Warkus' Welt: Das Doppelbrötchen-Dilemma
Für viele deutsche Regionen ist es ungefähr so typisch wie das Baguette für Frankreich: das Doppelbrötchen, auch unter Namen wie »Paarweck« oder »Doppelsemmel« bekannt. Das praktische teilbare Kleingebäck in Form der Ziffer Acht gehört wahrscheinlich zu den Dingen, bei denen man am wenigsten vermuten würde, dass es mit ihnen eine philosophische Bewandtnis hat.
Doch Philosophie setzt häufig dort ein, wo es Unklarheit in der Verwendung von Wörtern gibt, und beim Doppelbrötchen gibt es diese in der Tat: Wenn mir jemand am Frühstückstisch sagt, er habe noch »ein halbes Doppelbrötchen« übrig – meint er damit die vollständige Hälfte einer »Doppeleinheit« oder bloß die Hälfte der Hälfte (also ein Ober- oder Unterteil)? Ist mit »ein Doppelbrötchen« das komplette Backprodukt gemeint oder nur eine seiner aneinanderklebenden Hälften?
Beide Redeweisen lassen sich rechtfertigen: Die Hälfte eines kompletten Doppelbrötchens hat alle Eigenschaften eines »einfachen« Brötchens (flacher Boden, knuspriger, gewölbter Deckel, …). Sie ist ein Brötchen. Das Doppelbrötchen insgesamt, also die Zusammenstellung von zwei Hälften, wird in der Bäckerei als ein Stück verkauft und benimmt sich auch sonst wie ein einzelnes Brötchen, solange man es nicht auseinanderreißt. Es ist ebenfalls ein Brötchen. Ist ein Doppelbrötchen nun ein Brötchen oder zwei? Oder irgendwie beides?
Doppelbrötchen sind ein harmloses und simples Beispiel für mereologische Probleme
Die Frage, ob ein Doppelbrötchen ein einzelner Gegenstand ist oder in Wirklichkeit zwei Gegenstände, die irgendwie zusammengehören (wie ein Paar drahtlose Kopfhörer), ist eine Frage nach der Zusammensetzung eines Gegenstands. Die philosophische Disziplin, die sich mit damit beschäftigt, ist die Mereologie (von griechisch »meros« für »Teil«); genauer haben wir es also mit einem mereologischen Problem zu tun. (Die Mereologie ist ein Teilgebiet der Ontologie, die sich mit allgemeinen Fragen der Existenz beschäftigt.)
Welche Möglichkeiten gibt es nun, die Frage zu entscheiden? Wir könnten uns am Sprachgebrauch orientieren. Für das Doppelbrötchen gibt es ein etabliertes Wort. Für zum Beispiel zwei zufällig in der Pfanne zusammenklebende Spiegeleier gibt es keins. Nun ist es jedoch so, dass längst nicht alles, was man mit einem Wort bezeichnen kann, deswegen schon gleich existiert. Es wäre umgekehrt auch nicht völlig unplausibel, für ein Paar zusammenhängender Spiegeleier das Wort »Doppelei« einzuführen.
Eine Tafel Schokolade – oder »16 Schokoladen«?
Von Bedeutung ist möglicherweise auch, dass die beiden Teile des Doppelbrötchens miteinander verbunden sind, wenn auch auf eine leicht trennbare Weise. In unserer Sprache wird zwar nicht konsequent auf solche Verbindungen Rücksicht genommen – wenn die Trennbarkeit ein Kriterium dafür wäre, dass mehrere Gegenstände vorliegen, dann müsste man zum Beispiel den Inhalt einer Tafel Schokolade mit ihren Sollbruchstellen als »16 Schokoladen« bezeichnen. Wäre sie es nicht, dann wäre nicht nur ein Doppelbrötchen ein einzelner Gegenstand, sondern etwa auch ein zusammengefaltetes Paar Socken. Aber Sprache kann, wie wir eben gesehen haben, nicht die Richtschnur sein.
Doppelbrötchen sind ein harmloses und simples Beispiel für mereologische Probleme. Auf allgemeinster Ebene klären zu wollen, was zu einem Gegenstand gehört, ist wesentlich schwieriger, als es sich anhört. Ist ein locker aufgetürmter Steinhaufen ein Gegenstand oder nur eine Gruppe mehrerer Gegenstände, die sich beieinander befinden? Ist der abschraubbare Deckel eines Salzstreuers ein Teil davon? Warum ist das Salz darin es nicht? Ist ein fest am Fuß sitzender Schuh Teil des Menschen, der ihn trägt? Wenn nein: Was unterscheidet den Schuh vom Schraubdeckel?
All diese Probleme lassen sich auflösen, wenn man beispielsweise definiert, dass komplexere Gegenstände »eigentlich« gar nicht existieren, sondern nur die Elementarteilchen, aus denen sie zusammengesetzt sind. Es gibt tatsächlich Mereologen, die so vorgehen. Ihnen kann man entgegenhalten, dass dies überhaupt keinen Unterschied für unser Alltagsleben macht. Aber wie bei den meisten ontologischen Diskussionen gilt auch hier: Wenn die Philosophie darauf hinweist, dass es schwierig ist, für unsere allgemeinsten umgangssprachlichen Begriffe vollkommen allgemein gültige, präzise Definitionen zu finden, dann heißt dies nicht, dass wir sie nicht mehr verwenden dürften. Die allgemeine Schlussfolgerung, dass unser Denken selbst bei den einfachsten Angelegenheiten nicht so klar und problemlos ist, wie wir es gerne hätten, hat an sich schon einen Wert.
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