres Überbleibsel aus dem alten Sexagesimalsystem (5 mal 12 ergibt 60).
Der Mathematik selbst ist es egal, wie die konkreten Zahlen aussehen, mit denen gearbeitet wird. Ob wir den Vollwinkel in 360 Grad, 400 Gon, 24 Stunden oder 2π Radiant unterteilen – oder uns irgendein anderes Maß ausdenken –, hat keine Auswirkungen auf unsere Erkenntnisse zur Geometrie und der daraus abgeleiteten Ergebnisse. Wir Menschen können aber nicht so abstrakt und objektiv sein wie die Gesetze der Mathematik. Und in manchen Bereichen sind Traditionen für uns scheinbar wichtiger als Systematik. Ein Tag mit 10 Stunden zu je 100 Minuten würde genauso lange dauern wie einer mit 24 Stunden. Und ein Kreis mit 400 Gon sieht genauso aus wie einer mit 360 Grad. Aber es fühlt sich einfach falsch an, so zu messen – und in diesem Fall sind die Gefühle offensichtlich wichtiger als die mathematische Ordnung.
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