Die fabelhafte Welt der Mathematik: Eine neue Art der Geometrie dank dem Dom zu Florenz
Es gibt eine Sache in der Mathematik, die mich regelmäßig verwirrt. Immer wieder veröffentlichen Forschende Arbeiten mit neuen Erkenntnissen, die allerdings darauf aufbauen, dass die riemannsche Vermutung richtig ist. Sprich, die Fachleute nutzen die Vermutung bei dem Beweis eines anderen Ergebnisses. Das Problem: Niemand weiß, ob die riemannsche Vermutung wirklich korrekt ist. Seit mehr als 160 Jahren versuchen Mathematiker sie zu beweisen – oder zu widerlegen. Erfolglos.
In einer Vorbesprechung zum Podcast »Geschichten aus der Mathematik« habe ich mit meinem Kollegen Demian Nahuel Goos über dieses Phänomen geredet. »Das ist doch total verrückt«, meinte ich damals. »Das ist ja, wie wenn man anfangen würde, ein Haus zu bauen, ohne zu wissen, ob es überhaupt Balken gibt, die stark genug sind, um es zu stützen.« Demian lachte damals und erzählte mir die Geschichte vom Bau des Doms in Florenz, Santa Maria del Fiore. Dort war genau das der Fall.
Der Dom sollte ein besonders imposantes Bauwerk werden und Florenz damit andere Städte wie Venedig oder Pisa übertrumpfen. Hauptattraktion sollte eine riesige Kuppel sein. Der Dom wurde im 15. Jahrhundert quasi fertig gestellt. »Quasi«, weil im Kirchenbau noch ein riesiges Loch klaffte. Von der Kuppel fehlte jede Spur. Denn: Niemand wusste, wie man so eine gigantische Dachkonstruktion bewerkstelligen sollte. So wie die heutigen Mathematiker auf die riemannsche Vermutung setzen, hatten auch die Bauherren im Mittelalter in der Hoffnung begonnen, dass im Lauf der Zeit eine clevere Lösung gefunden werden würde.
Und tatsächlich gab es eine Person, die sich der Herausforderung stellte und mit Kreativität und Einfallsreichtum gesegnet war: Filippo Brunelleschi (1377–1446) – der noch nicht einmal gelernter Architekt war, sondern Goldschmied. Der begnadete Handwerker entwarf nicht nur eine Kuppel, die noch größer war als die ursprünglich geplante, sondern legte auch den Grundstein für eine neue Form der Geometrie, indem er seinen Zeichnungen Tiefe verlieh.
Bilder neu gedacht
Seit Jahrtausenden beschäftigt sich die Menschheit mit Geometrie. Eines der bedeutendsten Werke in diesem Gebiet, »Elemente«, stammt von dem antiken griechischen Gelehrten Euklid, der im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte. Darin formulierte er das Grundgerüst der Geometrie. Anhand möglichst weniger, dafür eingängiger Grundannahmen wollte er Schritt für Schritt alle Prinzipien des mathematischen Bereichs ableiten. Und tatsächlich sind es immer noch seine fünf Regeln, die wir wahrscheinlich im Kopf haben, wenn wir das Wort Geometrie hören. Denn genau diese Regeln werden im Schulunterricht gelehrt.
- Postulat: Durch zwei Punkte in der Ebene lässt sich exakt eine Linie ziehen.
- Postulat: Eine Linie zwischen zwei Punkten lässt sich beliebig verlängern.
- Postulat: Es ist stets möglich, aus einem Punkt und einem vorgegebenen Radius einen Kreis zu zeichnen.
- Postulat: Alle rechten Winkel stimmen überein.
- Postulat: Zu jeder Geraden gibt es eine einzige Parallele mit festem Abstand.
All das wusste Brunelleschi wahrscheinlich, so wie seine Zeitgenossen. Aber diese Art der Geometrie fängt nicht ein, wie wir die Welt sehen. Objekte scheinen mit zunehmender Entfernung zu uns zu schrumpfen. Das zeigt sich auch an Bahngleisen, die einen festen Abstand zueinander haben. Dieser wirkt mit wachsender Distanz immer kleiner, und es scheint so, als würden sich die Gleise am Horizont treffen.
Genau diese Effekte wollte Brunelleschi in seinen Zeichnungen einfangen, um sie realistischer erscheinen zu lassen. Und zwar nicht so wie einige seiner Zeitgenossen in ihren Gemälden irgendwie nach Gefühl (weshalb manche Bilder aus der Zeit völlig falsche Größenverhältnisse aufweisen), sondern mit der nötigen mathematischen Stringenz. Die Mathematik hatte dem Architekten schon den Bau der beeindruckenden Kuppel in Florenz ermöglicht. Nun sollte das Fach ihm dabei helfen, die dreidimensionale Welt möglichst exakt in einem zweidimensionalen Bild darzustellen.
Brunelleschi ging sogar so weit, dass er eines seiner Bilder vor einer Szene platzierte, die er gezeichnet hatte, es herumdrehte und ein winziges Loch hineinschnitt. Dann bat er Menschen, von der Rückseite des Bilds durch das Loch auf die Szene zu blicken. Anschließend nahm er einen Spiegel und führte ihn vor das Bild, damit er seine Zeichnung reflektierte. Die Person, die immer noch durch das Loch sah, konnte dadurch erkennen, wie realistisch Brunelleschis Darstellung war.
Damit begründete Brunelleschi die darstellende Geometrie, die einige von Ihnen vielleicht aus dem Kunstunterricht kennen. Dort wählt man zum Beispiel einen oder mehrere Fluchtpunkte, in denen alle Geraden, die in der dreidimensionalen Welt parallel sind, zusammenlaufen. Damit verleiht man den dargestellten Objekten die korrekten Proportionen und Öffnungswinkel: So als hätte das Bild wirklich Tiefe. Richtig angewendet, lassen sich aus einer perspektivischen Zeichnung die tatsächlichen Größen von Objekten ableiten, sofern man einen Maßstab besitzt.
Ein mathematisches Grundgerüst
Die Kunstszene zeigte sich schnell beeindruckt von den neuen Techniken. Infolgedessen übernahmen einige Künstler die neuen Methoden und verfeinerten sie. Für die Mathematik war diese Entwicklung anfangs uninteressant – schließlich ist in unserer dreidimensionalen Welt Euklids Geometrie realisiert. Die perspektivischen Ansätze von Brunelleschi waren nur ein Hilfsmittel, um das Dreidimensionale realistisch in einer Ebene einzufangen.
Nicht nur Brunelleschis Kollegen erfreuten sich an den neuen Methoden, sondern auch er selbst. Er berücksichtigte die mathematischen Erkenntnisse über seine Zeichnungen hinaus in seiner Architektur. Er hat seine Bauten so konzipiert, dass sie perspektivisch harmonisch sind, etwa durch ganzzahlige Proportionsbeziehungen. Das sieht man besonders gut in der Basilica di San Lorenzo, einer weiteren Kirche in Florenz, die als »Kirche der Medici« bekannt ist.
Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert erkannten Mathematiker, dass das perspektivische Zeichnen festen Regeln folgt, die sich durch die Sprache der Mathematik einfangen lassen. Sie fingen deshalb an, ein neues Regelwerk für diese Art der Geometrie aufzustellen – denn offensichtlich gelten dort nicht mehr alle altbekannten Postulate von Euklid. Zum Beispiel stellen die Fluchtpunkte so etwas wie einen unendlich fernen Punkt dar: der, in dem selbst parallele Geraden sich treffen. Für eine solche Situation stringente mathematische Regeln aufzustellen, erwies sich als extrem komplexe Aufgabe. Deshalb wurde erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die so genannte projektive Geometrie begründet.
Um eine realistische Zeichnung anzufertigen, muss man nicht unbedingt Experte in der projektiven Geometrie sein. Da genügt es durchaus, die Regeln der Perspektive zu kennen, die Brunelleschi aufgestellt hat. Doch Kunst entwickelt sich ja weiter – inzwischen kommen in dem Bereich immer öfter Computer zum Einsatz. Und damit sie eine Szene wahrheitsgetreu darstellen, brauchen sie feste mathematische Anweisungen. In diesem Fall bieten sich die Methoden der projektiven Geometrie an. Die kommt ebenfalls bei Computerspielen zum Einsatz. Auch diese erzeugen zweidimensionale Bilder auf einem Bildschirm, die einer dreidimensionalen Welt ähneln sollen – so wie bei Brunelleschis Zeichnungen.
Eine große Herausforderung im Bereich der Informatik ist es aktuell, KI-Programmen ein solches geometrisches Verständnis beizubringen, damit sie ein räumliches Verständnis entwickeln. So sollen künftige Algorithmen aus zweidimensionalen Aufnahmen ableiten können, was sich in der dreidimensionalen Welt abgespielt hat. Mal schauen, wann sie Brunelleschis Methoden verinnerlicht haben.
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