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Grams' Sprechstunde: Hin und her – oder Vernunft und Wissenschaft?

Ja, es nervt, aber: Impfempfehlungen können sich auch mal ändern. Und das ist gut so, wenn Wissenschaft und ernsthaft betriebene Impfstoffüberwachung gute Gründe liefern, schreibt unsere Kolumnistin Natalie Grams.
Aufnahme einer Kühlbox mit dem Impfstoff von oben.

Es fällt langsam schwer, am Ball zu bleiben, welches das gerade letzte herzhafte pandemische Kommunikationsdesaster war. Vielleicht jenes um einen gewissen Impfstoff, der nicht mehr den besten Ruf genießt? Ein Vakzin, das in der allgemeinen Wahrnehmung mal hin und her, mal auf und ab, jedenfalls aber sehr schwankend beurteilt wird? Und das, obwohl es während all der Zeit ein gut getesteter und wirksamer Kandidat blieb. »He who must not be named.« Außerdem hat sich der Name eh gerade geändert.

Es geht aber auch gar nicht um den Impfstoff, sondern um das »Hin und Her«. Alles begann damit, dass die STIKO beim Robert Koch-Institut den Impfstoff empfahl, dazu aber die Einschränkung mitgab, er solle nur an Menschen im Alter von unter 65 Jahren verimpft werden. Dies hatte die Zulassungsentscheidung der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA nicht vorgesehen. Warum also diese STIKO-Einschränkung? Sehr einfach: aus Vorsicht, weil der Hersteller keine ausreichenden Studiendaten der Phase III für die Altersgruppe 65+ vorlegen konnte. Die STIKO wollte keine Empfehlung ohne Faktenbasis abgeben. Aus demselben Grund ist bislang auch kein Covid-19-Impfstoff für Kinder und Jugendliche zugelassen. (Bald hoffentlich schon – auf der Basis solider Daten.)

Was kann die moderne Medizin leisten? Nutzt die Homöopathie? Was macht einen guten Arzt aus, und welche Rolle spielt der Patient? Die Ärztin und Autorin des Buchs »Was wirklich wirkt« Natalie Grams diskutiert in ihrer Kolumne »Grams' Sprechstunde« Entwicklungen, Probleme und eklatante Missstände ihrer Zunft. Alle Teile lesen Sie hier.

Ein Impfstoff kann ja durchaus altersgruppenspezifische Probleme aufwerfen. Das zeigte dann auch die weitere Entwicklung: Mediziner bemerkten, dass spezielle Sinusvenenthrombosen häufiger auftraten, eine bislang allgemein wohl ziemlich unbekannte Diagnose. Das veranlasste das Paul-Ehrlich-Institut, dem Gesundheitsminister zu empfehlen, die Verwendung des Impfstoffs erst einmal auszusetzen, was Jens Spahn dann auch tat. Wohlgemerkt: Es ging hier um die Sicherheit, nicht um die Wirksamkeit des Impfstoffs. Leider unterließ man bei diesem Schritt aber klarzumachen, dass es sich um einen ganz normalen Vorgang einer Phase-IV-Beobachtung handelt. Diese Phase IV, die »Surveillance«, ist eben dazu da, seltene Nebenwirkungen ans Licht zu bringen. Weil sie selten sind, findet man sie nur, wenn viele Menschen geimpft werden – ein trauriger Fall von Statistik.

Schön wäre es auch gewesen, hätte man klargemacht, dass das PEI das Aussetzen nicht empfohlen hat, weil das Impfrisiko gestiegen ist, es blieb ja nach wie vor statistisch gering. Die spezielle Häufung der Sinusvenenthrombosen ließ aber vermuten, dass der Impfstoff eine Ursache der Symptome sein könnte, was wichtig abzuklären ist. Das mag kompliziert zu erklären sein, doch möglich wäre es. Die Aufklärung unterblieb allerdings.

Es folgte eine Stellungnahme der EMA, die nach wie vor den Impfstoff als wirksam und sicher ansah. Es folgte die Wiederaufnahme der Verwendung des Impfstoffs. Und dann folgte die Registrierung weiterer Fälle von speziellen Sinusvenenthrombosen, übrigens bei Frauen wie auch bei Männern. Und nun die neue Empfehlung der STIKO, den Impfstoff nur noch bei Menschen über 60 Jahren einzusetzen.

Uff. Was für ein Hin und Her. Kann man noch Vertrauen haben – in den Impfstoff, in die Entscheidungen der zuständigen Stellen, in die Kommunikation?

Warum eigentlich nicht? Gut, es gab unübersehbare Schräglagen in gewissen Phasen der Kommunikation. Aber mit einem aufgeklärten Blick sind alle Vorgänge nicht nur normal, sondern ein Zeichen für verantwortliches Handeln auf wissenschaftlicher Basis. So gab es zum Beispiel gar kein Hin und Her bei der Empfehlung für die Altersgruppen: Die erste Empfehlung der STIKO, nur an unter 65-Jährige zu verimpfen, war eine Entscheidung auf Grund fehlender Wirksamkeitsdaten aus den Studien, die vor der Zulassung durchgeführt wurden. Die aktuelle Entscheidung, nur noch an über 60-Jährige zu verimpfen, fiel auf der Basis von Risiko- und Sicherheitsdaten, die im Rahmen der Nachbeobachtung aufgetreten sind. Dass man diese registriert, ist gewollt – es handelt sich eben um die Phase IV der Zulassung.

Das vermeintliche Hin und Her sind schlicht zwei verschiedene Dinge, die konsequent auf rationaler Grundlage entschieden wurden und sich auch keineswegs irgendwie widersprechen. Die Wahrnehmung kann natürlich anders sein: Wir erleben hier einen Prozess im Zeitraffertempo mit, der sich sonst – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit – über Jahre zieht. Wir nehmen Sinusvenenthrombosen nur deshalb so deutlich und gehäuft wahr, weil sie auf Grund der enormen Zahl von Impfungen in kurzer Zeit sichtbar werden – und sich gerade auch plötzlich alle dafür interessieren. Die Thrombosen sind keine »Langzeitwirkungen«, sie traten 4 bis 16 Tage nach der Impfung auf. Und sie sind seltene Nebenwirkungen, die selbst bei den nie da gewesenen Größenordnungen der weltweiten Covid-19-Impfkampagnen erst in der Nachbeobachtung auffallen können.

Also: Sachlich-inhaltlich ist alles richtig gelaufen, kein Grund für Misstrauen, sondern für Vertrauen. Please cool down. Denn an diesem Punkt gibt es nun hilfreiche und leider auch weniger nützliche Beiträge. Ein Höhepunkt war gewissermaßen erreicht, als ein nicht unbekannter Politiker auf Twitter irgendwelchen nicht näher bezeichneten Strippenziehern unterstellt hat, sie würden die über 60-Jährigen als »Resterampe« für einen Impfstoff benutzen, den sie sonst nicht losbekommen. Dieser Einwurf ist sprachlich ekelhaft (eine Menschengruppe als »Resterampe«? Wer redet so?). Er ist inhaltlich falsch. Und er richtet großen Schaden an, wenn damit ein wirksamer, sicherer Impfstoff zu Unrecht weiter diskreditiert wird.

Eins sollte klar sein: Es liegt mir fern, Kommunikationsdesaster zu verteidigen, egal von wem. Und ich mache hier keine Impfstoffwerbung. Wofür ich werben würde, wäre differenziertes Denken, genaueres Hinschauen und für Vertrauen in wissenschaftsbasierte Entscheidungen der dazu berufenen Gremien.

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