Pädagogik: Bildungschancen in Deutschland: ungerecht verteilt!
Das deutsche Schulwesen bleibt in der Diskussion. Seit mehr als zehn Jahren halten die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien die bildungspolitisch interessierte Öffentlichkeit in Atem. Aufmerksamkeit haben vor allem die Pisa-Ranglisten, gestuft nach Durchschnittsleistungen, gefunden. Daneben sind in Deutschland die besonders schlechten Ergebnisse von Kindern aus Migrantenfamilien wahrgenommen worden. Das gilt schon weniger für die hohe Abhängigkeit der Leistungen aller Schülerinnen und Schüler von deren sozialer Herkunft, zumindest wenn man sich die konkreten politischen Maßnahmen anschaut.
Das Verhältnis von Leistungsfähigkeit und Chancengerechtigkeit des Schulsystems ist Thema einer neuen Studie der Bertelsmann-Stiftung und des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund. In dieser Untersuchung wurden zwar keine neuen Daten erhoben, aber vorhandene Statistiken in geschickter Kombination ausgewertet.
Doch Zahlen sprechen nicht für sich. Wie sie interpretiert werden, hängt von theoretischen Annahmen, vom Kontextwissen und von normativen Kriterien ab – und damit nicht selten auch von politischen Interessen. Schon der Begriff "Chancengerechtigkeit" ist umstritten. Reichen gleiche Chancen aus bezogen auf die Voraussetzungen, die Kinder in die Schule mitbringen – schon unterschiedlich geprägt durch Familie und Milieu? Oder geht es anspruchsvoller auch um den Ausgleich von Nachteilen, die durch die soziale Herkunft bedingt sind?
Die Arbeitsgruppe um Wilfried Bos an der TU Dortmund beschränkt ihre Definition auf den bescheideneren Anspruch einer "faire(n) Chance", dass "Schüler auf Grund ihrer sozialen und natürlichen Merkmale keine zusätzlichen Nachteile erfahren". Übersetzt wird dieses Konzept in vier Dimensionen: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikationsvergabe. Über deren Übersetzung in konkrete Indikatoren kann man streiten – aber sie erfassen zweifellos wichtige Aspekte.
Die Ergebnisse eignen sich nicht für billigen Parteienstreit, denn kein Bundesland schneidet in allen vier Dimensionen schlecht ab. Aber umgekehrt findet auch jedes Bundesland Hinweise, wo es sich verbessern kann. So ist etwa das Ganztagsangebot in Bayern und Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Sachsen-Anhalt zu weniger als einem Viertel des Angebots in Ländern wie Berlin und Hamburg ausgebaut. Und während in Bayern und Berlin die Wiederholer-Quoten doppelt so hoch sind wie etwa in Baden-Württemberg oder Brandenburg, kann Bayern auf besonders hohe Ergebnisse in den Lesetests am Ende der Grundschulzeit sowie der Sekundarstufe I verweisen und Berlin auf relativ höhere Anteile von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus unteren sozialen Schichten.
Ein verwirrendes Bild, zumal auch diese Zahlen mehrdeutig sind: Steht eine niedrige Sitzenbleiber-Quote für die besonders gute Förderung schwächerer Schüler – oder bedeutet sie ein gedankenloses Durchwinken, weil die Landespolitik das Sitzenbleiben abschaffen will? Andererseits: Kann man über 50 Prozent Absolventen mit Hochschulreife in Baden-Württemberg, Hamburg, NRW und Saarland einfach mit dem Vorwurf abwerten, in diesen Ländern werde das Abitur im Vergleich zu Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt "verschenkt", nur weil dort weniger als 40 Prozent dasselbe Zertifikat bekommen?
Und weiter: In östlichen Bundesländern wie Brandenburg und Thüringen wird doppelt so vielen Kindern Förderbedarf zugestanden wie etwa in Hessen oder Niedersachsen. Liegt das daran, dass es in diesen Regionen faktisch mehr leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler gibt? Oder ist die höhere Quote Zeichen dafür, dass Lehrkräfte in der DDR-Fördertradition sensibler für Lernschwierigkeiten sind beziehungsweise die dortige Politik eher willens, Ressourcen für ihre Überwindung bereitzustellen? Könnte sie aber nicht ebenso auf eine höhere Neigung von Regelschulen verweisen, sich schwieriger Schüler zu entledigen? Denn in den meisten östlichen Bundesländern ist mit 7,4 Prozent auch die Quote der Kinder, die in gesonderten Schulen unterrichtet werden, im Vergleich zu den westlichen Ländern mit 4 bis 5 um rund 50 Prozent höher. Auch wenn dies lediglich ein Indikator für die "Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit" eines Schulsystems ist, sind das angesichts der Forderungen der UN-Behindertenkonvention nach einem inklusiven Bildungssystem bedrückende Zahlen.
Dass er solche wichtigen Fragen aufwirft, ist ein Verdienst des "Chancenspiegels". Zur Medaillenvergabe im bildungspolitischen Wettbewerb der Bundesländer darf er aber auf keinen Fall missbraucht werden.
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