Kolumnen: Boneheads
Goethe ist schuld. Johann Wolfgang von Goethe ganz allein trägt die Schuld daran, dass Biologen und Mediziner bis heute unter der Last einer grauenhaften Terminologie ächzen, wenn sie sich mit Nerven des Hirnes und des Rückenmarkes beschäftigen müssen. Das kommt davon, wenn man Literaten Anatomie machen lässt.
Fragen Sie mich nicht, was Goethe auf dem Judenfriedhof in Venedig wollte. Aber dort geht die Geschichte los. Und zwar in den ersten Tagen des Mai 1790. Als er da herumstromerte, stolperte er, wie er selber schreibt, über einen »verwitterten Schöppsenschädel«. Ja, wenn man jetzt wüsste, was ein »Schöpps« ist … ein Hammel. Schön, hier offenbart sich die Größe des Dichters: Er hätte ja auch einfach »Hammelschädel« schreiben können. Oder »Schafsschädel«. Außerdem ist mir ganz unklar, wie er erkannt haben will, ob es jetzt der Schädel eines weiblichen Schafes, eines Schafsbockes oder eines kastrierten Schafsbockes (eben eines Hammels) war. Es könnte sogar ein Ziegenschädel gewesen sein – die sehen sich alle ganz furchtbar ähnlich. Die Größe des Dichters? Ja, natürlich liegt sie darin, dass er, ungeachtet all dieser zoologischen Petitessen, umstandslos einen »Schöppsenschädel« daraus machte. Wegen der wunderschönen Alliteration des »schö« der ersten Silbe mit dem »schä« der dritten. »Schöppsenschädel«: Das hat Musik, das hat Metron, das ist Sprachkunst. »Hammelschädel« – nein, das ist nicht halb so elegant.
Nichts, was der alte Hippokrates nicht auch schon gewusst hätte. Nein. Aber die Eingebung, die der Herr Geheimrat an dieser Stelle hatte, die war neu. »Das ist es!«, muss er gedacht haben, »der Schädel besteht aus umgewandelten Wirbeln, der Kopf ist ein umgebautes Stück Rumpf!« Drei »Schädelwirbel« (später sechs) wollte er erkannt haben, und so nahm das Unheil seinen Lauf.
Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst einmal kam Goethe nicht dazu, seine Eingebung und seine Theorie zu publizieren. Denn er beschloss, wie man ja weiß, Politiker zu werden. Kultusminister, würde man heute wohl sagen, und zwar in Weimar. Die Überwachung der Universität Jena gehörte zu seinen Aufgaben. Dummerweise gab es dort einen Professor namens Lorenz Oken, der ein wenig später als Goethe die nämliche Idee hatte, sie aber schneller niederschrieb und veröffentlichte. Der Kultusminister Goethe geriet in einen ziemlich hässlichen »Prioritätsstreit« mit seinem Untergebenen, und als der auch noch anfing, allerlei demokratische Umtriebe zu entwickeln, feuerte Goethe ihn (3).
Seine Idee (Okens Idee?) trieb unterdessen wunderliche Blüten. Der Wirbel als Urform allen tierischen Lebens – ja, das war’s! Begeistert stürzte sich in Paris (damals die Wissenschaftshauptstadt der Welt) ein gewisser Etienne Geoffroy de St. Hilaire (4) auf die Idee und baute sie weiter aus. Ich nehme mal an, dass er seine Eingebung beim Hummeressen hatte (Paris war auch die kulinarische Welthauptstadt). Ein Hummer, das wissen Sie auch, hat außen herum als Skelett einen harten Panzer, der aus einzelnen »Ringen« besteht. »Exoskelett« (Außenskelett) sagen die Biologen dazu, im Gegensatz zum »Endoskelett« der Wirbeltiere und des Menschen. Und die Muskeln und Innereien des Hummers, ebenso die eines Insekts oder einer Spinne, liegen halt im Innern dieses Skeletts. »Ha!«, dachte Herr de St. Hilaire, »das ist ja alles dasselbe! Der Panzer besteht aus Wirbeln, und der einzige Unterschied ist der, dass der Hummer in seinen Wirbeln lebt, die Wirbeltiere aber drum herum!« (5)
Wunderschön, diese Einsicht taugt zum Bonmot und erklärt zugleich, wieso es so mühsam ist, ungepuhlte Krabben zu essen. Und Sie merken natürlich auch, was eigentlich hinter Goethes, Okens und St. Hilaires Theorien steckt: der Wunsch nach Einfachheit, Einheit, die Suche nach der Idee, der Urform, aus der sich alles andere ableiten lässt. Der Bauplan, mit anderen Worten.
Ist es auch. Nur nicht alles in jedem. Und in manchen sind Qualitäten, die es am Rumpf nicht gibt. Da sind zum Beispiel die Nerven der großen Sinnesorgane, Auge, Nase, Ohr. Zweifelsohne: Die bringen Information von der Körperoberfläche zum Gehirn. Aber irgendwie anders, spezieller, nicht so ein allgemeines Getaste und Gefühle wie am Rumpf, wo es ja solche großen Sinnesorgane gar nicht gibt. Ein neuer Begriff muss also her: »spezielle Somatosensorik«. Und weiter: Vorne, in Mund und Rachen (also in den »Viscera«), gibt es ein Sinnessystem, das dem Darm fehlt – den Geschmackssinn (6). Auch das ist wieder eine Besonderheit, also muss ein neuer Name erfunden werden: »spezielle Viscerosensorik«. Und überhaupt, dieser dämliche Darm im Kopf- und Halsbereich funktioniert ganz anders als der des Rumpfes. Zum Beispiel sind seine Muskeln, anders als die des Magens oder Dünndarmes, durchaus der Willkür unterworfen – Schlucken, Reden, Kauen, das sind Willkürakte. Ergo muss auch hier ein neuer Begriff geprägt werden: »spezielle Visceromotorik«. (7)
Sie sehen, es wird gerade ein klein wenig unübersichtlich. Und wenn man jetzt noch bedenkt, dass manche Hirnnerven (die einiger Augenmuskeln zum Beispiel) nur eine Qualität besitzen, die des Rückenmarkes jedoch stets viele, dann muss man verschiedene Hirnnerven zu »Pärchen« oder gar »Triplets« zusammensetzen, damit ihre kombinierten Qualitäten zusammen so etwas wie einen »vollständigen« Rückenmarksnerv ergeben.
Ein aberwitziges Puzzle, denn natürlich müssen jetzt auch noch die Muskelgruppen, die Knochen und die Blutgefäße des Kopfes so sortiert werden, dass man sagen kann: Der Kopf besteht aus so und so vielen »Segmenten«, also ursprünglich einheitlichen »Scheibchen«, jedes mit einem Nervenpaar, einem Wirbelknochen, Muskelpaketen und Blutgefäßen. Das, hätte man es denn beieinander, könnte man die »Rumpftheorie des Kopfes« nennen. Oder umgekehrt (auch das wurde versucht): die »Kopftheorie des Rumpfes«, denn wer sagt denn, dass der Kopf unbedingt eine Variation des Rumpfbauplanes sei? Es könnte ja auch gerade andersherum sein.
Eigentlich hätte mit dem ganzen Zauber schon 1858 Schluss sein müssen. Denn da hielt Thomas Huxley (8) einen berühmten Vortrag (»Croonian lecture« – »The Theory of the Vertebrate Skull«), in dem er klarmachte, dass die allermeisten Knochen des Kopfes nichts, aber auch gar nichts mit Wirbeln zu tun haben. Sie sind eher mit den Knochen zu vergleichen, die als Schuppenpanzer in der Haut vieler Fische liegen. Nur ganz hinten und unten, am Hinterhauptsbein, in der Gegend des großen Loches, in das Goethe schaute, da sind tatsächlich ein paar modifizierte Wirbel an den Schädel »angeklebt«. Oh, Entschuldigung, auch hier wird natürlich ein möglichst unverständlicher Terminus technicus verwendet: Die Wirbel wurden »assimiliert«.
Und freilich war danach nicht Schluss. Es ging und geht munter weiter. Der letzte Schrei kam aus der Genetik: Vor etwa 20 Jahren entdeckte man, dass bei Wirbeltieren und Insekten, bei Hummer und Mensch, eine Gruppe von sehr ähnlichen Genen (die berühmten Hox-Gene) vorkommen. Die werden früh im Embryo eingeschaltet und legen so eine Art von »Streifenmuster« quer über den sich entwickelnden Kopf – also doch Kopfsegmente? Hatte Geoffroy de St. Hilaire doch Recht? Sind wir nichts weiter als Hummer, die nicht in ihrem Skelett, sondern um es herum leben?
Ich weiß es nicht, und um ehrlich zu sein, weiß ich auch gar nicht so recht, warum ich Ihnen diese verdrehte Geschichte aus der Welt der vergleichenden Anatomie überhaupt erzählt habe. Irgendwie fehlt die »take home message«, der pathetische Schluss. Bis er mir einfällt, müssen Sie erstmal mit einer Danksagung vorliebnehmen: Danke, dass Sie mir durch diese wirre Erzählung bis hierher gefolgt sind. Es ist auch meine Geschichte, ich bin mit dieser Art von Forschung in die Neurowissenschaften geraten. Auch ich bin ein Liebhaber des »Kopfproblems«: Weil’s so wunderbar verzwickt ist, zugleich aber so herrlich nutzlos. Denn wüssten wir’s: Was täten wir? Den Hummer einen Bruder im Geiste und im Bauplan nennen und ihn fürderhin nicht mehr aus seinen Wirbeln herauslöffeln? Sicher nicht.
Ah – da ist sie, die »take home message«: Manche Wissenschaftler haben ein Kopfproblem. Das ist, denke ich, hinreichend doppeldeutig, um diese Glosse zu beschließen. Nicht ohne Ihnen jedoch noch den ausufernden Fußnotenapparat zu dieser Glosse an’s Herz zu legen, der unter anderem ein neu entdecktes Gedicht von Goethe enthält. Und nicht ohne mich bei Herrn Max Lauer zu bedanken, der mir mit den Fotos half.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten
(1) Der bekannteste Schuss in den naturwissenschaftlichen Ofen, den der Herr Geheimrat abfeuerte, ist die »Farbenlehre«, mit der er sich gründlich in die Nesseln setzte. »Farben sind Taten des Lichts. Taten und Leiden.« Wunderbare Worte, aber naturwissenschaftlich nicht haltbar.
(2) Nein. Das sagte er sicher nicht, er war klassisch gebildet. Eher: »Heureka!«.
Oder aber:
»Was der Schädel mir zeigt?
Die Antwort ist leicht:
Ich bin geneigt,
hier Wirbel zu sehn.
Vielleicht
es mit dreien reicht.
Vielleicht
aber auch zehn.
Das werden wir seh’n
Das werd’ ich erforschen!
Ich fang an: gleich morgen!«
(Doch, doch, doch, das reimt sich perfekt! Nicht vergessen: Goethe war »en Franggfordder Bub«. Sie müssen das Gedicht also nur so aufsagen, wie es zum Beispiel aus dem Munde Norbert Blüms käme. Auf Anfrage gebe ich gerne Dialektnachhilfe.)
(3) Ebenfalls zur Erinnerung: Goethe diente am Hofe eines absoluten Monarchen. Demokraten galten als Revoluzzer.
(4) Das »ein gewisser« ist ein wenig despektierlich. Der Mann war Zoologie-Professor. Hundertfünfzig Jahre lang hat man den Herrn Geoffroy de St. Hilaire aber tatsächlich für einen »idealistischen Spinner auf der Suche nach der Urform« gehalten. Noch mir wurde in meinem Biologiestudium (in den 1980er Jahren) beigebracht, tüchtig über ihn zu lachen. Hummer und Menschen vergleichen: so ein Quatsch! Wenn Sie diesen Artikel aber zu Ende lesen, werden Sie sehen, dass die moderne Genetik viel zu seiner Ehrenrettung beigetragen hat.
Videlicet:
E. Geoffroy de St. Hilaire (1820): Sur une colonne vertebrale es ses cotes dans les insectes apiropodes. Ann. Gen. Sci.Phys., 5: 96–132
A. Panchen (2001): Etienne Geoffroy de St. Hilaire: father of »evo-devo«? Evolution and Development 3: 41–61.
(5) Er dachte das vermutlich auf Französisch. Das kann ich aber nicht.
(6) Um es mit Herrn Wowereit zu sagen: »Und das ist auch gut so.« Oder hätten Sie gerne einen Sinn für Geschmack im Enddarm?
(7) Hier schlägt die Anatomie wirklich terminologische Purzelbäume. Achten Sie zum Beispiel mal darauf, wie subtil hier auch noch zwischen »sensorisch« und »sensibel« unterschieden wird. Beides heißt »empfindsam«, aber das eine Mal sind es eben die Empfindungen, die von den »klassischen« Sinnen stammen (»sensorisch«), das andere Mal die diffuseren Empfindungen des Schmerzes und der Temperatur (»sensibel«). Dieser ganze terminologische Wahnsinn ist in gewisser Weise typisch für die einander widerstreitenden zwei Herzen, die in der Brust des (vergleichenden) Anatomen schlagen. Auf der einen Seite ist er ja Anatom. Er will also alles zergliedern, unterscheiden und mit haargenau passenden Begriffen belegen. Nur nichts durcheinanderbringen! Auf der anderen Seite will er aber ja auch vergleichen, also bei aller Unterschiedlichkeit die Ähnlichkeiten identifizieren, Kategorien bilden. Er will also auch »Morphologe« sein (wieder ein Begriff von Goethe übrigens), er will die »gemeinsame Grundform« erkennen. Und – das liegt im Wesen der Sache – die beiden Ansätze konterkarieren sich gegenseitig. Je genauer man einen Kopfnerv untersucht, desto weniger Ähnlichkeit weist er mit einem Rückenmarksnerv auf. Die Anatomie hat, mit anderen Worten, die Tendenz, lauter belanglose, winzige Singularitäten zu produzieren, die Morphologie hingegen tendiert zu inhaltslosen, rein formalen »All-Aussagen«, die keine biologische Relevanz haben. Die Kunst scheint zu sein, sozusagen auf Messers Schneide zwischen der Szylla der Anatomie und der Charybdis der Morphologie zu balancieren. Klappt nur allzu oft nicht, und das »Kopfproblem« ist ein schönes Beispiel dafür.
(8) Der Großvater von Aldous Huxley (»Brave new world«).
Fragen Sie mich nicht, was Goethe auf dem Judenfriedhof in Venedig wollte. Aber dort geht die Geschichte los. Und zwar in den ersten Tagen des Mai 1790. Als er da herumstromerte, stolperte er, wie er selber schreibt, über einen »verwitterten Schöppsenschädel«. Ja, wenn man jetzt wüsste, was ein »Schöpps« ist … ein Hammel. Schön, hier offenbart sich die Größe des Dichters: Er hätte ja auch einfach »Hammelschädel« schreiben können. Oder »Schafsschädel«. Außerdem ist mir ganz unklar, wie er erkannt haben will, ob es jetzt der Schädel eines weiblichen Schafes, eines Schafsbockes oder eines kastrierten Schafsbockes (eben eines Hammels) war. Es könnte sogar ein Ziegenschädel gewesen sein – die sehen sich alle ganz furchtbar ähnlich. Die Größe des Dichters? Ja, natürlich liegt sie darin, dass er, ungeachtet all dieser zoologischen Petitessen, umstandslos einen »Schöppsenschädel« daraus machte. Wegen der wunderschönen Alliteration des »schö« der ersten Silbe mit dem »schä« der dritten. »Schöppsenschädel«: Das hat Musik, das hat Metron, das ist Sprachkunst. »Hammelschädel« – nein, das ist nicht halb so elegant.
Gut. Ein Schöppsenschädel also, ein weiteres sprachgeniales Moment im Leben des an Geistesblitzen nicht armen Genies Goethe. Jetzt aber hatte er auch noch eine naturwissenschaftliche Eingebung, und die gingen dem Herrn Goethe leider oft daneben (Fußnote 1). Er hob also den halb zerfallenen Schöppsenschädel auf, äugte von vorne in die Nasenhöhle und guckte von hinten in das große Loch, durch das einstens, zu Lebzeiten des Hammels, das Rückenmark herauskam. Womöglich lag der Rest des Skeletts ja nebendran, vielleicht lagen da auch noch die Wirbel. Das könnte gut sein, denn Goethe schaute herum und sagte plötzlich: »Bingo!« (2) Denn der Schädel ist innen hohl, und in dem großen Hohlraum liegt das Gehirn. Die Wirbel aber sind innen auch hohl, und in dem Kanal, den die Hohlräume bilden, liegt das Rückenmark.
Nichts, was der alte Hippokrates nicht auch schon gewusst hätte. Nein. Aber die Eingebung, die der Herr Geheimrat an dieser Stelle hatte, die war neu. »Das ist es!«, muss er gedacht haben, »der Schädel besteht aus umgewandelten Wirbeln, der Kopf ist ein umgebautes Stück Rumpf!« Drei »Schädelwirbel« (später sechs) wollte er erkannt haben, und so nahm das Unheil seinen Lauf.
Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst einmal kam Goethe nicht dazu, seine Eingebung und seine Theorie zu publizieren. Denn er beschloss, wie man ja weiß, Politiker zu werden. Kultusminister, würde man heute wohl sagen, und zwar in Weimar. Die Überwachung der Universität Jena gehörte zu seinen Aufgaben. Dummerweise gab es dort einen Professor namens Lorenz Oken, der ein wenig später als Goethe die nämliche Idee hatte, sie aber schneller niederschrieb und veröffentlichte. Der Kultusminister Goethe geriet in einen ziemlich hässlichen »Prioritätsstreit« mit seinem Untergebenen, und als der auch noch anfing, allerlei demokratische Umtriebe zu entwickeln, feuerte Goethe ihn (3).
Seine Idee (Okens Idee?) trieb unterdessen wunderliche Blüten. Der Wirbel als Urform allen tierischen Lebens – ja, das war’s! Begeistert stürzte sich in Paris (damals die Wissenschaftshauptstadt der Welt) ein gewisser Etienne Geoffroy de St. Hilaire (4) auf die Idee und baute sie weiter aus. Ich nehme mal an, dass er seine Eingebung beim Hummeressen hatte (Paris war auch die kulinarische Welthauptstadt). Ein Hummer, das wissen Sie auch, hat außen herum als Skelett einen harten Panzer, der aus einzelnen »Ringen« besteht. »Exoskelett« (Außenskelett) sagen die Biologen dazu, im Gegensatz zum »Endoskelett« der Wirbeltiere und des Menschen. Und die Muskeln und Innereien des Hummers, ebenso die eines Insekts oder einer Spinne, liegen halt im Innern dieses Skeletts. »Ha!«, dachte Herr de St. Hilaire, »das ist ja alles dasselbe! Der Panzer besteht aus Wirbeln, und der einzige Unterschied ist der, dass der Hummer in seinen Wirbeln lebt, die Wirbeltiere aber drum herum!« (5)
Wunderschön, diese Einsicht taugt zum Bonmot und erklärt zugleich, wieso es so mühsam ist, ungepuhlte Krabben zu essen. Und Sie merken natürlich auch, was eigentlich hinter Goethes, Okens und St. Hilaires Theorien steckt: der Wunsch nach Einfachheit, Einheit, die Suche nach der Idee, der Urform, aus der sich alles andere ableiten lässt. Der Bauplan, mit anderen Worten.
Und jetzt geht’s rund, das »Kopfproblem« lässt die Wissenschaftler nicht mehr los. Also: Wenn der Kopf der Wirbeltiere ein umgebautes Stück Rumpf ist, dann müssen die Kopfnerven (Hirnnerven) im Prinzip genauso aufgebaut sein, wie die Nerven des Rückenmarkes. Also schau’n wir mal: Was macht denn so ein Rückenmarksnerv? Er innerviert die Muskeln der Rumpfwand und der Extremitäten (»Somatomotorik«, »Soma« = Leib, Körperwand). Er innerviert die (unwillkürlichen) Muskeln des Darmes und der Blutgefäße (»Visceromotorik«, »Viscera« = Eingeweide). Er bringt sensible Informationen von den Eingeweiden, also etwa das Bauchweh und das Magengrollen, zum zentralen Nervensystem (»Viscerosensibilität«). Aus der Leibeswand und den Extremitäten trägt er die Informationen des Tast-, Temperatur-, Muskel- und Schmerzsinnes heran (»Somatosensibilität«). So. Das nennt man nun die »Qualitäten« der Rückenmarksnerven. Und all das muss jetzt auch in den Hirnnerven (von denen es zwölf Paare gibt) drin sein.
Ist es auch. Nur nicht alles in jedem. Und in manchen sind Qualitäten, die es am Rumpf nicht gibt. Da sind zum Beispiel die Nerven der großen Sinnesorgane, Auge, Nase, Ohr. Zweifelsohne: Die bringen Information von der Körperoberfläche zum Gehirn. Aber irgendwie anders, spezieller, nicht so ein allgemeines Getaste und Gefühle wie am Rumpf, wo es ja solche großen Sinnesorgane gar nicht gibt. Ein neuer Begriff muss also her: »spezielle Somatosensorik«. Und weiter: Vorne, in Mund und Rachen (also in den »Viscera«), gibt es ein Sinnessystem, das dem Darm fehlt – den Geschmackssinn (6). Auch das ist wieder eine Besonderheit, also muss ein neuer Name erfunden werden: »spezielle Viscerosensorik«. Und überhaupt, dieser dämliche Darm im Kopf- und Halsbereich funktioniert ganz anders als der des Rumpfes. Zum Beispiel sind seine Muskeln, anders als die des Magens oder Dünndarmes, durchaus der Willkür unterworfen – Schlucken, Reden, Kauen, das sind Willkürakte. Ergo muss auch hier ein neuer Begriff geprägt werden: »spezielle Visceromotorik«. (7)
Sie sehen, es wird gerade ein klein wenig unübersichtlich. Und wenn man jetzt noch bedenkt, dass manche Hirnnerven (die einiger Augenmuskeln zum Beispiel) nur eine Qualität besitzen, die des Rückenmarkes jedoch stets viele, dann muss man verschiedene Hirnnerven zu »Pärchen« oder gar »Triplets« zusammensetzen, damit ihre kombinierten Qualitäten zusammen so etwas wie einen »vollständigen« Rückenmarksnerv ergeben.
Ein aberwitziges Puzzle, denn natürlich müssen jetzt auch noch die Muskelgruppen, die Knochen und die Blutgefäße des Kopfes so sortiert werden, dass man sagen kann: Der Kopf besteht aus so und so vielen »Segmenten«, also ursprünglich einheitlichen »Scheibchen«, jedes mit einem Nervenpaar, einem Wirbelknochen, Muskelpaketen und Blutgefäßen. Das, hätte man es denn beieinander, könnte man die »Rumpftheorie des Kopfes« nennen. Oder umgekehrt (auch das wurde versucht): die »Kopftheorie des Rumpfes«, denn wer sagt denn, dass der Kopf unbedingt eine Variation des Rumpfbauplanes sei? Es könnte ja auch gerade andersherum sein.
Eigentlich hätte mit dem ganzen Zauber schon 1858 Schluss sein müssen. Denn da hielt Thomas Huxley (8) einen berühmten Vortrag (»Croonian lecture« – »The Theory of the Vertebrate Skull«), in dem er klarmachte, dass die allermeisten Knochen des Kopfes nichts, aber auch gar nichts mit Wirbeln zu tun haben. Sie sind eher mit den Knochen zu vergleichen, die als Schuppenpanzer in der Haut vieler Fische liegen. Nur ganz hinten und unten, am Hinterhauptsbein, in der Gegend des großen Loches, in das Goethe schaute, da sind tatsächlich ein paar modifizierte Wirbel an den Schädel »angeklebt«. Oh, Entschuldigung, auch hier wird natürlich ein möglichst unverständlicher Terminus technicus verwendet: Die Wirbel wurden »assimiliert«.
Und freilich war danach nicht Schluss. Es ging und geht munter weiter. Der letzte Schrei kam aus der Genetik: Vor etwa 20 Jahren entdeckte man, dass bei Wirbeltieren und Insekten, bei Hummer und Mensch, eine Gruppe von sehr ähnlichen Genen (die berühmten Hox-Gene) vorkommen. Die werden früh im Embryo eingeschaltet und legen so eine Art von »Streifenmuster« quer über den sich entwickelnden Kopf – also doch Kopfsegmente? Hatte Geoffroy de St. Hilaire doch Recht? Sind wir nichts weiter als Hummer, die nicht in ihrem Skelett, sondern um es herum leben?
Ich weiß es nicht, und um ehrlich zu sein, weiß ich auch gar nicht so recht, warum ich Ihnen diese verdrehte Geschichte aus der Welt der vergleichenden Anatomie überhaupt erzählt habe. Irgendwie fehlt die »take home message«, der pathetische Schluss. Bis er mir einfällt, müssen Sie erstmal mit einer Danksagung vorliebnehmen: Danke, dass Sie mir durch diese wirre Erzählung bis hierher gefolgt sind. Es ist auch meine Geschichte, ich bin mit dieser Art von Forschung in die Neurowissenschaften geraten. Auch ich bin ein Liebhaber des »Kopfproblems«: Weil’s so wunderbar verzwickt ist, zugleich aber so herrlich nutzlos. Denn wüssten wir’s: Was täten wir? Den Hummer einen Bruder im Geiste und im Bauplan nennen und ihn fürderhin nicht mehr aus seinen Wirbeln herauslöffeln? Sicher nicht.
Ah – da ist sie, die »take home message«: Manche Wissenschaftler haben ein Kopfproblem. Das ist, denke ich, hinreichend doppeldeutig, um diese Glosse zu beschließen. Nicht ohne Ihnen jedoch noch den ausufernden Fußnotenapparat zu dieser Glosse an’s Herz zu legen, der unter anderem ein neu entdecktes Gedicht von Goethe enthält. Und nicht ohne mich bei Herrn Max Lauer zu bedanken, der mir mit den Fotos half.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten
(1) Der bekannteste Schuss in den naturwissenschaftlichen Ofen, den der Herr Geheimrat abfeuerte, ist die »Farbenlehre«, mit der er sich gründlich in die Nesseln setzte. »Farben sind Taten des Lichts. Taten und Leiden.« Wunderbare Worte, aber naturwissenschaftlich nicht haltbar.
(2) Nein. Das sagte er sicher nicht, er war klassisch gebildet. Eher: »Heureka!«.
Oder aber:
»Was der Schädel mir zeigt?
Die Antwort ist leicht:
Ich bin geneigt,
hier Wirbel zu sehn.
Vielleicht
es mit dreien reicht.
Vielleicht
aber auch zehn.
Das werden wir seh’n
Das werd’ ich erforschen!
Ich fang an: gleich morgen!«
(Doch, doch, doch, das reimt sich perfekt! Nicht vergessen: Goethe war »en Franggfordder Bub«. Sie müssen das Gedicht also nur so aufsagen, wie es zum Beispiel aus dem Munde Norbert Blüms käme. Auf Anfrage gebe ich gerne Dialektnachhilfe.)
(3) Ebenfalls zur Erinnerung: Goethe diente am Hofe eines absoluten Monarchen. Demokraten galten als Revoluzzer.
(4) Das »ein gewisser« ist ein wenig despektierlich. Der Mann war Zoologie-Professor. Hundertfünfzig Jahre lang hat man den Herrn Geoffroy de St. Hilaire aber tatsächlich für einen »idealistischen Spinner auf der Suche nach der Urform« gehalten. Noch mir wurde in meinem Biologiestudium (in den 1980er Jahren) beigebracht, tüchtig über ihn zu lachen. Hummer und Menschen vergleichen: so ein Quatsch! Wenn Sie diesen Artikel aber zu Ende lesen, werden Sie sehen, dass die moderne Genetik viel zu seiner Ehrenrettung beigetragen hat.
Videlicet:
E. Geoffroy de St. Hilaire (1820): Sur une colonne vertebrale es ses cotes dans les insectes apiropodes. Ann. Gen. Sci.Phys., 5: 96–132
A. Panchen (2001): Etienne Geoffroy de St. Hilaire: father of »evo-devo«? Evolution and Development 3: 41–61.
(5) Er dachte das vermutlich auf Französisch. Das kann ich aber nicht.
(6) Um es mit Herrn Wowereit zu sagen: »Und das ist auch gut so.« Oder hätten Sie gerne einen Sinn für Geschmack im Enddarm?
(7) Hier schlägt die Anatomie wirklich terminologische Purzelbäume. Achten Sie zum Beispiel mal darauf, wie subtil hier auch noch zwischen »sensorisch« und »sensibel« unterschieden wird. Beides heißt »empfindsam«, aber das eine Mal sind es eben die Empfindungen, die von den »klassischen« Sinnen stammen (»sensorisch«), das andere Mal die diffuseren Empfindungen des Schmerzes und der Temperatur (»sensibel«). Dieser ganze terminologische Wahnsinn ist in gewisser Weise typisch für die einander widerstreitenden zwei Herzen, die in der Brust des (vergleichenden) Anatomen schlagen. Auf der einen Seite ist er ja Anatom. Er will also alles zergliedern, unterscheiden und mit haargenau passenden Begriffen belegen. Nur nichts durcheinanderbringen! Auf der anderen Seite will er aber ja auch vergleichen, also bei aller Unterschiedlichkeit die Ähnlichkeiten identifizieren, Kategorien bilden. Er will also auch »Morphologe« sein (wieder ein Begriff von Goethe übrigens), er will die »gemeinsame Grundform« erkennen. Und – das liegt im Wesen der Sache – die beiden Ansätze konterkarieren sich gegenseitig. Je genauer man einen Kopfnerv untersucht, desto weniger Ähnlichkeit weist er mit einem Rückenmarksnerv auf. Die Anatomie hat, mit anderen Worten, die Tendenz, lauter belanglose, winzige Singularitäten zu produzieren, die Morphologie hingegen tendiert zu inhaltslosen, rein formalen »All-Aussagen«, die keine biologische Relevanz haben. Die Kunst scheint zu sein, sozusagen auf Messers Schneide zwischen der Szylla der Anatomie und der Charybdis der Morphologie zu balancieren. Klappt nur allzu oft nicht, und das »Kopfproblem« ist ein schönes Beispiel dafür.
(8) Der Großvater von Aldous Huxley (»Brave new world«).
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